PhilosophiePhilosophie

PORTRÄTS

Kurt Oesterle:
Tugendhat, Ernst

Ernst Tugendhat
Porträtiert von Kurt Oesterle




Er hat Scheu, über sich selbst zu sprechen. Und wenn andere von ihm reden, hört er di-stanziert, beinahe misstrauisch zu. Wünscht er sich, nach einem langen und abwechs-lungsreichen Leben, denn keinen Biographen? „Nein“, sagt Ernst Tugendhat, „daran bin ich so wenig interessiert, dass der Ausdruck ‚nicht wünschen’ viel zu schwach ist.“ Und eine Autobiographie, käme die in Frage? Einige seiner Schüler haben schon mehrfach versucht, ihn dazu zu überreden. Mit welchem Ergebnis? Er zuckt die Schultern: „Was mir in meinem Leben wichtig war, geht keinen etwas an. Und was ich in der Philosophie gemacht habe – nein, darin spielt das Leben keine Rolle!“.

Die Scheu der Philosophen vor der Rede über die eigene Person ist bekannt. Kant er-ließ kategorisch: „De nobis ipsis silemus.“ („Von uns selbst schweigen wir.“) Und Heidegger meinte, mit Sätzen wie „Aristoteles wurde geboren, lebte und starb“ sei biographisch das Wichtigste gesagt. Doch woher diese Bescheidenheit? Aus dem Bewusstsein, die Philosophie sei ein Amt in der Art des Seher- oder Priesteramtes – und Priester oder Seher haben nun mal kein Privatleben? Oder aus der Erkenntnis, dass, wer als Philosoph dem Universellen diene, dringend den Eindruck vermeiden müsse, er schöpfe insge-samt doch aus dem Partikularen, Privaten und somit Trüben? Das rein Private scheint für den Prozess der philosophischen Wahr-heitsfindung so wenig brauchbar wie die sinnliche Gewissheit oder die Träume.

Wenn Leben und Denken also in einer dunk-len, schwer erschließbaren Beziehung zuein-ander stehen, so könnte man vielleicht mit mehr Recht behaupten, dass es ein Leben vor dem Denken gegeben haben muss und in diesem Leben einen Impuls zum Denken hin – sonst wäre einer ja wohl kaum vom Nicht-Philosophen zum Philosophen geworden. Seine „Lebensentscheidung für die Philosophie“ traf Ernst Tugendhat im Alter von 15 Jahren. Vorher war er in einer reichlich unreligiösen jüdischen Familie das einzige Mit-glied mit religiösen, ja sogar mystischen Neigungen gewesen. Seine Familie hatte sich noch rechtzeitig zur Emigration entschlos-sen: 1938 war man nach St. Gallen gezogen, und 1941, da zu befürchten stand, Hitler werde auch die neutrale Schweiz überfallen, weiter nach Venezuela. Dort, in der Haupt-stadt Caracas, besuchte der Sohn eines Textilfabrikanten die amerikanische Schule, wo er die Schulbank vor allem mit anderen Emigrantenkindern teilte, und wo Spanisch und Englisch gleichberechtigte Unterrichtssprachen waren. Auf dieser Schule wurde Tugendhat von einem Freund mit der Phil-sophie „angesteckt“, wie er sagt. Für eine Vertiefung sorgte seine Mutter, die sich mit Heidegger befasste. Sie gab ihm Sein und Zeit zu lesen, „und da war kein Halten mehr“. Seinen Entschluss, Philosoph zu werden, nennt er „schlagartig“. Heute ist ihm bewusst, dass es besonders die zugunsten der Philosophie „zurückgestellten“ mystischen Motive waren, die ihn auf Heideggers Denken „anspringen“ ließen. Ganz hervor gelassen hat er diese Motive erst jetzt wieder, im Alter, um sie in sein Buch über die „Egozen-trität“ des menschlichen Weltbezuges zu integrieren, als eine Haltung, mit der jenseits aller aufreibenden Selbst- und Fremdsorge vielleicht ein Seelenfriede zu finden ist.

1946 flog Tugendhat in einer „zweimotori-gen DC-3“ von Süd- nach Nordamerika, um in Stanford das College zu besuchen. Doch schon da war eine weitere wichtige Entscheidung gefallen: „Sobald ich kann, werde ich nach Deutschland gehen“, lautete sie. Zu jenem Meisterdenker, der ihn „faszinierte“. Zu Heidegger. Als Jude nach Deutschland? Damals? „Absolut ungewöhnlich“, sagt Tugendhat. Die Familie, besonders der Vater, fanden diesen Plan sogar „unmöglich“. Doch der 19-Jährige ließ sich nicht aufhalten. Vielleicht sei da auch eine kräftige Prise „Auflehnung gegen den Vater“ im Spiel gewesen, vermutet er. Aber „vollständig durchschaut“ habe er das Geflecht seiner damaligen Be-weggründe bis heute nicht. Darauf schweigt er. Lange. Dann sagt Tugendhat: „Ein wunder, sehr wunder Punkt“. In seinem Bänd-chen Ethik und Politik hat er sogar von einer Schuld gesprochen. Warum? Weil er mit einer „Umarmungsbewegung“ nach Deutsch-land gekommen sei, mit einem „Versöhnungsgestus“, der ihm, dem gut weggekommenen Emigranten nicht zugestanden habe und im Grunde gegenüber den Opfern – den Toten und Überlebenden – skandalös war“.

Nun wundert es ihn, dass „eine ganze Gene-ration jüdischer Heidegger-Schüler“ – von ihr nimmt er auch Hannah Arendt nicht aus – „das Gravierende in Heideggers Reden von 1933 nicht verstanden hat“, und gemeint ist damit vor allem Heideggers Führer-Kult. Doch wenn er selber nach dem Krieg – je länger, je mehr – Probleme damit hatte, Hei-deggers philosophischen Operationen zu fol-gen, dann gab er anfangs ausschließlich sich selbst die Schuld daran. Erst mit der Zeit dämmerte ihm, dass Heidegger bei der Begriffsbildung eine Menge „Fehlschlüsse“ begangen haben könnte. In einer Reihe von Aufsätzen ist Tugendhat bis heute nicht müde geworden, diese Fehler nachzuweisen und aufzuhellen, etwa in Heideggers Begriff der Zeit, des Seins oder in seiner Umweltanaly-se. „Entmystifizierung“ nennt er das, ein un- verzichtbarer Bestandteil der Denkarbeit des Aufklärers, der sich wohl nie erübrigen wird. In dem Aufsatz „Heidegger und Bergson über die Zeit“ heißt es summierend: „Die Frage, wie ein Denken, das so durchsichtig auf Fehlern aufgebaut ist, weltweit so stark wirken konnte, kann ihrerseits nur eine an-gemessene sein, wenn sie nicht (wie so häufig geschieht) von außen erfolgt, sondern wenn erst einmal die innere theoretische Brüchigkeit dieses Denkens verstanden ist.“

So zeigt Tugendhat sich ratlos und unsicher, wie er heute „Heideggers philosophisches Format grundsätzlich bewerten“ soll. Siche-rer wirkt er hingegen in einem Urteil, das ihm indes nicht leicht über die Lippen kommt: „Ein starkes, sehr starkes Wort“, fängt er an, „aber Heidegger hatte etwas Ver-logenes; verlogen sich selbst gegenüber. Er war im Umgang mit sich und seinem Denken nicht wahrhaftig genug.“ Tugendhat hat den alten Lehrer überwunden, keine Frage. Doch wie Walter Schulz oder Emmanuel Lévinas zeigt auch sein Beispiel, wie viel Macht und Einfluss von diesem Denker einst ausging und wie viel Zeit und Kraft vonnöten waren, sich zu seinem Denken kritisch auf Abstand zu bringen, ohne das eigene philosophische Niveau zu unterschreiten. Noch Tugendhats zweite Auswanderung 1992 sieht nicht nur für einen Außenstehenden wie eine Rück-nahme der allzu frühen, übereilten und heidegger-fixierten Einwanderung von 1949 aus. Erst sieben Jahre darauf, die er „teils herumirrend“ in Südamerika verbracht hat, im Jahr 1999, ist ihm eine „unideologische und pragmatische Rückkehr nach Deutschland“, wie er sagt, möglich gewesen.

Zu einer wichtigen Durchgangsstation bei der Bewegung los von Heidegger wurde für Tugendhat Ann Arbor und die dortige (Tü-binger Partner-)Universität, an der er 1964 ein Jahr als Lektor verbrachte. Dieser Auf-enthalt wurde für ihn zu einer methodologischen Offenbarung. Zu einem „Schock“, nach dem die Verwestlichung seines Denkens einsetzte. Danach wollte und musste er sich von einer bestimmten deutschen Philo-sophie – neben Heideggers Ontologie etwa auch Husserls Phänomenologie – verabschie-den, „ohne jedoch deren Fragestellungen aufzugeben“.

Was bei ihm, mit Kant gesprochen, eine „Revolutionierung der Denkungsart“ nach sich zog, war die Begegnung mit der analytischen Philosophie. Tugendhat sah in den Methoden der analytischen Philosophie ein „Insistieren auf Klarheit“, das er nicht mehr preisgeben wollte. Er spricht sogar von einem „Bruch mit der traditionellen Philosophie“. Deutlicher als zuvor in Deutschland stand ihm vor Augen, „dass die Philosophie rational sein soll“ – während er auf Grund seiner neuen Analysen immer schärfer erkennen musste, dass sein Lehrer Heidegger „eigentlich vom Logos loskommen wollte“. Und die von ihm damals neu entdeckte Sprachlichkeit des Denkens sei doch „eigent-lich nichts anders als Logos“.

Jetzt greift er noch einmal den vom Ge-sprächspartner gebrauchten Begriff der „Verwestlichung“ auf. Er gefällt Tugendhat nicht. Denn auch in der deutschen Philosophie habe es sozusagen westliche Tendenzen gegeben, bei Kant etwa: „Zumindest teilweise gehört er zum westlichen Denken.“ Allerdings, und sei entscheidend, nicht mit seinem Vernunft- begriff, mit dem eine Art Sonderweg deut-schen Denkens beschritten wurde. Westlich gesehen ist die Vernunft eine rationale Kraft und fragt stets nach Gründen. Bei Kant je-doch erscheint Vernunft als „Basis des Unbedingten“, sie sei nicht mehr nur ein „formales Vermögen“, sondern eben „ein letzter Grund“ und damit so etwas wie „ein Substi-tut für Gott“. Diese unbedingte, nicht be- und hinterfragbare Vernunft – muss sie nicht wie der Beginn jenes Prozesses erscheinen, den Georg Lukács in der „Zerstörung der Ver-nunft“ münden sah?
Was ist und was tut ein Philosoph eigentlich? „Er klärt auf, was menschliches Verstehen ist und treibt Begriffsklärung, auch in der Ab- sicht, anthropologische Fragen zu beantwor-ten, etwa: Warum fühlen wir uns verantwort-lich? Was ist Willensfreiheit? Wieso haben wir ein moralisches Bewusstsein? Weshalb beziehen wir uns auf das Gute und Wahre?“. Ob Tugendhat fürchtet, dass seine Gedanken später einmal missverstanden oder miss-braucht werden könnten? Fällt dem Philoso-phen sozusagen eine doppelte Aufgabe zu – eine in der Zeit und eine in der Überzeitlichkeit oder Ewigkeit, für die er gleichermaßen mit zu sorgen hat? Was sein Werk und des-sen Wirkung angehe, sagt er trocken, da schere ihn die Zukunft nicht.

„Und was er seiner Gegenwart schuldig“ sei, könne er ihr vor allem als Staatsbürger geben und „nur ein bisschen“ als Philosoph. Er spricht vom Engagement, vom Eingriff in die Politik. Bei ihm habe das im Jahr 1968 ein- gesetzt, als er Dekan der philosophischen Fakultät in Heidelberg war und den kritisch- rebellischen Studenten solidarisch und distanziert zugleich gegenübertrat. Diese Herausforderung muss ihm gut getan haben, man spürt es heute noch, wenn er davon spricht. „Zum ersten Mal habe ich mich in dieser Zeit mit der deutschen Gesellschaft identifizieren können.“ Eine Identifikation, sozusagen in reflexiver und selbstreflexiver Spannung. Sie hat ihn lange getragen, und Tugendhat er-neuerte sein öffentliches Eingreifen immer wieder: nachmals in der Friedens- und Anti- Atombewegung, im Kampf um ein liberales Asylrecht oder im Vorstand der „Gesellschaft für bedrohte Völker“.

Freilich, das Engagement hat ihn viel Ener-gie gekostet. „Ich tat weniger in der Philoso-phie, bin heute aber froh, dass ich diese Le-bensphase hatte. Ich schaue keineswegs mit gemischten Gefühlen darauf zurück, sondern finde es eher problematisch, dass ich heute so unengagiert bin“.

Doch seine Nähe zur Jetzt-Zeit erkennt man auch an den philosophischen Fragen, die er aufwirft. Die Frage nach der intellektuellen Redlichkeit ist eine von ihnen – kein Wunder nach dem „Verrat der Intellektuellen“ (Julien Benda), der im Zeitalter der Extreme und Ideologien gleichsam an der Tagesordnung war. In Egozentrizität und Mystik hat Tugendhat noch einmal ausführlich davon gehandelt. Doch erscheint Redlichkeit bei ihm keineswegs als das, was notorisch den anderen fehlt. Selbstverständlich fordert er sie zuerst von sich selbst.

Als er die Frage, ob er sich nicht darum sor-ge, wie er in Zukunft verstanden werde, ver-neint hat, fährt er fort: „Vielmehr bin ich traurig, wenn ich feststelle, wie schlecht ich manchmal gearbeitet habe“. Dann sehe er sich zur „Retraktation“ verpflichtet, also dazu, auf ein Problem zurückzukommen und es noch einmal zu traktieren – und zwar besser. Das ist seine Art von Redlichkeit dem Leser und Mitdenker gegenüber. Bisweilen, sagt Tugendhat, erfasse ihn sogar „Scham“, wie ungenau und ungeduldig er mit Themen um- gesprungen sei und sie nun wieder hervorho-len und neuerdings bearbeiten müsse. Den Grund seines „Versumpfens“, wie er lä-chelnd pointiert, scheint er ebenfalls zu kennen: „Es hängt wohl mit einer Untugend von mir zusammen, nämlich damit, dass ich zu wenig dialogisch bin – manchmal fange ich dann an, mich um mich selbst zu drehen.“

Auf seinem Schreibtisch, von dem aus er schräg auf das Stiftskirchen-Portal hinunter sehen kann, steht seine Schreibmaschine. Im Digital-Zeitalter erinnert sie irgendwie an ei-nen Teil der Ritterausrüstung. Der Philosoph hat sie als Tübinger Student 1959 bei Fritz Schimpf gekauft, und sie tut ihm noch immer treu ihre Dienste. Sich auf andere Schreibsysteme einzulassen, schien ihm nicht gebo-ten oder gar notwendig. Ein Blatt ist in die Maschine eingespannt, etwa halb so groß wie ein DIN-A-4-Blatt. Oben links eine laufende Nummer, vielleicht eine Seitenzahl – und er-staunlich groß: 1649. Welches Opus magnum mag da entstehen?

Keins. Denn so arbeitet Ernst Tugendhat immer, und zwar vor allem in der ersten Pha-se, lange vor dem Ausformulieren: Alles, was ihm in den Kopf kommt und wichtig er-scheint, muss er aufschreiben. Er denkt schreibend. Es bleibt ihm gar nichts anderes übrig, weil er nur denken kann, wenn er schreibt. Denken ist bei ihm Schreiben. Ein Gedanke muss aufgeschrieben und damit in die Sichtbarkeit herausgestellt werden, um bearbeitbar zu sein. „Doch wenn ich aufhöre zu schreiben, dann höre ich auch auf zu denken“. Das scheint richtig, fast zwangsläufig für den Vertreter einer Philosophie, die dem Denken Sprachcharakter zuschreibt.

Doch eine solche Parallelbildung ist Tu-gendhat zu willkürlich und zu unbegründet. Und so wie ihm zu Beginn des Gesprächs die Spekulationen über einen Zusammenhang von Leben und Denken nicht unmittelbar einleuchten wollen, so weist er nun auch die Mutmaßungen über seine Arbeitsweise zu-rück: „Ich weiß ja nicht, woher ich es habe. Vielleicht ist es auch angeboren“.

UNSER AUTOR:
Kurt Oesterle arbeitet als freier Journalist und Schriftsteller.
Erstveröffentlichung anlässlich des 75. Ge-burtstags von Ernst Tugendhat im „Schwäbi-schen Tagblatt“.