PhilosophiePhilosophie

STELLUNGNAHMEN

Die Philosophie und die Wirtschaftskrise


Stellungnahmen von Karl Homann, Hartmut Kliemt und Peter Ulrich


Was kann die Philosophie zur Lösung der Wirtschaftskrise beitragen?

Hartmut Kliemt: Es wäre eine Selbstüberhebung der Philosophie, glaubte sie, einen direkten Beitrag zur Lösung der Wirtschaftskrise leisten zu können. Sie kann allerdings indirekt etwas beitragen, indem sie davor warnt, unsere Kenntnisse komplexer realer Zusammenhänge zu überschätzen. Die Philosophie kann letztlich zur Skepsis und Vorsicht mahnen, indem sie immer wieder auf die Grenzen menschlicher Vernunft verweist und zugleich zu „Versuch und Irrtum“ im Bewusstsein unserer Grenzen aufruft. Im speziellen Fall ist es wertvoll, die Erinnerung an die Britischen Moralisten von Mandeville über Hume zu Smith und ihre modernen Nachfolger v. Hayek oder Buchanan wach zu halten.

Peter Ulrich: Welches Problem ist denn genau zu lösen? Zu den Hintergründen der aktuellen Krise gehört gerade die Konfusion zwischen Problemen und Lösungen. Den politisch tonangebenden Kreisen galt seit längerem „mehr Markt und mehr Wettbewerb“ (Deregulierung, Globalisierung, Privatisierung) fraglos als prinzipielle Lösung fast aller wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Probleme, niemals als deren Kern. Was als Problem und was als Lösung wahrgenommen wird, hängt jedoch von normativen Prämissen ab.

Die Klassiker der Politischen Ökonomie von Adam Smith bis John Stuart Mill waren sich über die normative Ordnung der Dinge noch im Klaren. Sie gingen von der aristotelischen Trias von Ethik, Politik und Ökonomie aus – in dieser Begründungsfolge. Demgegenüber mangelt es der heute dominierenden neoklassischen Wirtschaftsdoktrin am Verständnis für Legitimations- und Sinnzusammenhänge. Als (nicht wirklich) „reine“ Ökonomik modelliert sie idealtheoretisch ins Reine, was realgeschichtlich vor sich ging, nämlich die fortschreitende moralische Enthemmung und institutionelle Entfesselung eines tendenziell selbstreferenziellen marktwirtschaftlichen Systems. Die theoretische Spiegelung dieser „großen Transformation“ (Karl Polanyi) schnitt die Ökonomik kategorial und axiomatisch von jeder Reflexion auf ihre normativen Voraussetzungen und Geltungsgrenzen ab. So wurde das Vermögen der dekontextualisierten ökonomischen Denkform zur präzisen Unterscheidung zwischen Wirtschaft und Gesellschaft, zwischen Gütern und Rechten, zwischen Effizienz und Gerechtigkeit, zwischen ökonomischer Rationalität und praktischer Vernunft verschüttet.

Die Begriffsarbeit an solchen kategorialen Differenzen und die ideologiekritische Ausleuchtung der Metaphysik des „freien“ Marktes, die der neoklassisch-neoliberalen Weltsicht zugrunde liegt, ist daher das Erste, was praktische Philosophie für eine nachhaltige Reorientierung des ökonomischen Rationalisierungsprozesses zu leisten hat. Es geht letztlich um die Neufundierung einer anderen ökonomischen Vernunft auf dem Niveau von heutiger philosophischer Ethik und politischer Philosophie.

Karl Homann: Ethik ohne Ökonomik ist leer; Ökonomik ohne Ethik ist blind. – Der zweite Teil des Satzes zeigt, dass die Ökonomik auf – zumindest implizite – normative regulative Ideen angewiesen ist. Dafür weist die Philosophie bedeutende, vielfach kritisch geprüfte, Theoriebestände auf. Sie liefert Orientierungswissen. Ob man von Sinn, Zweck, Werten oder Utopien spricht – letztlich läuft inhaltlich alles Bemühen der Philosophie auf die Erfüllung eines gelingenden Lebens für alle Menschen hinaus, klassisch also auf die Eudaimonia.

 


Allerdings muss die Philosophie dafür immer auch den ersten Teil des Satzes ab ovo mit denken, wenn sie gesellschaftlich nicht ins Abseits geraten will. Unbeschadet ihres kritischen Anspruchs, der unaufgebbar ist, muss die Philosophie ihre weit verbreitete sehr oberflächliche Grundsatzkritik an Marktwirtschaft, Kapitalismus, Wettbewerb, Gewinnstreben, Wachstum, Anreizsteuerung und dem Homo oeconomicus aufgeben. Sie muss anerkennen, dass die Marktwirtschaft mit ihren Konnexinstituten bei aller Kritikwürdigkeit im Einzelnen im Kern ein sittliches Unternehmen ist.

Daraus folgt, dass die Philosophie aus ihren Theorieressourcen allein konkrete Handlungs- und Politikempfehlungen zur Überwindung der Wirtschaftskrise nicht geben kann. Alle ihre regulativen Ideen stehen unter Realisierbarkeitsvorbehalt. Daher muss sie den grundlegend anderen Strukturen der modernen Welt (Pluralismus, Demokratie, Marktwirtschaft) von Anfang an systematisch Rechnung tragen.

War es wirklich (nur) die Gier, die dazu geführt hat, oder steht eine problematische Denkweise dahinter?

Hartmut Kliemt: Die Auffassung, Gier habe die Wirtschaftskrise bewirkt, scheint einigermaßen bizarr. Natürlich suchen Menschen zu allen Zeiten auch ihren Vorteil. Sie sind Wesen, die in weit höherem Maße als alle anderen Tiere dazu in der Lage sind, sich ihnen bietende Chancen wahrzunehmen. Zugleich ist es aber unzutreffend, ihnen die Eigenschaft idealer Zweckrationalität zuzuschreiben, in jedem Augenblick nur im Lichte der künftigen Kausalfolgen des Handelns zu entscheiden. Sie sind de facto beschränkt rational und beides, normgeleitet und Chancen ergreifend.

In Kontexten, in denen – wie etwa auf Finanzmärkten – die Wahrnehmung von Chancen ausdrücklich als legitim angesehen werden muss, werden die Menschen im Rahmen ihrer beschränkt rationalen Vermögen nahezu ausschließlich chancenorientiert handeln. Wer dieses Verhalten als Ausdruck der Gier zu diskreditieren sucht, begeht einen grundlegenden Fehler, da unser aller Wohlstand darauf beruht, dass Menschen Chancen wahrnehmen. Indem sie nach einer steten Verbesserung ihrer eigenen Lage streben, verbessern sie in der Regel die Lage anderer. Die vorangehend skizzierten Fähigkeiten zur Wahrnehmung sich bietender Chancen haben vor allem auch im Bezug auf Finanzinstitutionen eine hohe Bedeutung. Ohne entwickelte Finanzmärkte und die von diesen ermöglichte Einschätzung und (streuende)Allokation von Risiken wären die wissenschaftlich-technische Zivilisation, wie wir sie kennen, und der damit einhergehende Wohlstand nicht möglich. Es steht allerdings auch außer Zweifel, dass es im Finanzbereich zuviel Leichtgläubigkeit, blinden Optimismus und Herdenverhalten gegeben hat. Eine mehr als fünfzehn Jahre anhaltende positive Entwicklung der Finanzmärkte hat zu einem fatalen Mangel an Skepsis und Selbstkritik geführt und verstärkte in der Politik ein überzogenes Vertrauen in die Fähigkeit, ein komplexes wirtschaftliches Geschehen zu kontrollieren. Die Finanzpolitik der leichten Hand, die gerade von denen gewöhnlich am stärksten befürwortet wurde, die nun die Auswirkungen des Platzens der vom leichten Geld erzeugten Blase gern für eine Auswirkung individueller Gier und nicht der finanzpolitischen Selbstüberschätzung halten möchten, tat ein übriges. Ein Geschehen, dass erneut gezeigt hat, dass sich bestimmte komplexe wirtschaftliche Abläufe nicht im Detail steuern lassen, weil die vielen intelligenten Einzelakteure sich eben nicht im Detail ein Verhaltensskript vorgeben lassen, wird zum Anlass genommen, wieder auf staatlichen Interventionismus zu bauen. Das ist in der Tat eine problematische Denkweise, die den Wohlstand der Nationen auf Dauer ebenso gefährden wird, wie das leichtfertige Gerede von der Gier.

Karl Homann: Wenn man wie ich die Marktwirtschaft grundsätzlich für das beste bisher bekannte Mittel zur Verwirklichung von Freiheit und Würde sowie der Solidarität aller Menschen unter modernen Bedingungen hält, dann sieht man hinter der Krise nicht den Ausdruck einer grundsätzlich problematischen Denkweise. Aber man kann die Krise auch nicht auf die Gier zuschreiben, weil Gier eine personale Kategorie ist, die Krise aber ein Systemergebnis darstellt, das von keinem Einzelnen beabsichtigt und hervorgebracht wurde und auch von keinem Einzelnen hätte verhindert werden können. Die Krise ist ökonomisch vielmehr zu betrachten als systematisches, aber nicht intendiertes Resultat von zahllosen intentionalen, aber eigeninteressiert-intentionalen, Handlungen Einzelner. Die Systemergebnisse gehen dann nicht auf die Motive der Einzelnen, auf ihren bösen oder schwachen Willen, zurück, sondern auf die Systemimperative, denen sich der Einzelne nur auf die Gefahr seines wirtschaftlichen Ruins hin entziehen kann. Die Ursache ist daher in der institutionellen Ordnung zu suchen, die bei der Finanz- und Wirtschaftskrise schwere Defekte mit der Folge falscher Anreize aufwies, so z.B. eine zu geringe Eigenkapitalquote bei den Banken, was zur Abwälzung des Risikos der Manager bzw. der Eigner auf den Staat, d. h. den Steuerzahler, führt. Eine Philosophie, die solche Problemstrukturen, abgebildet etwa im spieltheoretischen Gefangenendilemma, nicht ab ovo, also schon in der Grundlegung, im Blick hat, unterliegt selbst einer problematischen Denkweise.

Peter Ulrich: Natürlich spielt die „Gier“ von Investoren, Bankern und Managern eine wichtige Rolle; aber eine humane Grunddisposition erklärt noch nicht das spezifische Krisenereignis. In wirtschaftsethischer Perspektive ist nach der Wechselbeziehung zwischen individueller (Un-)Verantwortung und institutionellen Bedingungen zu fragen. Wer einseitig auf den Faktor Gier verweist, arbeitet damit gewollt oder ungewollt der alten Apologetik in die Hände, wonach immer nur Individuen versagen, niemals aber „das System“ als solches. Wer umgekehrt allein auf die systemische Krise fokussiert, läuft Gefahr, den Lösungsansatz technokratisch auf Systems Engineering zu verkürzen, etwa auf ein besseres Management von (systemisch unvermeidlichen?) Spekulationsblasen; er wird dann dazu tendieren, sowohl individual- als auch institutionenethische Bemühungen für naiv und gegenstandslos zu halten.

Doch Wirtschaften ist humane Praxis und damit intentional, nicht naturgesetzlich determiniert. Im Prinzip sind alle systemischen „Sachzwänge“ als normative Denkzwänge rekonstruierbar, hinter denen Intentionen und Interessen stecken. Wie weit deren Verfolgung freigestellt oder durch ordnungspolitische Spielregeln und Anreize diszipliniert werden soll, ist in einer wohlgeordneten Gesellschaft freier und gleichberechtigter Bürger res publica, also Sache des „öffentlichen Vernunftgebrauchs“ (Kant). Grundlegend dafür ist es, den Primat rechtsstaatlicher Politik vor der Sachzwanglogik des Marktes wiederherzustellen. Im Zeitalter des globalen Standortwettbewerbs tut dafür auch eine supranationale Ordnungspolitik Not.

Kann hier eine Wirtschafts-, eine Unternehmensethik etwas beitragen?

Peter Ulrich: Die Einbettung des allzu eigensinnig gewordenen marktwirtschaftlichen Systems in Kriterien der Human-, Sozial- und Umweltverträglichkeit beginnt wie der konjunkturelle Aufschwung im Kopf – mit nachholender wirtschaftsethischer Aufklärung. Erst wenn die vormoderne Metaphysik des Marktes „entzaubert“ ist (Max Weber), kann ein demokratisch mehrheitsfähiger zivilisatorischer Gestaltungswille wachsen. Den gestaltungsorientierenden Fortschrittshorizont bietet das unübertroffene emanzipatorische Ideal der Moderne: die regulative Idee einer voll entfalteten Gesellschaft real freier und gleichberechtigter Bürger. In ihrem Lichte geht es um eine buchstäblich „zivilisierte“ Marktwirtschaft, in der freie Bürger vor dem „freien Markt“ kommen. Marktwirtschaftliche Effizienz ist ja nicht Selbstzweck, sondern bloßes Mittel im Dienst des guten Lebens und gerechten Zusammenlebens der Staats- und Weltbürger.

Wirtschaftsethik sollte aus dieser Sicht der Aufhebung des ideologisch enggeführten, marktradikalen Wirtschaftsliberalismus in einem politisch-philosophisch tragfähigen republikanischen Liberalismus zuarbeiten. Dies setzt das Selbstverständnis von Wirtschaftsethik als ein Stück politische Philosophie und Ethik voraus. Das in dieser jungen Interdisziplin noch vorherrschende Konzept einer „angewandten“ Ethik, die im Steilzugriff „mehr Ethik“ in die Wirtschaft bringen möchte, unterbietet die so verstandene Problemlage. Auch Unternehmensethik greift zu kurz, solange das angeblich ordnungspolitisch legitimierte Gewinnmaximierungsprinzip nicht durchbrochen und der Privatwirtschaft nicht eine angemessene ordnungspolitische Mitverantwortung zugemutet wird.

Karl Homann: Wirtschaftsethik kann einen konstruktiven Beitrag leisten, wenn sie dualistische Denkweisen (Moral versus Ökonomie, Egoismus versus Altruismus u. a. m.) aufgibt und normative Beurteilungen beziehungsweise Handlungsempfehlungen weder aus normativen Prinzipien allein noch allein aus den Gesetzmäßigkeiten der Marktwirtschaft, sondern immer aus beiden Klassen von Argumenten zugleich, also in integrierter Form, ableitet. Wirtschaftsethik muss methodisch sauber geltend machen, dass moralische Normen nicht gegen, sondern nur mit den und durch die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der Marktwirtschaft im Alltag realisiert werden können. Das ist keine Kapitulation vor dem „Sachzwang“: Es geht nicht alles, was normativ wünschenswert scheint, aber es geht mehr, als naive Ökonomen oder Manager prima facie denken. Historisch denke man etwa an die Demokratie und das System der sozialen Sicherung, die beide zur Zeit ihrer Einführung mindestens als „Untergang des Abendlandes“ galten, heute aber zu den produktivsten sozialen Ordnungen entwickelt wurden, die wir bislang kennen.

Hartmut Kliemt: Die Wirtschafts- und Unternehmensethik sollten nicht als Instrumente der moralischen Meliorisierung betrachtet werden, sondern als Gebiete, in denen wir ein besseres moralwissenschaftliches Verständnis für die Funktionsweisen moralischer und rechtlicher Institutionen gewinnen. Dazu muss die Moralwissenschaft sich mit der Voraussage der Ergebnisse von alternativen institutionellen Regeln befassen und sollte im Anschluss Vorschläge zur Reform von Regelsystemen und Institutionen machen. Philosophie und Einzelwissenschaften stehen hier in einem kontinuierlichen, PPE, philosophy, politics and economics Kontext.

Ein „Kapitalismus der Verantwortung“ (Dahrendorf) wird gefordert, eine „neue Verantwortlichkeit“ (Heidbrink). Was könnte, was würde das beinhalten?

Karl Homann:
Verantwortung ist eine personale Kategorie. Tugendhafte Einzelpersonen sind aber nicht in der Lage, die moralischen Probleme der Welt oder auch die Wirtschaftskrise zu lösen. Wenn man den Begriff der Verantwortung mit Dahrendorf und Heidbrink stark machen will – wofür es gute Gründe gibt –, muss man ihn auf kollektive Entscheidungsprozesse mit all ihren systematischen Problemen wie Trittbrettfahren, Gefangenendilemmastrukturen umformulieren. Unter Bedingungen moderner, anonymer Großgesellschaften mit Demokratie und Marktwirtschaft muss Verantwortung daher institutionalisiert beziehungsweise organisiert werden. So ist zum Beispiel Korruption heute, wie der Fall Siemens zeigt, primär ein Organisationsproblem und erst sekundär ein Problem individueller Moral. Individualmoral bedarf unter den genannten Bedingungen moderner Gesellschaften der Ermöglichung und der Stützung, nicht der Ersetzung (!), durch eine Ordnungsmoral, durch Institutionen und Organisationen. Papst Benedikt XVI. bezeichnet die soziale Ordnung der Gesellschaft als den „institutionellen – wir können auch sagen politischen – Weg der Nächstenliebe“.

Hartmut Kliemt: Die Zuschreibung von Verantwortung ist in der Tat ein wichtiges Steuerungsinstrument, auf das nicht verzichtet werden kann. Allerdings sollte man sich klar machen, dass der verbreitete Ruf nach „mehr“ Verantwortung typischerweise eine systematisch irreführende Unterstellung enthält. Es wird nämlich so getan, als herrsche Einmütigkeit über die Inhalte vor, für die jemand verantwortlich gemacht werden soll. Das ist aber im moralischen Bereich typischerweise gerade nicht der Fall. Der viel beschworene Konsens aller, die Einmütigkeit unter idealen herrscht unter den realen Bedingungen, unter denen Verantwortung zugeschrieben werden soll, gerade nicht vor. Was soll ein Wirtschaftsentscheider tun, wenn die einen ihn für die Erhaltung von Arbeitsplätzen, die anderen für die Erhaltung der Luftreinheit, die nächsten für die Bestandssicherung des Unternehmens verantwortlich machen? In der Kakophonie der Verantwortungs-Zuschreibungen muss die betreffende Person Abwägungen vornehmen. Wir können verlangen, dass sie diese in einer kritisch rationalen Form nach den gegebenen marktlichen Steuerungssignalen durchführt, aber wir sollten uns als Philosophen hüten, uns unter jene einzureihen, die unkritisch nach mehr Verantwortung rufen, um die je eigenen ethischen Steckenpferde zu reiten. Der zentrale Punkt einer modernen pluralen Gesellschaft ist die moralische Uneinigkeit, die sich dazu versteht, Verantwortung in bestimmten Bereichen nur rechtlich und damit antizipierbar zuzuschreiben und niemanden ex post rechtlich für etwas verantwortlich zu machen, das rechtlich einwandfrei war.

Peter Ulrich: Kann der Kapitalismus in eine gesellschaftsdienlich organisierte Verantwortlichkeit eingebunden werden? Das ist die kapitale Frage der epochal fälligen politisch-ökonomischen Neuorientierung. Die mächtigen Kapitalverwertungsinteressen sind endlich konsequent den Leitideen und Prinzipien einer real noch nirgends voll entfalteten Bürgergesellschaft unterzuordnen. Das separative Konzept strikt effizienz- und wachstumsorientierter Wirtschaftspolitik einerseits und kompensatorischer Sozialpolitik (für die Verlierer) andererseits hat seine Problemlösungskraft erschöpft. Gesucht sind bürgergesellschaftliche Organisationsprinzipien der Erarbeitung und Verteilung des Sozialprodukts, die dem historisch erreichten Produktivitätsstand einer an sich reichen Gesellschaft entsprechen und deren emanzipatorische Chancen möglichst allen zugänglich machen.

Akut geworden ist die Notwendigkeit einer völlig neuen Finanzmarktordnung. Der Finanzsektor kann nicht mehr als eine privatwirtschaftliche Branche wie jede andere aufgefasst werden; vielmehr ist er im Wesentlichen als eine öffentliche Infrastruktur zur Versorgung von Wirtschaft und Gesellschaft mit Geld, Kredit und Finanzdienstleistungen zu begreifen, so wie etwa die Energieversorgungs-, Kommunikations- oder Verkehrsinfrastruktur eines Landes. Das bedeutet keineswegs, dass die Banken verstaatlicht werden müssten, sondern nur, dass dem Staat (für die Volkswirtschaft) bzw. einer supranationalen Finanzbehörde (für die Weltwirtschaft) die Gewährleistungsverantwortung für das Funktionieren dieser Infrastruktur im Dienst der Allgemeinheit zu übertragen ist. Bestimmte Teilaufgaben können durchaus in Form von demokratisch legitimierten und kontrollierten Leistungsaufträgen an privatwirtschaftliche Akteure delegiert werden.

Ein so verstandener „Kapitalismus der Verantwortung“ bedeutet mehr als nur die For
derung nach mehr (Mit-)Verantwortung der Wirtschaftsakteure im Markt, nämlich eine bürgerrechtliche Verfassung der Marktwirtschaft. Eine dementsprechende Finanzmarktverfassung könnte den Anfang machen in der nächsten historischen Etappe der „großen Transformation“.

UNSERE AUTOREN:

Karl Homann war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2008 Inhaber des Lehrstuhls Philosophie und Ökonomik an der Universität München. Hartmut Kliemt ist Professor für Philosophie und Ökonomik an der Frankfurt School of Finance & Management. Peter Ulrich war bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2009 Lehrstuhlinhaber und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen.