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FORSCHUNG

Deutscher Idealismus: Henrichs Werk über die Vorgeschichte

Grundlegung aus dem Ich
Dieter Henrichs großangelegtes Werk über die
Vorgeschichte des Deutschen Idealismus



Mit der Jahrhundertwende des Jahres 1800 hat sich die intellektuelle Welt zumindest in Deutschland in der Tiefe verwandelt: die Philosophie hat eine Dominanz in der Kultur insgesamt gewonnen. Dieses Geschehen hatte weit zurückreichende Wurzeln, aber was die Jahrhundertwende betrifft, so war es auf zwei kleine deutsche Universitätsstädte kon-zentriert: Tübingen und Jena. Aus der theologischen Stipendienanstalt der Universität Tübingen gingen mit Hölderlin, Schelling und Hegel drei bedeutende Protagonisten der neuen Begriffswelt hervor. An der Universität Jena vollzog sich die Aufnahme und schnelle Entfaltung der Kantischen Philosophie, zunächst in der Gestalt von Karl Leonhard Reinholds und Johann Gottlieb Fichtes Systemen und binnen kurzem dann in der Umbildung von Fichtes Wissenschaftslehre zu Entwürfen, die mit Fichte selbst konkurrierten. Einige der Philosophen, die an die-sem Prozess Anteil hatten, arbeiteten binnen weniger Jahre an beiden Orten. Weder groß-räumig angelegte Erklärungen noch minutiöse Dokumentationen der lokalen Verhältnisse und Geschehnisse haben die Prozesse des Aufkommens einer solch einzigartigen Dimension von Ideen und Konzeptionen aufgeklärt.

Einen anderen Weg geht Dieter Henrich in seinem zweibändigen Werk

Henrich, Dieter: Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idea-lismus. 2 Bände. Zusammen 1740 S., Seiten, Ln. € 85.—, kt., € 56.—, 2004, Suhrkamp, Frankfurt.

Er stellt die Vorgeschichte des Deutschen Idealismus in einer großangelegten Rekonstruktion der Entwicklung des Denkens von Immanuel Carl Diez. Diez war Repetitor am Tübinger Stift und dort wichtigsten Anreger von Hegel, Hölderlin und Schelling.

Der Inhaber des Lehrstuhls für theoretische Philosophie des Tübinger Stiftes, der Leibni-zianer Gottfried Ploucquet, hatte 1782 einen Schlaganfall erlitten und war nicht mehr fähig zu lehren. Johann Friedrich Flatt vertrat ihn. Dieser Flatt war ein Schüler von Gottlob Christian Storr, dem einflussreichsten orthodoxen Theologen seiner Zeit. Er hat auf die Konstellation, die sich nun in Tübingen herausbildete, und damit auf Hegel, Hölderlin und Schelling einen nachhaltigen Einfluss ausgeübt. Im Widerstand gegen diesen Theo-logen erprobten die drei Freunde die eigene Kraft und Selbständigkeit. Für Storr (und Flatt) kann Gottes Wort nicht allein aus der Kraft der Vernunft seine Beglaubigung er-halten. Beglaubigt ist es für uns allein des-halb und dadurch, dass es „Belehrung“ durch einen göttlichen Gesandten und seine Helfer ist. Das Wesentliche in diesen Mitteilungen ist über alle Vernunfteinsicht und gerade insofern die beseligende Wahrheit. Mit dieser methodischen Grundlegung wollte Starr in seiner Dogmatik alles das bewahren, was in ihrem systematischen Aufbau und Gehalt der Mehrheit seiner Zeitgenossen gänzlich unannehmbar geworden war. Für die jungen Theologiestudenten im Stift bestand nun zwischen dieser christlichen Heilslehre und dem durch Kant verschärften Gedanken von der Autonomie der Vernunft eine Spannung, die sich durch Verbesserungen im Verständnis von zentralen Symbolen allein nicht beheben ließen: Wenn Autonomie und Autorität der Schrift, wenn Vernunft und Versöhnung in Einklang miteinander gebracht werden sollten, so musste ein in den Fundamenten veränderter Vernunftbegriff herausgearbeitet werden.

Flatt hat auf Kant und Jacobi nahezu gleichgewichtig Bezug genommen. Er rechnet Jacobi zu den „großen Männern“ der Philosophie seiner Zeit und rühmt mehrfach seinen Scharfsinn. Daraus erklärt sich, dass zumindest diejenigen Stiftler, die bei ihm studierten, von Beginn an Denkmotive Jacobis in ihre eigene Arbeit einbrachten. Gegen Kants Moraltheologie wandte Flatt ein, es sei wider die Vernunft selbst, die Annahme einer Überzeugung allein deshalb zu fordern, weil es in Bezug auf sie ein Vernunftbedürfnis gebe. Insofern Kants Moraltheologie auf Vernunft gebaut sei, müsse sie durch einen transzendenten Kategoriengebrauch und durch einen theoretischen Gottesbeweis nicht nur ergänzt, sondern sogar getragen werden. Da aber gerade dieser Schritt schon durch die Grundlagen von Kants System ausgeschlos-sen sei, muss dieses System entweder inkonsequent bleiben, oder es müsse auf einen „skeptischen Atheismus“ hinauslaufen „oder, was im Grunde dasselbe ist, nichts als einen ganz blinden Glauben in Hinsicht auf die Religion übrig lassen“.

Die Moraltheologie war das wichtigste unter den Gebieten, auf denen sich die Rezeption von Kants Philosophie vollzog. Nahezu alle Positionen, die es notwendig fanden, Kants Theorie von Grund aus neu zu formulieren, sind von ihr ausgegangen, so etwa die von Fichte, Schellling und Hegel. Die Stiftler ha-ben schon ab 1785 über Kantische Themen zu schreiben begonnen. Flatt hat dazu beige-tragen, dass diese Bemühung um Kant inten-siv und kontrovers wurde. Insbesondere einer aus der Gruppe der Älteren der Studierenden, Immanuel Carl Diez, hat mit seinem Angriff auf die Tübinger Theologie und später die christliche Religion die Diskussionslage in der theologischen Fakultät und im herzoglichen Stift verändert und eine Reaktion der Professoren nach sich gezogen. Für den Studiengang der Stiftsstudenten, die später als Autoren maßgeblicher Werke zu Ruhm gelangten, ist diese Debatte von Bedeutung gewesen. Denn in ihr wurden die Gründe, die auch sie selbst von der Theologie ihrer Lehrer weggebracht haben, geltend gemacht. Aber auch Diez’ Beschäftigung mit Karl Leonhard Reinhold hat sich noch auf andere Weise ausgewirkt: Diez’ Argumente haben diesen zu einer wichtigen Veränderung seiner philosophischen Position veranlasst, der folgenreichsten überhaupt auf Reinholds wieterem philosophischem Weg.

Mit der Ernennung zum Pfarrer war die Unterschrift unter die Bekenntnisschriften der Kirche verbunden. Diez sah sich zunehmend außerstande, ein Pfarramt, zumindest in Württemberg, aus eigener Überzeugung und mit reinem Gewissen auszuüben. Doch war ihm dies nicht so, wie manchem vor ihm, nur ein Problem persönlicher Lebensentscheidung und der Klarheit in ihr und über sie. Er sah in dem Zwang, den die Verhältnisse ihm auferlegten, zugleich einen Angriff auf das, was nunmehr „Menschenrechte“ genannt wurde, und auf die Gebote intellektueller Redlichkeit. Diez’ persönliche Glaubenskrise setzte sich um in eine Agitation gegen diese Forderung und gleichzeitig in einen Angriff auf die vermeintliche Gewissheit der Lehre, von der her sich die Forderung hätte begrün-den müssen.

Diez hat spätestens im Sommersemester 1788 nähere Bekanntschaft mit Kants moral-theologischen Ideen gemacht. Zugleich hat er auch Flatts Kritik an dieser Moraltheologie kennengelernt und ein Bild von der Weise bekommen, in der auch noch die Kantische Moraltheologie in ein orthodoxes Lehrsystem über eine ihm günstige Interpretation würde eingefügt werden können. Aus der Zeit von 1799-92 sind Dokumente in dichter Folge überliefert, die die Stationen von Diez’ Kantischem Philosophieren verfolgen lassen. In dieser Zeit war Diez’ Entwicklung in ihre kritische Phase übergegangen. Ein Jahr zuvor hatte Reinhold sein System veröffentlicht. Diez’ Beschäftigung mit Reinhold geschah unter der Voraussetzung, dass es sich sehr wohl erweisen könnte, die Kantischen Ge-danken von Fall zu Fall auch anders und mit anderen Folgerungen zu entwickeln, als de-nen, zu denen Kant selbst gelangt war. Dabei ging es ihm vor allem um die Anwendung auf das theologische Lehrsystem. In einem Brief vom Juni 1790 schreibt er an










Dieter Henrich:
Grundlegung aus
dem Ich


Niethammer, er sei im Kantstudium soweit fortgeschritten, dass es ihn „bangt …. für alle Offenbarung“. Aber ihm gehen auch Gedan-ken durch den Kopf, „die aus Kantischen Grundsätzen zu Resultaten führen, die ziem-lich verschieden von den Kantischen zu sein wenigstens scheinen“. Was Diez zuvor noch im Bangen und noch zweifelnd über die An-wendung Kantischer Prinzipien auf christli-che Offenbarung äußerte, verfestigte sich nun zu der Überzeugung, „dass der Kantia-nismus dem christlicher Supranaturalismus nicht günstig sei und vielmehr zum Natura-lismus führe“.

In dieser Situation fand sich Diez, als er die Ernennung zum Repetenten erhielt. Es ge-hörte nun zu seinen Aufgaben, den Studien-gang Hegels, Hölderlins und Schellings zu fördern. Er fasste den Entschluss, sein Amt als Mittel zu gebrauchen, den Kantianismus unter seinen Studenten zu verbreiten. Mit seinem „durch die Kantischen Teleskope“ geschärften Augen hatte er aber in der christ-lichen Religion selbst „nichts als transzen-dentalen Schein und ….leere Hirngespinste“ und nicht etwa die reinste praktische Ver-nunftreligion entdeckt. In seinen moralphi-losophischen Studien gelangte er zu einer analogen Entgegensetzung christlicher und Kantischer Ethik. Er interpretierte nun auch Kants praktisches Postulat vom Dasein Got-tes so, dass es nicht als Argument in einer Begründung von Offenbarungsglauben und Orthodoxie genutzt werden kann. Damit brachte er ein Unternehmen in Gang, das für Schelling und Hegel eine Bedeutung erster Ordnung gewinnen sollte.
Allerdings stieß die Weise, wie Diez Kant auffasste, sogleich auf Widerspruch. Die ver-worrende Diskussionslage brachte Diez nun auf die Idee, die Storrische Grundthese, das Wort der Bibel enthalte eine von Gott autori-sierte Wahrheit, auf einem anderen Weg, mit den Mittel-n der Textexegese anzugreifen. Dabei wollte er zeigen, dass Worte und Weissagungen Jesu, so wie sie in der Bibel überliefert sind, miteinander unvereinbare Auslegungen geradezu verlangen. Für Texte, von denen sich dies wirklich erweisen lässt, kann dann aber nicht mehr göttliche Autori-tät in Anspruch genommen werden.

Diez beschäftigte sich in dieser Zeit intensiv mit Reinhold. Dabei wurde ihm deutlich, dass eine Verständigung über die Weise, wie und aus welchen „ersten Gründen“ in der Philosophie überhaupt Begründungen ge-führt werden können, unerlässlich sei. Diez wollte dies in einem Buch zeigen – zu einer Zeit, in der Schelling im zweiten Semester seines philosophischen Studiums stand. Ein gutes Jahr später hat Schelling das erste spe-cimen überhaupt, das im Stift über Reinhold geschrieben wurde, zu seinem Magisterex-amen vorgelegt.

Die Auseinandersetzung mit Reinhold brach-te aber Diez dahin, „dass die Kantische Dar-stellung der transzendentalen Ästhetik nichts tauge“. Umgekehrt hegte er aber auch Zwei-fel an Reinholds Argumentation und trug ihm diese vor. „Es ist unter andern ein Mag. Diez aus Tübingen hier, der….ein ganz au-ßerordentlicher Kopf mit dem besten Herzen ist. Er hat meine und Kants Schriften längst studiert und trägt mir… Zweifeln vor, die mir und meiner Elementarphilosophie wich-tig sind“, schreibt Reinhold in einem Brief an einen Freund.

Diez geht wie Kant von dem Standpunkt des endlichen Wissens des Menschen aus und will zeigen, dass Offenbarungen und Wunder im Vernunftgebrauch keinen Platz finden können. Für Diez ist mit der kritischen Philo-sophie Kants eine Einsicht gewonnen, die in sich stimmig und die Grundlage einer Orien-tierung ist, die es erlaubt, sich aus den „Fes-seln“ der Kirchenlehre zu befreien. Sein Ver-such zur Aufklärung über die Gedankenfüh-rung und die Reichweite von Kants Moral-theologie ist aber vor allem ein Medium ge-wesen, über das sich die ganze nachkantische Philosophie während weniger Jahre zu einer ganz neuen systematischen Form herausbil-dete. Insbesondere darin liegt die Bedeutung von Diez.

Karl Leonhard Reinhold hat mit seinem „Versuch“ zu einer „neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens“ nur für wenige Jahre im Mittelpunkt der nach-kantischen Philosophie gestanden. Von die-sem Buch ging aber eine Intensität der Arbeit an der Selbstverständigung über die kritische Philosophie und die Philosophie überhaupt aus, welche die Intensität anderer Debatten deutlich übertraf. Diese Zeit fällt mit Diez’ Kantischer Selbstverständigung zusammen. Insbesondere Schellings Selbständigkeit in Fragen der Fundamentalphilosophie bildete sich im Medium der Tübinger Debatte her-aus.

Reinholds Theorie des menschlichen Vor-stellungsvermögens stellt in ihrer zweiten Fassung von 1790 zu Beginn den „Satz des Bewusstseins“ auf: „Im Bewußtseyn wird die Vorstellung durch das Subjekt vom Objekt unterschieden und auf beyde bezogen.“ Die-ser Grundsatz wird „Satz des Bewusstseins“ genannt, weil er die Tatsache, welche Be-wusstsein ist, „ausdrückt“ und insofern die formale Verfassung dessen geben soll, was allem, was im Bewusstsein vorgeht, gemein-sam ist. Die Vorstellung als solche ist in die-ser Verfassung der zentrale Sachverhalt, der aber immer zugleich mit ihrer Beziehung auf Subjekt und Objekt und mit der Unterschei-dung der beiden untereinander und von der Vorstellung eintritt. Der Doppelbeziehung dieser Verfassung schließt sich eine Reihe weiterer Bestimmungen an. So will Reinhold zeigen, dass jede Vorstellung einen Stoff und eine Form aufweisen muss, dass der Stoff gegeben ist, während die Form hervorge-bracht ist, dass der Stoff eine Mannigfaltig-keit enthält, die Form aber Einheit sein muss. Über diese These lässt sich das weitere Theorem einführen, dass im Vorstellungs-vermögen eine Rezeptivität (für den Stoff) und eine Spontaneität (für das Hervorbringen der Form) bestehen müssen. In Beziehung auf diese „Vermögen“ macht es dann Sinn, von „Formen“ in einem Sinn zu reden, der von der Form der Vorstellung unterschieden werden muss: Die Vermögen haben als sol-che jeweils eine ihnen eigene Form. Diese Formen wirken sich auf die Verfassung des-sen aus, was überhaupt vorgestellt werden kann. Darum kann und muss in Entspre-chung zur Form der Rezeptivität von einem Stoff der Vorstellung und in Entsprechung zur Form der Rezeptivität von einer Form der Vorstellung gesprochen werden, die all-gemeine und notwendige Merkmale aller Vorstellungen ausmachen und die insofern reine Vorstellungen begründen.

Diese fünf Theoreme machen das Kernstück von Reinholds Philosophie aus. Diez hat nun Einwände gegen die Herleitung des Theo-rems, dass der Stoff mannigfaltig sei, die Form aber Einheit aufweisen müsse. Seine Argumente wollen auch zeigen, dass jeweils eine andere der Dichotomien, die Reinhold von der allgemeinen Bestimmung der Ver-fassung von Vorstellung her gewinnen will, nicht auf diese Weise begründet werden kann.

Reinholds Theorie ist eng mit dem Versuch verbunden, für den Begriff „Ding an sich“ und für die philosophische Rede vom Ding an sich eine einsichtige Begründung zu fin-den, die nicht im Widerspruch zu anderen Theoremen Kants steht. Dieses Problem hat die Periode der nachkantischen Philosophie bis zu ihrem Ende begleitet. Und es war auch dieses Problem, das dahin wirkte, dass Diez’ Einwände für Reinhold eine so große Bedeu-tung hatten, dass sie ihn zu einer wenn auch bald wieder zurückgenommenen Zustim-mung zu Fichtes Wissenschaftslehre veran-lassten. Diez hatte gesehen, dass Reinholds Anspruch, den Kantianismus von diesem Problem befreit zu haben, nicht aufrechter-halten werden kann.
Diez nannte Reinholds Theorem über die Notwendigkeit, der Stoff der Vorstellung müsse ein Mannigfaltiges, die Form Einheit sein, 1790 einen „Achilles“. Denn Reinhold setze voraus, dass die Form Einheit, der Stoff Mannigfaltigkeit aufweist. Er verlasse sich auf die Richtigkeit der Kantischen Grundunterscheidung, ohne auch nur einen Ansatz zu machen, sie auf der Grundverfas-sung der Vorstellung zu entwickeln. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, die Zuordnun-gen von Mannigfaltigkeit zu Stoff und von Einheit zu Form umzukehren. Man muss da-zu nur den Kantischen Begründungsgang ausklammern, auf den Reinhold sich nach dem eigenen Programm nie hätte stützen dür-fen, und feststellen, dass ohne ihn die von Reinhold vorgenommene Zuordnung will-kürlich ist. Man könnte ebensogut sagen, dass das Subjekt den Stoff der Vorstellung auf das Objekt vermittels der in der Vorstel-lung gegebenen Einheit bezieht, während der Beziehungsgrund der Vorstellung auf das Subjekt die Mannigfaltigkeit der Form ist.

Die Kritik an Reinholds Mannigfaltigkeits-beweis war nur das erste Stadium einer Kri-tik an Reinhold, die, so vermutet Henrich, von Anfang an auf das Ganze von dessen Theorieprogramm abzielte. Die Position, zu der Diez von Anfang an tendierte, ist darauf gegründet, dass der Spontaneität des erken-nenden Subjektes bei der Begründung der Erkenntnis und der Grundlegung der Philo-sophie die Stellung und Rolle des ersten Ausgangs zurückgegeben werden muss. Dies ist denn auch das Hauptresultat von Diez’ Kritik an Reinholds Philosophie. Er kam zu dem Ergebnis, dass Reinholds Theorie in je-der Hinsicht unhaltbar sei, dass aber auch Kants Lehre einer Erklärung bedarf, die nicht gelingen kann, wenn nicht die Verständigung über die „ersten Gründe aller Philosophie“ noch weiter vorangetrieben wird. Durch die Beschäftigung mit Reinhold war Diez die Gesamtlage der Theorie Kants in einem Ma-ße klar geworden, das aus dem Kantstudium allein kaum hätte hervorgehen können.

Fichtes These, die Philosophie müsse vom Ich ihren Ausgang nehmen, stimmte Diez emphatisch zu. Er ließ aber sogleich eine Einschränkung nachfolgen. Sie galt der Ab-sicht Fichtes, „die Lehre von den Gegenstän-den außer uns bloß ins Gebiet des Glaubens zu verweisen“.

Wenn es für Diez’ Position ein Schlüsselwort gibt, so lautet es „Selbsttätigkeit“. Die Er-gebnisse von Diez’ philosophischen Unter-suchungen konvergieren darin, die Selbsttä-tigkeit des erkennenden Subjekts als das Prinzip anzuerkennen, von dem man ausge-hen und an dem man sich orientieren muss.

Im zweiten Band seiner Grundlegung geht Henrich auf die unmittelbaren Freunde von Diez ein: Friedrich Immanuel Niethammer und Friedrich Gottlob Süßkind. Niethammer hat in Jena eine Debatte über Fichtes Wis-senschaftslehre organisiert. In seinen eigenen Beiträgen zu ihr zehrt er von den Argumen-ten, die ihm aus der Rezeption von Reinholds Elementarphilosophie und aus der Debatte um sie zugewachsen waren. Mit ihrer Rein-hold-Kritik haben ihm sowohl sein Freund Diez wie auch Johann Benjamin Erhard vor-gearbeitet. Sie haben Niethammer auch we-sentliche Argumente geliefert, die er gegen Fichte richten und an seinen Freund und Verwandten Hölderlin bei dessen Aufenthalt in Jena weitergeben konnte.
Süßkind hat wesentlich dazu beigetragen, dass sich in Tübingen eine wohlinformierte Abwehr der Kantischen Strategien entfaltete, welche sein Freund Diez hatte durchsetzen wollen. Wenig später ist Schelling in Diez’ Spuren getreten. Er hat auf die veränderte Si-tuation mit neuen Mitteln reagiert, die er von Fichte herleiten konnte.
Auch Johann Benjamin Erhard widmet Hen-rich eine ausgedehnte Studie. Erhard ordnet Kant eine Verfahrensart zu, für die er das Modell einer besonderen Form von Analysis aus seinem frühen Studium von Lamberts Logik gewonnen hatte.

Aus der Tübinger Konstellation entstand die Überzeugung, dass die Kantische Philoso-phie einer neuen Entfaltungsart bedarf. Dar-aus wurden zwei für die Gesamtsituation der
nachkantischen Philosophie wichtige Wir-kungsbahnen mitbestimmt:

 Der um eine neue Grundlegung und Selbstdarstellung bemühte Kantianismus, den Diez repräsentiert, hat sich zunächst auch gegen Reinhold gewandt: Reinhold-Kritik und Neufassung des Kantianismus sind miteinander in einem einzigen Unter-nehmen verbunden. In dieser Verbindung haben sie dann in Jena überzeugend gewirkt. Der Widerstand, auf den Fichte schon bald nach seiner Ankunft stieß, war von ihr er-möglicht und auch organisiert worden. Aus derselben Verbindung ging aber auch die Be-reitschaft hervor, in eine Neufassung des Kantianismus nunmehr die Motive Fichtes einzubeziehen, die nicht auf die Reinhold-sche Methodologie aus einem Grundsatz zu reduzieren waren.

 Die andere der beiden Wirkungsbahnen ist in Schellings Fundamentalphilosophie reprä-sentiert. Schelling hat seine Fundamentalkri-tik ebenfalls gegen Fichte gewendet, um den eigenen Anschluss an Fichte sogleich von dessen Kritik her auszugestalten. Schellings Formschrift bestätigt auch Fichtes Fort-schreibung von Reinholds methodischem Monismus des einen Grundsatzes. Schelling wollte nun seine eigenen Projekte von eben dem Fundament her realisieren, das ihm mit Fichtes Grundsatzlehre zugänglich geworden war: In der Abhebung von der Trias der Grundsätze, die aus dem einen obersten Grundsatz folgt, sollte sich eine Begriffsform rechtfertigen lassen, die zweierlei leistet: Der Philosophie in allen formalen und materialen Fragen einen festen Halt und eine einzige Orientierung zu geben. Da kann es nicht überraschen, dass auch Schelling selbst als-bald auf die Kritik an der Grundsatzphiloso-phie traf, die ihm aus früheren Jahren geläu-fig sein musste.

Henrichs Buch, so schreibt Thomas Meyer in der Zeit, unternehme die „herkulische Auf-gabe, die Dynamik von Denkprozessen zu rekonstruieren, wie sie im Anschluss an Kants Kritiken entstand“. Es sei, schreibt H.D. Kittsteiner in der Berliner Zeitung, die Crux dieses Werkes, dass die Kantische Phi-losophie nicht wenigstens in Umrissen im Zusammenhang dargelegt werde, auf dass der Leser wisse, wovon überhaupt die Rede ist. Alles müsse verstreut aus der Rezepti-onsgeschichte und primär aus „Diez’ Den-ken“ erschlossen werden. Allerdings lässt sich gegen Kittsteiner einwenden: Wer mit Kants Philosophie nicht schon vertraut ist, wagt sich gar nicht an dieses Buch. „Ein Großwerk der Gelehrsamkeit, die Summe von vier Jahren in Tübingen und Jena und die Summe eines Lebenswerkes des Autors“, lobt Reinhard Brandt in der Süddeutschen Zeitung. Diese Zeitung hielt das Buch für so wichtig, das sie gleich zwei Rezensionen veröffentlichte: eine von Jürgen Busche am 12.5.2004 und eine von Reinhard Brandt am 22.9.2004.
Es sei, so schreibt Henning Ritter in der Frankfurter Allgemeinen, ein Werk, „das in der Philosophie der vergangenen Jahrzehnte seinesgleichen sucht“. Denn Henrich betrei-be keine Philosophiegeschichte, sondern Phi-losophiegeschichte als Philosophie in einem radikal neuen Sinne: Er beobachte philoso-phische Gedanken und Systeme in ihrem Entstehen.