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Religion: Vattimo setzt die Hermeneutik mit dem Christentum gleich


Vattimo setzt die Hermeneutik mit dem Christentum gleich. und Rorty klatscht dazu Beifall

Für den italienischen postmodernen Star-Hermeneutiker Gianno Vattimo gleicht In-terpretation einem Virus, das alles infiziert, womit es in Berührung kommt. Einerseits reduziert sie die ganze Realität auf Aussagen und setzt so unter anderem die Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissen-schaften außer Kraft, da auch die harten Wissenschaften ihre Sätze nur im Rahmen von Vorverständnissen verifizieren oder falsifizieren.
Wenn also die „Tatsachen“ nichts anderes als Interpretationen sind, so stellt sich andererseits die Interpretation selbst als die Tatsache dar.

In dem zusammem mit Richard Rorty veröffentlichten Text

Rorty, Richard / Vattimo, Giano: Die Zukunft der Religion. Herausgegeben von Santiago Zabala. 114 S., Ln., 2006, € 16.80, Suhrkamp, Frankfurt

geht Vattimo noch einen Schritt weiter: Das Verhältnis zwischen der modernen Hermeneutik und der Geschichte des Christentum beschränkt sich für ihn nicht auf die Interpretation biblischer Texte: Die Hermeneutik ist für Vattimo in einem ontologischen Sinne die Entwicklung und Ausreifung der christlichen Botschaft.

Die größte Herausforderung für die (katholischen) Kirche bestand in dem Anspruch der Wissenschaft, als einzige Quelle der Wahrheit zu gelten. Die Diskussionen über Wunder, über die Möglichkeit, die Existenz Gottes zu beweisen und über die Versöhnung der
göttlichen Allmacht und Allwissenheit mit der menschlichen Freiheit sind immer von der Idee angestoßen, dass die Wahrheit, die uns frei macht (wie auch die Bibel sagt), nur die objektive Wahrheit sein kann. Auch die Kirche übernahm diese Auffassung. Das hatte aber die Konsequenz, den Aussagen der Bibel objektive Wahrheit zuschreiben zu müssen, selbst wenn diese auf dem astronomischen und kosmologischen Stand der Antike waren. Die Kirche entwickelte dazu die Doktrin der praeambula fidei, mit der sie sich immer stärker an eine Metaphysik objektivistischen Zuschnitts band. Dies wurde (man sieht es an den neuen Enzykliken) untrennbar mit dem autoritären Anspruch verbunden, Prinzipien naturgesetzlichen Charakters zu entwickeln, die Gültigkeit für alle und nicht nur für die Gläubigen besitzen. Die Diskussionen über die Bioethik, in der die Kirche im Namen der Menschlichkeit und nicht im Namen einer positiven Offenbarung spricht, machen dies am stärksten geltend. Oder – um ein anderes Beispiel zu nennen: der Papst vertritt das Verbot der weiblichen Priesterschaft nicht aus opportunistischen Gründen oder historischen Gepflogenheiten, sondern mit Verweis auf die „natürliche“ Berufung der Frau – ein Argument, das nur mehr aus einer metaphysischen Weltsicht heraus ernst genommen werden kann.

Für Vattimo besteht der einzige Weg der katholischen Kirche, wenn sie nicht wieder die kleine Fundamentalistensekte werden will, die sie zu Beginn war, darin, die evangelische Botschaft als Prinzip der Auflösung aller Objektivitätsansprüche anzunehmen. Für ihn ist es kein Skandal zu sagen, dass wir nicht deshalb an das Evangelium glauben, weil wir wissen, dass Christus auferstanden ist, sondern dass wir an Christi Auferstehung glauben, weil wir von ihr im Evangelium lesen. Vielmehr hält er eine derartige Umkehrung für unerlässlich, um nicht dem verderblichen Realismus anheim zu fallen, dem Objektivismus und seinem Korollar, dem Autoritarismus, der die Geschichte der Kirche geprägt hat. Nur wenn die Realität nicht aus-schließlich und hauptsächlich die Welt der objektiv vorhandenen Dinge ist, hat das Christentum Sinn. Denn der Sinn des Christentums als Heilsbotschaft ist vor allem der, die zwingenden Forderungen der „Realität“ aufzulösen. Den Satz des Paulus „Tod, wo ist dein Sieg?“ liest Vattimo als extreme Verneinung des Realitätsprinzips.

Und wenn die Kirche erkennen würde, dass sich der befreiende Sinn der christlichen Bot-schaft gerade in der Auflösung des Objektivitätsanspruchs entfaltet, könnte sie endlich auch den Widerstreit zwischen Wahrheit und Nächstenliebe beheben, der sie im Laufe ihrer Geschichte regelrecht blockiert hat. Denn die Wahrheit, die uns laut Jesus Christus befreien wird, ist weder die objektive Wahrheit der Wissenschaft noch die der Theologie. Es ist vielmehr die Wahrheit der Liebe, der caritas. Das beinhaltet aber, dass die Wahrheit des Christentums die Auflösung des (metaphysischen) Konzepts der Wahrheit ist.

Laut Richard Rorty waren die wichtigsten Bewegungen des 20. Jahrhunderts antiessen-tialistisch. Sie haben sich über den Ehrgeiz ihrer Vorgänger Positivismus und Phänome-nologie lustig gemacht, die das verwirklichen wollten, was Platon und Aristoteles nicht ge-lungen war: die sich wandelnden Erscheinungen aus dem dauerhaft Wirklichen, das bloß Kontingente aus dem wahrhaft Notwendigen auszusieben. Infolge dieses Siegeszuges von Antiessentialismus und Historismus entwickelte sich eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem „Krieg zwischen Wissenschaft und Theologie“, wie Lockes berühmte Formulierung lautet. In dem neueren philosophischen Meinungsklima wird von Philosophieprofessoren nicht mehr erwartet, dass sie Antworten auf die Frage geben, die sowohl Kant als auch Hegel umtrieb: Wie kann das naturwissenschaftliche Weltbild mit dem Komplex religiöser und moralischer Ideen vereinbart werden, die den Kern der europäischen Zivilisation ausmachen? Wir können uns vielmehr mit der bescheideneren Aufgabe begnügen, die Hegel als „seine Zeit in Gedanken fassen“ charakterisierte.


Es sind nur noch zwei Sorten von Philosophen übrig geblieben, die sich explizit als Atheisten verstehen. Zur ersten gehören jene, die immer noch denken, der Glaube an Gott sei eine empirische Hypothese. Diese Sorte Philosoph ist immer entzückt, wenn ein findiger Naturwissenschaftler erklärt, dass eine neue wissenschaftliche Entdeckung Beweismaterial für die Wahrheit des Theismus liefert, denn eine solche Behauptung kann er leicht entlarven. Er muss einfach nur mit derselben Art von Argumenten aufwarten, mit denen Hume und Kant gegen die Vertreter der natürlichen Theologie des 18. Jahrhunderts geltend machen, dass mit Blick auf die Existenz eines nichtzeitlichen und nicht-räumlichen Wesens jeder beliebige empirische Zustand des Universums irrelevant ist. Weder diejenigen, die die Existenz Gottes behaupten, noch diejenigen, die sie bestreiten, können auf plausible Weise Beweise für ihre Auffassung anführen. In der modernen westlichen Welt hat deshalb Rorty zufolge religiös zu sein mit der Erklärung spezifischer beobachtbarer Phänomene nicht mehr viel zu tun.

Die zweite Sorte der Atheisten gebraucht das Wort „Atheismus“ als ein Synonym für „An-tiklerikalismus“. Aber Antiklerikalismus ist eine politische Position, keine epistemologische oder metaphysische. Der Antikleriker vertritt die Auffassung, dass kirchliche Institutionen die Gesundheit demokratischer Institutionen gefährden, eine Auffassung, der Rorty nahe steht, ohne sich aber als Atheist zu bezeichnen.

Rorty sieht den Unterschied zwischen seiner Auffassung und derjenigen von Vattimo darin, dass dieser in der Lage sei, ein vergangenes Ereignis als heilig anzusehen, während er, Rorty, das Gefühl habe, dass Heiligkeit allein in einer idealen Zukunft innewohnt, in der Zukunft einer globalen Gesellschaft, „in der Liebe so ziemlich das einzige Gesetz ist.“