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PORTRÄTS

Schelling

Die Schelling Biographie des französischen Jesuiten Tilliette

Eine Schelling-Biographie auf dem neuesten Stand der Forschung galt als Desiderat, bis 1999 der französische Jesuit Xavier Tilliette, bis 1998 Professor der Geschichte der Philosophie am Institute Catholique in Paris und an der päpstlichen Universität Gregoriana in Rom, in französischer Sprache eine Darstellung von Leben und Werk des deutschen Philosophen veröffentlichte, die diesen Ansprüchen genügt. Tilliette gilt als einer der besten Schelling-Kenner, „der große Meister der Schelling-Forschung“ (Walter E. Ehr-hardt). Tilliettes Buch ist zum Schelling-Jubiläumsjahr 2004 in deutscher Sprache erschienen:

Tilliette, Xavier: Schelling. Biographie. 595 S., Ln., 2004, € 29.50, Klett-Cotta, Stuttgart.

Im Mittelpunkt der Biographie steht Schellings Leben, ein Gelehrtenleben, ohne dra-matische Höhen und Tiefen, die eine Biographie spannend machen könnten. Tilliette ist ein Schelling-Bewunderer, und die vielen intellektuellen Auseinandersetzungen, die Schelling führt und die die Würze des Buches ausmachen, werden aus der Sicht Schel-lings geschildert. Tilliette versucht sich in Schelling einzufühlen, und insbesondere die Darstellung der Beziehung Schellings zu Frauen ist dem Jesuitenpater vortrefflich ge-lungen. Auf der anderen Seite wirkt die minutiöse Aufzählung all der vielen Bekannten, die Schelling besuchen, auf den Leser ermüdend. Doch Tilliettes farbige Schilderung und die knappe, erfrischende und stilistisch hervorragende Sprache gleicht dies aus. Hinzu kommt eine vortreffliche Übersetzung sowie eine liebevolle illustrative Gestaltung des Bandes. Schellings Philosophie kommt etwas zu kurz, doch dazu gibt es ja genügend andere Bücher. Dabei betont Tilliette aber – entgegen mancher Tendenzen der Schelling-Forschung – einen einheitlichen Weg des Denkens des Meisters. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling erblickte am 27. Januar 1775 in Leonberg, einige Ki-lometer westlich von Stuttgart, das Licht der Welt. Sein Vater stammte aus einer würt-tembergischen Pfarrersfamilie und war Diakon der Gemeinde. Zugleich war er aber auch Gelehrter und als solcher einer der führenden Orientalisten seiner Zeit. Allerdings verließen Schellings Eltern Leonberg, als dieser zwei Jahre alt war: Der Vater wurde als Lehrer und Prediger nach Bebenhausen bei Tübingen berufen, ein Seminar, in dem Kandidaten für das Tübinger Stift zur Schule gingen. Schelling war ein frühreifer Schüler und seinen Klassenkameraden um etliche Jahre vor-aus. Er war noch keine fünfzehn Jahre alt, als er das für das Tübinger Stift notwendige Wissen hatte. Das Eintrittsalter war jedoch auf achtzehn Jahre festgelegt. Der Vater wusste keinen anderen Ausweg, als seinen Sohn auf das Seminar in Bebenhausen zu nehmen, bis er eine Ausnahmeregelung für das Tübinger Stift erwirken konnte.

Hier wurde der junge Schelling zu Beginn gemeinsam mit Hölderlin, Hegel und dem Vetter Breyer in einem Zimmer untergebracht. Allerdings standen sich die vier – entgegen landläufigen Annahmen – nicht sehr nahe. Hölderlin verkehrte mit Neuffer und Mage-nau, Hegel mit Leutwein und Fallot, Schel-ling mit Breyer und Pfister. Während Schel-lings Studienzeit war das Stift im Umbruch und in hellem Aufruhr. Die Berichte über die Französische Revolution versetzten die jun-gen Leute in Erregung. Auch Schelling sym-pathisierte mit der Französischen Revolution und geriet sogar in Verdacht, die Marseillai-se heimlich übersetzt zu haben – offenbar entging er nur dank dem Eingreifen seines Vaters dem Verweis aus dem Stift. Dass er jedoch mit Hegel zusammen einen Freiheits-baum gepflanzt hätte, das hält Tilliette für eine Legende. Zu dieser Zeit interessierte sich Schelling (noch) nicht für Philosophie. Den Grund sieht Tilliette darin, dass diese, wie sie in Tübingen gelehrt wurde, nichts an sich hatte, was die Aufmerksamkeit eines derart begabten jungen Mannes auf sich hätte ziehen können. Seine Magisterarbeit weist ihn als jemanden aus, der sich eher für Philologie und Archäologie als für Philosophie interessiert. Schelling war anfangs Klassenbester, wurde dann aber plötzlich rebellisch: er begann den Unterricht zu schwänzen und schränkte den Kirchenbesuch ein. Die Schule erteilte wiederholt Verweisungen. Im Laufe seiner Theologiestudien entdeckte Schelling die Philosophie. Diese Periode steht unter dem Zeichen Fichtes, dessen Name bis ins Stift gelangt war. Im Juni 1793 besuchte Fichte auf der Durchreise nach Zürich Tübingen, und er wiederholte diesen Be-such im Mai 1794 auf der Rückreise nach Jena. Tilliette glaubt – im Gegensatz zu Reinhard Lauth – dass es dabei zwischen den beiden zu einer Begegnung gekommen sei, was Schellings Begeisterung für Fichte (mit) erkläre. So schrieb Schelling an Hegel: „Fichte wird die Philosophie auf eine Höhe heben, vor der selbst die meisten der bisheri-gen Kantianer schwindeln werden.“ Auf jeden Fall wurde der 19jährige Schelling durch Fichte zu seiner ersten philosophischen Abhandlung Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt angeregt, die bereits 1794 erschien.

Nach Tilliette ist dieses Frühwerk „ziemlich gestelzt, glanzlos, die Arbeit eines Anfängers“. Manfred Schröter, ein ausgewiesener Schellingianer, sah in dem Werk jedoch bereits den Keim von Schel-lings Gesamtwerk angelegt, nämlich einer tragischen Spannung zwischen der theoreti-schen Konstruktion und der Erfahrung, die Schelling dazu zwang, seine Philosophie immer wieder neu zu schreiben. Tilliette meint jedoch, das Verdienst dieser Erstlings-schrift habe darin bestanden, die Kantische Philosophie insofern vereinfacht zu haben, indem die kategorialen Formen auf drei reduziert und unter der Kategorie der Relation subsumiert werden. Allerdings bleibe Schelling die Antwort auf die Frage schuldig, wie die formalisierten Kategorien aus einem Prinzip entspringen sollen. Erst mit der Schrift Vom Ich sieht Tilliette Schellings Eintritt in die philosophische Zunft. Dabei handelt es sich um einen genialen rhapsodischen Text, bei dem es trotz des hinzugefügten Inhaltsverzeichnisses Schwierigkeiten bereitet, eine Ordnung auszumachen. „Vom Unbedingten muss die Philosophie ausgehen“, schreibt Schelling. „Nun fragt sich’s nur, worin dies Unbedingte liegt, im Ich oder im Nicht-Ich. Ist diese Frage ent-schieden, so ist Alles entschieden.“ Es handelt sich dabei, so Tilliette, um einen durch Fichte revidierten und korrigierten Spinoza. Der Schlüsselbegriff des Werks ist das (absolute) Ich. Dieses absolute Ich ist alles, es transzendiert die endlichen Ichs, die durch das Dazwischentreten der Gegenstände begrenzt sind, welche den Zugang zum reinen unendlichen Leben versperren. Diese schwindelerregende Idee des Ichs, das „Ich-bin“ ist identisch mit dem unaufhaltsamen Emporfliegen der Freiheit, ist ein von der Welt wegreißender Stromstoß. Für Schelling ist „das höchste Verdienst des philosophischen Forschers nicht, abstrakte Begriffe aufzustellen, und aus ihnen Systeme herauszuspinnen. Sein letzter Zweck ist reines absolutes Seyn; sein größtes Verdienst das, was sich nimmer auf Begriffe bringt, erklären, entwickeln läßt – kurz, das Unauflösliche, das Unmittelbare, das Einfache – zu enthüllen und zu offenbaren“. Der Druck des Endlichen, der konkreten menschlichen Situation wirkte sich auf das absolute Ich aus. Schelling begann in den berühmten Briefen, die zwischen Sommer und Herbst 1795 verfasst wurden und die in zwei Ausgaben von Niethammers Philosophischem Journal erschienen, eine Revision seiner Auffassung vorzunehmen. Allerdings, so Tilliette, ist Schelling ungerechtfertigterweise in den Ruf geraten, wankelmütig zu sein, denn man habe die organische Entwicklung seiner Philosophie mit Unbeständigkeit verwechselt. Die einzige spektakuläre Veränderung der Briefe gegenüber Vom Ich besteht in dem Verschwinden des absoluten Ich. Das Absolute als solches ersetzt dieses. Es ist unerreichbar und steht über allen Wechselfällen. Es hat sich in seine Unbeweglichkeit und sein Geheimnis zurückgezogen. Von ihm aus gibt es keinen Übergang zum Endlichen.

Daher ist die grundlegende Frage, „wie das Absolute aus sich selbst herausgehen und eine Welt sich entgegensetzen“ kann. Hier kommt die „intellektuelle Anschauung“ ins Spiel. Sie ist ein geheimnisvolles Vermögen, das die Fähigkeit besitzt, das Ewige in uns zu ergreifen: sie entreißt uns der Zeit oder bewahrt die Zeit in uns selbst auf, sie verleiht ihr eine Art Ewigkeit. Im Sommer 1795 verließ Schelling das Stift. Er war deprimiert und beklagte sich über die neuen Regenten, das Scheitern der Revolution, den Misserfolg seines Buches Vom Ich und war über eine Rezension verärgert. Seine Reizbarkeit hat Schelling viel unnötige Qualen und Leid bereitet. Er konnte Widerspruch überhaupt nicht und Kritik nur schwer ertragen. Eine geistliche Laufbahn kam für Schelling nicht in Frage, seine freiheitliche Einstellung hätte es ihm nicht erlaubt. So blieb ihm der einzige Weg, der armen Studenten offenstand: der eines Hauslehrers. Am 30. Dezember 1795 nahm er die Hauslehrerstelle bei den Baronen von Riedesel an. Im Frühjahr 1796 traf er in Frankfurt spontan Hölderlin. In diese Zeit fällt die Niederschrift eines Blattes, das Franz Rosenzweig das „älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus“ genannt hat. Es ist zwar von Hegel abgeschrieben worden, doch Rosenzweig hatte den Inhalt nach sorgfältiger Prüfung Schelling zugeschrieben. Die philosophische Gemeinschaft folgte Rosenzweig, bis Pöggeler für die Autorschaft Hegels plädierte. Aber auch Tilliette hält Schelling für den Autor. Denn er sei der einzige gewesen, der alle Komponenten des Programms fast Punkt für Punkt umgesetzt habe. 1797 erschien von Schelling ein neues Buch, die Ideen zu einer Philosophie der Natur. Zudem verfasste er bis 1798 für das Philosophische Journal regelmäßig Rezensionen. Damit stieg das Ansehen des jungen Autors, Schelling hatte sich einen Namen gemacht. Schelling begriff nun die Natur als Verwirklichung der Freiheit. „Die Natur ist der sicht-bare Geist, der Geist die unsichtbare Natur.... Die äußere Welt liegt vor uns aufgeschlagen, um in ihr die Geschichte unseres Geistes wieder zu finden.“ Die Natur, die auch die Natur außer uns genannt wird und ebenfalls in uns ist, ist zugleich ein Keim und Analo-gon des Geistes. 1798 erschien die Weltseele, eines der berühmtesten Bücher von Schelling, das bald die Ideen überstrahlen sollte. Schelling rekurriert darin auf die geheimnisvolle „erste Kraft der Natur“, die sich in Vielfältigkeit und Dualität aufsplittert, um tätig sein zu können. Er richtet sich damit gegen die mechanistische und atomistische Sichtweise, die für die meisten Gelehrten maßgeblich war. Schelling will das Leben, das Geheimnis des Lebens von seinen Anfängen an erfassen, indem die anorganische Welt mit der in der Pflanze aufkommenden organischen Welt verbunden wird.

Unterdessen war in Jena für Schelling der Weg zu einer außerordentlichen Professur frei geworden. Er stand im Ruf, ein Revolutionär und Quertreiber zu sein. Goethe war angenehm überrascht, einem Bewerber zu begegnen, der vernünftig, eloquent und zu-dem gut angezogen war. Goethe hatte sich in Schellings Werk vertieft und sich darüber mit Schiller unterhalten. Ein junger Norweger, Henrik Steffens, beschrieb den Professor Schelling: „Als er zu sprechen anfing, schien er nur wenige Augenblicke befangen. Der Gegenstand seiner Rede war derjenige, der damals seine ganze Seele erfüllte. Er sprach von der Idee einer Naturphilosophie, von der Nothwendigkeit, die Natur aus ihrer Einheit zu fassen, von dem Licht, welches sich über alle Gegenstände werfen würde, wenn man sie aus dem Standpunkte der Einheit der Vernunft zu betrachten wagte.“ Die Naturphilosophie war für Hegel neben der Transzendentalphilosophie zur eigen-ständigen Philosophie geworden. „Der Naturphilosoph behandelt die Natur, wie der Transzendentalphilosoph das Ich behandelt. Also die Natur selbst ist ihm ein Unbeding- tes... Philosophieren über die Natur heißt, sie aus dem todten Mechanismus, worin sie be-fangen erscheint, herauszuheben, sie mit Freiheit gleichsam beleben und in eigne freie Entwicklung versetzen.“ Für Tilliette ist die Anschauung der Natur, wie Schelling sie thematisiert, eine geniale Sicht, ein Vermögen, die Organisation und Evolution der Na-tur so zu sehen, als ob man in ihren unterirdischen Schmieden der universalen Schöpfung beiwohnen würde. Schellings Leben hatte sich zwischen Studium, Lehre und ein wenig gesellschaftlichem Leben aufgeteilt. Er richtete sich bei August Wilhelm Schlegel ein, der ihm Unterkunft und Verpflegung bot. Dieser war mit Caroline Michaelis, verwitwete Böhmer, verheiratet, die Schlegels Haus zum Mittelpunkt der frühromantischen Bewegung machte.

Schelling fühlte sich bald zu ihr hingezogen, was in der Öffentlichkeit nicht unbemerkt blieb und zu Tratsch führte. „Schelling macht sich einen üblen Namen, und das thut mir leid“, schrieb Fichte an seine Ehefrau. Über seine Lehre wurde unterschiedlich berichtet: „Mit Gleichgültigkeit und Stolz steht er auf dem Katheder und spricht, als ob er etwas nicht sehr bedeutendes schnell erzählte“, schrieb Savigny in sein Tagebuch, als er auf der Durchreise Schellings Vorlesung hörte. Demgegenüber berichtet Rudolf Abeken in seinen Erinnerungen: „Die Ideen, die er aussprach, berührten Saiten in meinem Innern, die bisher nicht in Bewegung gesetzt waren. Nun erfuhr ich eine Aufregung, eine Erschütterung, wie ich sie vor und nachher nicht erfahren habe.“ Im Jahr 1800 erschien Schellings System des transzendentalen Idealismus. Die Brillanz des Buches machte Schelling Fichte ebenbürtig. Allerdings drohte sie die Naturphilo-sophie in den Schatten zu stellen. Deshalb gründete Schelling eine Zeitschrift für speku-lative Physik, deren Hauptredakteur er selbst war und dessen erste Nummer im gleichen Jahr erschien. In dieser Zeit begeisterte sich Schelling für Medizin, und er beschloss, das Fach ein Jahr lang in Bamberg zu studieren. Zugleich war er froh, von Jena wegzukommen, denn zwei ablehnende Rezensionen der Ideen in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung vergifteten ihm nicht nur das Leben, sondern führten auch zu einem Prozess, der mit Bußen für beide Prozessgegner endete. Kaum hatte Schelling Jena verlassen, richtete sich Friedrich Schlegel auf dessen Platz ein und gab vor, Transzendentalphilo-sophie zu lehren, doch, so Tilliette, in Wirklichkeit propagierte er einen „poetischen und philosophischen Dilettantismus“. Kaum war Schelling wieder zurück, hatte er in wenigen Stunden alles wieder im Griff. Doch die frühere Kameradschaft der beiden hatte sich in Feindschaft verwandelt. Im folgenden Jahr, 1801, kam Hegel nach Jena. Beide arbeiteten hier gemeinsam am kurzlebigen Kritischen Journal, das die Nachfolge der ebenso kurzlebigen Zeitschrift für spekulative Physik angetreten hatte. Während dieser gemeinsamen Arbeit wohnten die beiden auch eine Weile zusammen. Hegel half Schelling, sich selbst klarer zu sehen und sich von Fichte zu lösen. Allerdings konnte Schelling nicht von einer Art Herablassung gegenüber dem weniger brillanten Kollegen, der mit Mühe seinen eigenen Weg ging, lassen. Und nach Hegels „Verrat“ in der Vorrede der Phänomenologie wird Hegel für Schelling der Usurpator oder wie Heine sagte, „der elende Dieb“ werden. Fichte antwortete auf das System des transzendentalen Idealismus, indem er in einem langen Aufsatz Punkt für Punkt Schellings Idealismus widerlegte. Damit traf er Schelling mit voller Wucht. Ziemlich erschüttert antwortete dieser mit einer langen Arbeit, in der er versuchte, Fichte in ein Dilemma zu treiben. Fichte beschuldigte daraufhin Schelling, sich rückhaltlos dem Absoluten zu widmen und die Arbeit des Denkens, ohne die das Absolute ein leeres Wort sei, zu vernachlässigen. In dieser Zeit ging auch die Freundschaft mit dem Theologen Paulus in die Brüche. Paulus verfolgte Schelling nun ein halbes Jahrhundert lang mit Streitschriften, Sarkasmen und Hass. Bei den Studenten hingegen stand Schelling im Zenit des Erfolgs. Schubert beschreibt in seinen Erinnerungen, wie am späten Nachmittag lange Schlangen von Studenten in den engen Straßen von Jena wie Ameisenkolonnen zur Universität liefen, weil es Zeit für Schellings Vorlesungen war.

Besonders erfolgreich waren die „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums“ der Jahre 1802 und 1803. Darin wird die „absolute“ Philosophie als Königin der Wissenschaften eingesetzt. Sie ist wie ein alles umfassender Baum, dessen Äste von den Wissenschaften gebildet werden. Die Art und Weise, wie die Philosophie die Wissenschaften erneuert, ihnen neues Leben einflößt, indem sie ihr eigenes absolutes Leben auf sie überträgt, bildet den roten Faden einer Beweisführung, die insgesamt die Aufforderung ausspricht: „Kommet her zur Physik und erkennet das Ewige!“. Henry Crabb Robinson schrieb in sein Tagebuch: „Um 4 (5?) Uhr gehe ich wieder zu Schelling, um seine großartige Vorlesung über spekulative Philosophie zu hören. Wenn mir der Sinn danach steht, mich zu begeistern, wird mich dieser Anblick von 130 wißbegierigen jungen Leuten beleben, die aufmerksam der Darstellung einer Philosophie folgen, die in ihren Ansprüchen stolzer ist als jedes andere Angebot für das Publikum seit den Tagen Platons und seiner Kommentatoren.“ Allerdings gibt es auch negative Zeugnisse. So schrieb Krause seinem Vater: „Schelling wird hier von vielen Magister Dunkelhut genannt. Ich glaube nicht, dass er sich lange mehr bei seinem akademischen Ansehen erhält.“ Caroline Schlegel erwiderte die Gefühle, die Schelling ihr gegenüber zeigte, und der drit-te, der Ehemann, zog sich, so Tilliette, „mit der Eleganz eines Mannes von Welt“ zurück und willigte in die Scheidung ein. Am 26. März 1803 heirateten die beiden im engsten Familienkreis. Aus dieser Zeit sind Beschreibungen Schellings erhalten: „Unter Schelling denke dir einen starken vielknochigen Mann, mit einem sehr großen und echten Negerkopfe, dessen Schwäbischer Dialekt zwar sehr gemildert ist, sich doch aber durch ein Zischen der Worte verrät. Sein Benehmen ist immer, jedoch ohne Unhöflichkeit, gradezu und natürlich“ (Karl Philipp Kayser, Lehrer am Heidelberger Gymnasium). „Er ist ein kleiner Herr mit hocherhobenem Kopf, einem starren, harten und lebhaften Blick, einem bitteren Lächeln, einer spröden Stimme, der nicht viel spricht..“ (Benjamin Constant). Schelling bat nun um eine Versetzung von Jena nach Würzburg und erhielt dort den Lehrstuhl eines ordentlichen Professors für Naturphilosophie. Allerdings kam Paulus zur gleichen Zeit nach Würzburg, was zu einer konfliktgeladenen Situation führte. Schelling entwickelte nun seine Identitätsphilosophie. Da das Absolute an sich weder als Denken noch als Sein zu denken sei und es dennoch gedacht werden soll, entsteht für die Reflexion, die das Absolute nur entweder als Sein oder als Denken denken kann, ein Widerspruch.

In diesem Widerspruch tritt die intellektuelle Anschauung ein und „produziert“ das Absolute. Die Anschauung, um die es hier geht, ist „der lichte Punkt“, ein „Lichtstrahl“. Die Philosophie braucht sich nicht mit dem empirisch Wirklichen zu be-fassen, „denn im Absoluten ist keine Form getrennt von ihrem Wesen, und alles ist in-einander, als Ein Wesen, Eine Masse, und aus diesem Einen gehen alle Ideen als göttli-che Gewächse hervor, denn jede ist aus dem ganzen Wesen des Absoluten gebildet“. Das Universum, die All-Einigkeit, ist als das vollkommenste Kunstwerk gebildet, in dem Wahrheit und Schönheit zusammenfallen. Der Philosophie kommt es zu, hiervon ein Bild festzuhalten. Die Identitätsphilosophie führt von der ekstatischen Transparenz des Einen zur Verherrlichung des Ganzen, das sich ergießt und in die Einzeldinge einfließt, so dass die Gesamtheit die Einzelheit gründet und die Einzelheit wie eine Monade die Gesamtheit aufnimmt. Auch die Naturphilosophie hat sich in dieser Perspektive gewan-delt. Sie hat die Verbindung zu den Werkstätten und Laboratorien der experimentellen Wissenschaften verloren und sich in das Gewand des Großartigen eingehüllt. „Die Reli-gion des Philosophen aber hat die Farbe der Natur, sie ist die kräftigste desjenigen, der kühnen Muthes in die Tiefen der Natur hinabsteigt, nicht die einsiedlerische müßige Selbstbeschauung“, schreibt Schelling im Bruno. Dabei wird der Status des abgetrenn-ten Endlichen, des Endlichen als Endlichen, offengelassen. Dieses endliche Endliche ist es, das Schwierigkeiten bereitet, wenn man davon ausgeht, dass das Absolute unversehrt und ungeteilt bleibt. Demnach ist anzunehmen, dass das Absolute sich in seinem Bild repliziert, sich redupliziert und dieses Bild sozusagen ein gezeugtes Absolutes ist. Es entsteht jedoch nicht durch Schöpfung, sondern durch Abfall. Der Umzug nach München leitete einen neuen und den längsten Lebensabschnitt Schel-lings ein. Ihm war dort die Aufgabe des Generalsekretärs der Akademie der Schönen Künste übertragen worden – eine Aufgabe mit einer zeitlich geringen Belastung. Hier entstanden die Philosophischen Untersuchungen zur menschlichen Freiheit – das letzte Werk Schellings von großer Bedeutung und auch derjenige Text Schellings, der am häufigsten neu aufgelegt wurde. Ein Text, so Tilliette, der durch Originalität, schillernden Charakter und Aporien beein-druckt. Das Buch geht dasjenige, vor dem Philosophie und Religion mühsam ausgewichen war, frontal an: Den Abfall, gesehen unter dem furchterregenden Blickwinkel der Sünde und des Bösen, sowie den geknechte-ten und den bösen Willen.

Das Buch bringt das Problem, das Schelling seit Bruno quält, zur Sprache: den Ursprung des Bösen. Schelling vermischt Gott, den Menschen und das Prinzip des Bösen miteinander, bis hin zur Dämonisierung Gottes und Vergöttlichung des Menschen. Schellings großes Verdienst, schreibt der Jesuit Tilliette, bestehe darin, den geistigen Gehalt des Bösen und dessen Ebenbürtigkeit mit Gott erfasst zu haben. Nun musste Schelling einen herben Schicksalsschlag verkraften: Seine geliebte Caroli-ne starb kurz nach ihrem 46. Geburtstag. Schelling glaubte, vor Trauer den Verstand zu verlieren. Der Maler Johann Martin Wagner, den Schelling in seine Wohnung aufge-nommen hatte, schrieb: „Schellings Gesundheitszustand wurde mit jedem Tag bedenkli-cher. Er war dem Tode nahe.“ Schelling schrieb nun Clara, den Dialog der Seele, ein, so Tilliette, zweiter Phaidon, mit dem er sich seiner Trauer stellte. Schelling hat darin einen zeitlosen Schmerz neu gestaltet, Clara ist eine fiktive Person, doch das Phantasie-gebildete trägt Carolines idealisierte Züge. „Ich lebe jetzt so einsam, dass ich außer einem täglichen Spaziergange nicht aus dem Hause komme und Niemanden sehe, als einen jungen Freund... der mein Haus- und Tischgenosse ist“, schrieb Schelling. Bald darauf begegnete Schelling jedoch Pauline Gotter, verliebte sich in sie und bereits 1812 heirateten die beiden und 1813 kam ein Junge, Paul, auf die Welt. Jacobi hatte ein Buch Über die göttlichen Dinge und deren Offenbarung veröffentlicht. Schelling schrieb dagegen in kurzer Zeit eine Streitschrift gegen den ehrwürdigen Jacobi, die viel Aufsehen erregte. Zudem trug er sich mit einem neuen Projekt mit dem Namen der Weltalter, das allerdings niemals abgeschlossen werden sollte. Schelling setzte mehrmals neu an, kam aber nicht weiter. „Aus der Quelle der Dinge geschöpft und ihr gleich hat das Ewige der Seele eine Mit-Wissenschaft der Schöpfung“ heißt es in der 2. Fassung von 1813. Mit-Wissenschaft und Mitt-Wissenschaft bilden den Ersatz für die intellektuelle Anschauung, die von Hegels erbarmungslosen Bemerkungen zu Fall ge- bracht wurden. Schelling scheute nicht davor zurück, „Verzückungen“, wie sie die Dichter haben, ja sogar Visionen für den Philosophen zu beanspruchen, die durch die philosophische Kunst des Dialogs und der Dialektik bearbeitet und genutzt werden. Der Philosoph nimmt für Schelling zwischen dem Seher und dem, der das große Heldengedicht singt, zwischen Erzähler und Forscher eine Mittelstellung ein. Schelling erhebt den Anspruch, einen neuen Typus der Philosophie aufzustellen, eine poetische, narrative, historisch-dialektische Philosophie. Tilliette sieht Schellings Genialität darin, die Zeit in ihrer gesamten Schlagkraft, als Zeit im Plural, als die Zeiten entstehen zu lassen. Die Zeit ist kein langer ruhiger Fluss, unendliche Zeit ist ein Trugbild der Zeit. Wir sind geblendet von der gelebten, der geschichtlichen Zeit, in der sich die Vergangenheit aus verstrichenen Gegenwarten und eingestürzten Möglichkeiten zusammensetzt. „Es entsteht dadurch“, so Schelling, „in jedem Augenblick Zeit, und zwar als ganze Zeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dynamisch auseinander gehalten, aber eben damit zugleich verbunden sind.“ Das bedeut-same Wort lautet „dynamisch“ und richtet sich gegen eine mechanische oder räumliche Auffassung der Zeit, gegen eine Zeit mit nur einer Richtung oder Dimension. „Das Wesen oder die eigentliche Kraft der Zeit liegt im Ewigen.“ #Seit sich Schelling in Bayern niedergelassen hatte, führte er das Wort „deutsch“ im Munde. Dies war der Anfang eines Konservatismus und Traditionalismus, die sich in seinen Einstellungen und Verhaltensweisen widerspiegelten. Schelling zog es nun wieder an eine Universität, und 1820 konnte er zur Erlanger Universität wechseln. Nach einer Pause von fünfzehn Jahren nahm er hier seine Lehrtätigkeit wieder auf. Schelling, der wieder zum Glauben seiner Kindheit zurückgekehrt war, wurde ein fleißiges Mitglied, eine Zeit lang sogar Vorsitzender der Erlanger Bibelgesellschaft. Er schätzte deren einfache, ungekünstelte Darlegung der Wahrheit und beschuldigte Schleiermacher, das Christentum zu retuschieren.

In Erlangen übertraf Schellings Ansehen dasjenige seiner Kollegen, er hatte keinen Rivalen und wurde mit einem respektvollen Unterton „der Alte“ genannt. Schelling entwickelte hier seine Potenzenlehre. Die Potenzen waren Äonen, Zeitdimensi-onen, historische und transhistorische Zeitabschnitte – Prinzipien und Ursachen und schließlich Personen. Mit ihnen verbunden waren die Prinzipien des Seins und Werdens, zusammen konstituierten sie seine Metaphysik. Schelling hatte stets darauf geachtet, sich von Hegel abzuheben, dessen dialektische Operationen er als Abstraktionen bezeichne-te. Seine eigenen zeichneten sozusagen Phantombilder, künstliche Bilder, die sich einer Vielfalt von Veränderungen, Verkleidungen, Figuren und Situationen anpassten. Zwischen den Potenzen findet ein Psychodrama statt, das in der Mythologie ihr bevor-zugtes Aktionsgebiet gefunden hat, wobei nicht auszumachen ist, ob die Mythologie die Potenzen gestaltet oder ob die Potenzen die mythologischen Vorstellungen festgelegt haben. Der preußische Kronprinz, der zukünftige Friedrich Wilhelm IV. wollte um jeden Preis Schelling nach Berlin kommen lassen. Er konnte sich jedoch nicht durchsetzen, aber als er den Thron bestiegen hatte, setzte er seine Bemühungen fort. Ihm ging es darum, den Kurs der Berliner Universität in Rich-tung Konservatismus und Frömmigkeit zu bringen. und da war Schelling die ideale Be-setzung. Dieser schwankte beinahe ein Jahr zwischen Zu- und Absage, bis er zusagte. Berlin war beherrscht vom Geiste (des einige Zeit zuvor verstorbenen) Hegel. Schelling traf nicht überall auf Zuspruch, vielmehr war das Publikum teils widerspenstig, teils fassungslos. Schelling war nun gezwungen, sich mit der Philosophie Hegels auseinanderzusetzen. Er sei, so schrieb Kierkegaard, zu alt, um noch Vorlesungen zu halten, „seine Potenzenlehre bekundet die höchste Impotenz“. Und der Historiker Droysen notierte „mehr Eigensinn als Schönheit, mehr Phrasen als Geist, und mehr Geist als Macht“. Unterstützt wurde Schelling jedoch von den slawischen, insbesondere den russischen Studenten. „Gelobt und gegrüßt seist Du, großer Schelling! Wir grüßen Dich im Namen Christi, der die Wahrheit und das Leben wurde“. schrieb Jan Majorkiewicz. Umgekehrt erschien eine Reihe von Schmähschriften, die Schelling aber nicht (mehr) sonderlich aufregten. Getroffen wurde er allerdings von einem Plagiat, einem Raubdruck der Philosophie der Offenbarung. Schelling begann einen Prozess und verlor ihn, was ihn wiederum verbitterte, ein ganzes Jahr von Schellings Leben wurde damit vergiftet. 1854 machte Schelling eine Kurreise. Unter anderem kam er nach Bad Ragaz. Das Bad enttäuschte ihn jedoch, er beschloss, die Kur in Karlsbad fortzusetzen. Doch vorher musste er sich mit einer Darmentzündung ins Bett legen. „Herr, mach ein Ende! Herr, lass’ mich sterben“. murmelte er, das Wort „Herr“ besonders betonend. Schelling hätte nun gerne mit einem Pfarrer gesprochen, allerdings war dieser anderswo beschäftigt.

Am 20. August starb Schelling in Bad Ragaz. „Die lebendigste Fülle des Wissens um sein Werk“, so lobt überschwänglich Walter E. Ehrhardt in der Leonberger Kreiszeitung, sei in Tilliettes Biographie präsent. Bemer-kenswert sei, notiert Ludger Lütkehaus in der Badischen Zeitung, wie sehr Tilliette das biografische Genre bis ins Detail ernst nehme. Weiter geht Thomas Meyer in der Frankfurter Rundschau: „Diese Biografie erfüllt wirklich jeden Wunsch: Sie ist klar ge-gliedert, stilistisch auf hohem Niveau und informiert umfassend über Leben und Werk.“ Einzig Rolf Spinnler gibt in der Stuttgarter Zeitung zu bedenken, dass Tilliettes Detail-versessenheit auf die Dauer ermüdend wirken könnte.