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POSITIONEN

Matthias Kettner :
Zwei philosophische Paradigmen der Wirtschaftsethik in Deutschland


Die beiden wichtigsten Positionen der Wirtschaftsethik im deutschen Sprachraum

In der deutschen Diskussion finden sich gegenwärtig viele interessante wirtschaftsethische Ansätze. Eine bekannte kulturalistisch-eklektische Position vertritt Horst Steinmann, einer der Gründer des „European Business Ethics Network“ (1986) und des „Deutschen Netzwerks Wirtschaftsethik“ (1993) zusammen mit Albert Löhr. Bekannt sind auch der governance-theoretische Ansatz von Josef Wieland sowie Peter Koslowskis Kombination von Neoaristotelismus und Libertarismus. Peter Koslowski gründete 1998 die „Arbeitsgruppe für Wirtschaftsethik und Wirtschaftskultur“ innerhalb der DGPhil. Im Folgenden diskutiere ich nur die Positionen von Peter Ulrich und Karl Homann, und dies aus zwei Gründen:

- Zum einen die öffentliche Wirkung. Um beide akademische Lehrer – Karl Homann lehrt an der Universität München, Peter Ulrich lehrt an der Universität Sankt Gallen – hat sich ein großer und einflussreicher Kreis von Schülern gebildet. Das Buch Wirtschafts- und Unternehmensethik, das Karl Homann und sein Mitarbeiter Franz Blome-Drees 1992 veröffentlicht haben, gilt heute schon als ein klassisches Lehrbuch dieser Schule, die ich als die Münchner Schule der ökonomischen Ethik bezeichnen würde. Und Peter Ulrichs 1997 erschienenes Buch Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie gilt heute schon als der klassische Text jener Schule, die ich als die Sankt Gallener Schule der kommunikativen Ethik charakterisieren möchte.

- Der zweite Grund betrifft die Philosophie: In den beiden Schulrichtungen kommen zwei verschiedene philosophische Paradigmen zum Zuge. Von „philosophischen Paradigmen“ möchte ich deshalb sprechen, weil es im Hintergrund der beiden Schulrichtungen um zwei verschiedene Auffassungen (Konzeptionen) von Vernunft (Rationalität) geht – aber nicht allein von Vernunft, sondern auch von Moral und dem Verhältnis von Vernunft und Moral.

Das philosophische Paradigma von Homanns Münchner Schule der ökonomischen Ethik lässt sich als das Paradigma der moralisch entlasteten (das heißt: von Moral entlasteten) ökonomischen Rationalität charakterisieren, und das Paradigma von Ulrichs Sankt Gallener Schule der kommunikativen Ethik als das Paradigma der moralisch erweiterten (das heißt: um Moral erweiterten) ökonomischen Rationalität.

Die diskursive Vernunft als Vergleichsmaßstab

Allerdings kann man philosophische Paradigmen nicht voraussetzungslos miteinander vergleichen. Man braucht dazu ein eigenes drittes Paradigma, das begrifflich reich genug ist, um die beiden zu vergleichenden Paradigmen zu rekonstruieren. Der Vergleich wird nicht neutral oder „rein deskriptiv“ sein, sondern es wird ein kritischer Vergleich sein müssen. Das von mir verwendete Paradigma ist das der diskursiven Vernunft bzw. der Diskursethik.

Zur Diskursethik gehört die metaethische Überzeugung, dass wir Handlungsnormen, die wir für moralisch richtig halten, genau dann vernünftigerweise für moralisch richtig halten, wenn es solche Handlungsnormen sind, für die alle Personen, die mit diesen Normen leben wollen oder leben müssen, einen argumentativ erzielbaren Konsens erwarten dürften, wenn alle diese Personen unparteilich überlegen würden, ob die betreffenden Normen die allgemeine Befolgung verdienen oder nicht verdienen. Der „Ort“ der unparteilichen Überlegung, der Ort der Dynamik von Konsensbildung und Dissensbildung, ist kein transzendentes Jenseits einer reinen Vernunft, sondern verkörpert sich real und geschichtlich in unseren dialogischen Praktiken des Rechtfertigens und des Kritisierens all dessen, was wir behaupten wollen, durch Argumente.

Peter Ulrich hat seine „Integrative Wirtschaftsethik“ in bewusster Anlehnung an das Diskursparadigma von Habermas und Apel konstruiert, sozusagen als eine „Diskursethik für die Wirtschaft“. Apel hat aber in einigen Aufsätzen sehr kritisch zu Ulrich Stellung genommen, was nicht einer gewissen Ironie entbehrt, weil Apel gewissermaßen „seine“ diskursethische Architektonik gegen ihre Liebhaber in Schutz nehmen will – Apel meint, dass Ulrich das dramatische Problem vernachlässigt, wie vernünftig begründbare Moralnormen unter Realitätsbedingungen „angewendet“ werden können. Ulrich hingegen meint, bereits die Kategorie der „Anwendung“ von Moralnormen sei kategorial schief, so schief wie die im englischen und amerikanischen Raum gängige Rede von „Angewandter Ethik“ („applied ethics“). Die Kontroverse beruht meines Erachtens zum Teil auf Missverständnissen auf beiden Seiten. Sicher ist der Ansatz von Ulrich der am weitesten entwickelte Versuch, aus der allgemeinen Diskursethik von Apel und Habermas eine spezielle „Diskursethik für die Wirtschaft“ zu konstruieren.

Was ist beiden Ansätzen gemeinsam?

Die Ansätze von Hohmann und Ulrich haben folgende Prämisse gemeinsam: Zwar hat die kapitalistische Marktwirtschaft sich zu einem weltumspannenden „sozialen System“ (sensu Luhmann) funktional ausdifferenziert, ein hyperkomplexes anonymes System mit eigenem Funktionscode und eigener Funktionslogik, ein System ohne Kontrollzentrum, in dem Steuerung nur distribuiert und dezentral geschieht. Aber das System kapitalistische Marktwirtschaft besteht, wie alles Soziale, aus sozialen Praktiken, die normative Muster aufweisen. Die normativen Muster sind die Schnittstellen (Interfaces) zwischen dem Handeln der Menschen, die sich in diesen Praktiken bewegen, und dem System Marktwirtschaft. Die Normativität der normativen Muster ist hybrid und komplex, sie enthält alle möglichen Arten von Normen, selbstverständlich nicht nur moralische Normen, sondern auch Rationalitätsnormen, rechtliche Normen, politische Normen, vielleicht sogar religiöse oder quasireligiöse Normen, und so weiter. Veränderungen in der Normativität dieser Muster führen zu Veränderungen in den Praktiken und somit zu Veränderungen im gesamten System.

Das heißt, das System bietet trotz seiner Systemautonomie einen Spielraum der Veränderung, der offen steht, weil die Normativität selber verändert werden kann. Und deshalb macht Wirtschaftsethik überhaupt Sinn: Normative Wirtschaftsethik in der modernen Welt hat immer zum Ziel, in das System Marktwirtschaft zu intervenieren, indem sie in die normativen Texturen der sozialen Praktiken dieses Systems interveniert, mit dem Ziel, das System von einem moralisch weniger wünschenswerten in einen moralisch wünschenswerteren Systemzustand zu bringen.

Der Hauptunterschied

Homann will von der Marktwirtschaft zeigen, „dass die Marktwirtschaft als solche ein durch und durch moralisches Unternehmen mit einem expliziten ethischen Programm ist“ (1, S. 22), das schon in den Normen der ökonomischen Rationalität angelegt ist. Hingegen will Ulrich zeigen, dass die Marktwirtschaft nur dann ein moralisches Unternehmen ist, wenn sie die Normen der ökonomischen Rationalität einem ethischen Programm unterordnet, das nicht in diesen Normen residiert, sondern in den Normen einer anderen, der „kommunikativen“ Rationalität.

Warum mehr als eine Rationalitätsform? Ulrich meint, wir kommen mit rein ökonomischen Rationalitätsnormen dort nicht aus, wo sich uns an wichtigen Problemen die Frage stellt, wie denn vernünftig wirtschaftlich zu handeln wäre. Ulrich veranschaulicht seine Defizienzthese der rein ökonomischen Rationalität am Beispiel negativer externer Effekte. Wo die ökonomischen Operationen eines Unternehmens negative externe Effekte haben, die nicht per se zu Buche schlagen, da ist auf der Basis rein ökonomischer Gründe nicht zu entscheiden, wann die negativen Effekte so negativ oder so groß sind, dass sie vernünftigerweise in die Kostenrechnung internalisiert werden sollten. Deshalb, meint Ulrich, müssen wir aus Interesse an vernünftigem Wirtschaften auch ein Interesse daran haben, wie die im engen Sinne ökonomischen Rationalitätsnormen angereichert und ergänzt werden können im Licht einer erweiterten Konzeption ökonomischer Rationalität.

Genauer: Ulrich hält die „reine“ oder „enge“ ökonomische Rationalität zwar für zureichend, um mit Effizienzfragen gut zurechtzukommen, aber für unzureichend, um mit Gerechtigkeitsfragen gut zurechtzukommen. Effizienzfragen sind ihrer rationalen Form nach eine Spezies der technischen Fragen, und die Rationalität, die wir brauchen, um gute Antworten auf solche Fragen zu finden, lässt sich ganz abstrakt genau so beschreiben wie das, was Philosophen üblicherweise als „Zweck-Mittel-Rationalität“ bezeichnen. Gerechtigkeitsfragen haben eine andere rationale Form.

Die St. Gallener Schule der kommunikativen Ethik bezeichnet als „reine“ oder „enge“ oder „halbierte“ ökonomische Rationalität die Fähigkeit, mit der allgemeinen Knappheit alternativ verwendbarer Güter und Ressourcen eigennutzenmaximierend umzugehen.

Das ist eine Standardvorstellung von ökonomischer Rationalität. Man kann sie auch reformulieren als Fähigkeit, im Raum alternativer Optionen der Verwendung knapper Güter und Ressourcen zwischen Optionen zu unterscheiden, mit denen eine gegebene eigennützige Zielfunktionen effizienter erreicht werden könnte als mit anderen Optionen.

Ulrich meint, es gehört zum Kerngeschäft der Wirtschaftsethik, die Einsicht zu retten, dass marktwirtschaftliche Operationen beide Rationalitätsformen in sich vereinigen müssen, also auch die Rationalität des moralischen Umgangs mit Gerechtigkeitsproblemen. Marktwirtschaftliche Operationen, die die beiden Rationalitätsformen spalten und auseinanderdividieren, sind aus der Sicht von Ulrichs „Integrativen Wirtschaftsethik“ keine guten marktwirtschaftlichen Operationen. Die Frage „nach effizientem Wirtschaften in einer Welt voller Konflikte um die Verteilung der internen und externen Kosten und Nutzen des Wirtschaftens“ lässt sich für Ulrich nicht abkoppeln von der „Frage nach der rationalen Gestaltung der sozialen Beziehungen unter allen Beteiligten und Betroffenen. (...) Was für die Nutznießer einer wirtschaftlichen Handlung effizient ist, braucht es für diejenigen, die am Nutzen nicht partizipieren, wohl aber von den sozialen oder ökologischen Kosten betroffen sind, noch lange nicht zu sein.“ (2, S. 83 f).

Das heißt: Effizienzfragen interagieren mit Fragen einer ganz anderen Art, nämlich mit Legitimitätsfragen. Eine ökonomische Handlung bleibt kritikwürdig und wird in Schwierigkeiten führen, egal wie effizient sie ist, wenn sie nicht zugleich auch gegenüber allen Personen, die von der Handlungsweise zum Guten oder Schlechten betroffen werden, so gerechtfertigt werden könnte, dass diese Personen die unparteilich bewerteten Gründe dieser Handlungsweise akzeptieren könnten und in diesem Sinne die Handlungsweise für moralisch erlaubt, für legitim halten könnten.

Was ist damit gewonnen?

Eine Handlungsweise, die legitim ist, ist vermutlich weniger konfliktträchtig als eine, die nicht legitim ist. Wenn wir fragen: „Wie kann ich im Wettbewerb eigennutzenmaximierend und zugleich konfliktminimierend handeln?“ stehen wir vor einem unlösbaren Maximierungs-Minimierungs-Problem. Die kommunikative Wirtschaftsethik betont deshalb eine Seite, und zwar die Seite der Konfliktminimierung, auch und gerade mit Bezug auf Wirtschaftshandeln unter dem Wettbewerbsdruck der kapitalistischen Marktwirtschaft. Zur Position der kommunikativen Ethik Ulrichs gehört der Vorrang der kommunikativen Vernunft. Diese soll die enge ökonomische Vernunft einbetten und gegebenenfalls auch einschränken. In Ulrichs Wirtschaftsethik ist die erste Frage, ob marktwirtschaftliche Handlungsweisen legitim sind, und erst dann stellt sich die Frage nach ihrer differentiellen Effizienz. In der Theorie-Architektonik von Ulrichs Wirtschaftsethik werden also zwei Rationalitätsformen in der Realität der Marktwirtschaft so aufeinander bezogen, dass die eine einen prinzipiellen Vorrang vor der anderen hat.

Die ökonomische Ethik Homanns behauptet diesen Vorrang nicht. Die ökonomische Ethik behauptet im Gegenteil die Selbstgenügsamkeit der ökonomischen Rationalität. Ihre Rationalitätsannahmen sind also vergleichsweise sparsamer. Das ist interessant, gehört es doch zu den eingespielten Reflexen des wissenschaftlichen Denkens, eine Theorie, die mit sparsameren Annahmen dasselbe leistet wie eine andere Theorie, für die bessere Theorie zu halten. Wohlgemerkt, wenn sie dasselbe leistet. Leistet Homanns Theorie dasselbe?

Was leistet Homanns Theorie?

Gewiss übersieht Homann nicht einfach die von Ulrich betonte Konditionierung von Effizienz durch Legitimität. Er geht mit dem Phänomen, dass Marktteilnehmer nicht nur mit den Risiken und Chancen von Effizienzverlusten und Effizienzvorsprüngen zurechtkommen müssen, sondern auch mit den Risiken und Chancen von Legitimitätsverlusten und Legitimitätsvorsprüngen, anders um. Seine ökonomische Ethik konzeptualisiert Interaktion ganz allgemein als Einheit von Konfliktmöglichkeiten und Kooperationsmöglichkeiten, wobei Kooperation als Gewinn oder Nutzen erscheint, der durch Konfliktivität blockiert, vermindert oder negativ werden kann.

Diese Prämisse, wie Interaktion zu konzeptualisieren sei, ist die wichtigste sozialphilosophische Prämisse innerhalb von Homanns ökonomischer Ethik. Sie greift die Hobbessche Denkfigur vom Naturzustand auf, deren moderne Version „Gefangenendilemma“ heißt.

Der Einsatz des Pareto-Prinzips

Die Differenz zwischen einer Interaktionssituation, die alle betroffenen Akteure für legitim halten, und einer Interaktionssituation, die einige für illegitim halten würden, lässt sich unter dieser Prämisse als die Differenz zwischen einem pareto-superioren und einem pareto-inferioren Interaktionsergebnis modellieren. Die allgemeine Forderung nach Legitimität – eine elementare moralisch-normative Anforderung - übersetzt sich dabei in ein allgemeines Interesse an Interaktionsverhältnissen, die so geregelt sind, dass pareto-superiore Ergebnisse erwartet werden dürfen – eine elementare ökonomisch-rationale Anforderung!

Wir finden diese Transformation des Vorteilsstrebens der Mitglieder einer alternativenlosen Interaktionsgemeinschaft von eigennutzenmaximierenden Akteuren in allseits vorteilhafte Interaktionsverhältnisse bei allen kontraktualistischen Denkern in der Tradition von Hobbes. Distribuiertes individuelles Vorteilsstreben transformiert sich mit Hilfe der Erfindung geeigneter bindender Regeln – z. B. Regeln des Rechts, Regeln eines Gesellschaftsvertrags, Regeln des geordneten Wettbewerbs – in kollektiv verbindliche „Ligaturen“ (wie der Soziologe Ralf Dahrendorf sagen würde) oder „praktische Normen“. Kontraktualisten suchen nach der nichtnormativen Quelle aller Normativität; sie suchen nach einer genealogischen Erklärung normativer Autorität. Der „Kontrakt“ – Vereinbarung, Abmachung, Vertrag – ist ein flexibles Vehikel, sozusagen ein universelles Format normativer Autorität. Die Menschen erfinden intelligent immer neue Modelle normativer Autorität, um ihre Interaktionsformen pareto-superior zu machen.

Ein Beispiel

Angenommen, die Unternehmer A1 und A2 stehen im wirtschaftlichen Wettbewerb und versuchen ihren jeweiligen Vorteil dadurch zu vergrößern, dass sie Kosten auf externe Akteure A3 und A4 abwälzen. Sie streben also auf Kosten von Nicht-Beteiligten nach Profit. A1 und A2 könnten zwei Pharmafirmen sein, wobei A1 versucht, durch Bio-Piraterie an den Kulturpflanzen der indigenen Völker A3 und A4 sich Wettbewerbsvorteile gegenüber dem Marktkonkurrenten A2 zu verschaffen. Wenn wir diese Situation moralisch betrachten, nach Maßstäben kommutativer und distributiver Gerechtigkeit, dann werden wir nicht nur die Handlungsweise von A1 moralisch verurteilen, sondern die gesamte Interaktionssituation von A1 und A2. Die gesamte Interaktionssituation erscheint illegitim, insofern sie allzu starke Anreize zu unfairer Ausnutzung erzeugt. Moralisch begründbare Reaktionen wären nun, Bio-Piraterie zu verbieten oder die ausgebeuteten indigenen Völker am Gewinn zu beteiligen, um Gerechtigkeit herzustellen.

Das wäre eine mögliche plausible moralisch relevante Interpretation der Situation. Homanns ökonomische Ethik interpretiert die Situation jedoch ganz anders: Die Suche nach einer moralischen Verbesserung ist hier die Suche nach solchen Veränderungen in den Anreizen und Restriktionen für alle beteiligten Akteure, dass alle beteiligten Akteure für sich einen Nutzen erwarten dürfen, für den es sich lohnt, miteinander zu kooperieren, jedenfalls mehr lohnt, als Konflikte zu produzieren. Effizienzverbesserungen (was innerhalb der Marktwirtschaft wohl vor allem heißt: Steigerung von Rendite oder Return on Investment) und Legitimitätsverbesserungen gehen idealiter Hand in Hand.

Die dahinter stehende Rationalitätskonzeption verdeutliche ich nun anhand einiger Originalzitate aus Homanns wirtschaftswissenschaftlichem Hauptwerk „Ökonomik: Eine Einführung“, ein im Jahr 2000 erschienenes Lehrbuch, das er zusammen mit seinem Schüler Andreas Suchanek geschrieben hat (3):

„Ökonomik führt Änderungen der Resultate von Interaktionen auf Änderungen des Verhaltens von Akteuren und diese wiederum auf [die] Änderung von Bedingungen, Restriktionen zurück: Dies ist das allgemeine Erklärungsprogramm der Ökonomik. Allen Interaktionen liegen gemeinsame und konfligierende Interessen als Grundstruktur zugrunde: Dieses Schema „Dilemmastrukturen“ tritt [in der Wirtschaftswissenschaft] an die Stelle der „allgemeinen Gesetze“ in den Naturwissenschaften und der Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften. Dieses Schema wird als zweckmäßig für die Theoriebildung eingeschätzt und – bis ein besseres Schema gefunden wird – vorläufig invariant gesetzt. Die Annahme der Rationalität und das Konstrukt des homo oeconomicus sind aus diesem Schema „Dilemmastrukturen“ abgeleitet, sie finden darin ihre zureichende Begründung“. (S. 430)

„Für unser „Konzept Dilemmastrukturen“ benötigen wir nur die Gedanken (1) der Interdependenz des Verhaltens in Interaktionen, (2) des Zugleichs von gemeinsamen und konfligierenden Interessen in allen Interaktionen und (3) der Ausbeutbarkeit der individuellen Vorleistungen für das pareto-superiore Interaktionsresultat.“ (S. 434)

Vor dem Hintergrund des Konzepts „Dilemmastrukturen“ führt Homann das Konzept „homo eoconomicus“ ein. Damit hält er bewusst an dem (oft kritisierten) wirtschaftswissenschaftlichen Standardmodell des rationalen, eigeninteressierten Akteurs fest, das sich so zusammenfassen lässt: Akteure maximieren ihren erwarteten Nutzen unter Nebenbedingungen.

Dem „homo oeconomicus“ wird hier eine hohe normative Relevanz zugeschrieben und dies, obwohl das Konzept Homann zufolge (S. 425) kein normatives Konzept ist. Für ihn hat es vielmehr den Status einer Unterstellung in methodischer Absicht, und zwar der für positive Wissenschaft charakteristischen Absicht des Erklärens. Wie schon für Max Weber, der innerhalb der Gesellschaftswissenschaft solche Unterstellungen „Idealtypen“ genannt hat, dient bei Homann das Konzept „homo oeconomicus“ zur Erklärung von Entstehung und Veränderung normativer Formen, die unsere Interaktionsverhältnisse annehmen oder die wir ihnen geben – z. B. Sitten, Gewohnheiten, Vorschriften, Ideale, Gesetze. Denn: „Da allen Interaktionen Dilemmastrukturen zugrunde liegen“ (S. 420) sind Kooperationsvorteile nur soweit möglich, wie der nötige Schutz gegen ihre Ausbeutung möglich ist. Welcher Schutz nötig und welcher Schutz möglich ist, bemisst sich an der Unterstellung, alle relevanten Akteure seien Eigennutzenmaximierer, und hat deshalb einen hohen heuristischen Wert für die Erklärung von Entstehung und Veränderung normativer Formen – so wie analog das Konzept des reproduktiven Vorteils im Daseins-Wettbewerb („survival of the fittest“) im Rahmen der Theorie der natürlichen Evolution einen hohen heuristischen Wert für die Erklärung von Entstehung und Veränderung biotischer Formen hat. Mit der Unterstellung, alle relevanten Akteure seien kluge Eigennutzenmaximierer, kann man z. B. erklären, warum Gesetze, die dem Gemeinwohl dienen, die aber Anreize zur Übertretung bieten und ungenügend gegen Defektoren geschützt sind, ihre Geltung einbüssen und gleichsam absterben.
Homann hat solche Beobachtungen theoretisch verallgemeinert und behauptet: Für praktische Normen jeder Art gilt, dass eine Norm keine gültige Norm sein kann, wenn unter klugen eigennutzenmaximierenden Akteuren unter Normalbedingungen mehr Anreize für ihre Nichtbefolgung bestehen als für ihre Befolgung. Falls diese theoretische Verallgemeinerung richtig ist, heißt das: Die Implementierbarkeit einer praktischen Norm schlägt durch auf die Gültigkeit dieser Norm.

Homanns Bedingungsethik

Wie kann Homann dem (angeblich nichtnormativen) Konzept „homo oeconomicus“ eine hohe normative Relevanz für die moralisch-normative Wirtschaftsethik geben?

Ich würde Homanns Pointe so ausdrücken: Normative Wirtschaftsethik, die etwas taugt, adressiert nicht nur die Akteure im Business, sondern alle Akteure, die Einfluss auf die – und in den – sozialen Praktiken der kapitalistischen Marktwirtschaft haben. Sie liefert all diesen Akteuren passende Begründungen, die den Akteuren den Sinn einer Anforderung klar macht, unter der sie stehen: Nimm die Mitverantwortung wahr, die du dafür hast, dass die Defektionspotentiale aller von der kapitalistischen Marktwirtschaft betroffenen Akteure neutralisiert werden – am besten durch geeignete Formen der Inklusion der Akteure in die kapitalistische Marktwirtschaft!

Aus dieser Pointe ergibt sich Homanns Theorie-Architektur einer „Bedingungsethik“. Eine Bedingungsethik muss zweiseitig oder zweistufig entfaltet werden, als eine Ethik des Bedingenden und als eine Ethik des Bedingten. Die wichtigste Unterscheidung in der Theorie-Architektur ist die Unterscheidung zwischen einer „Rahmenordnung“ und den „Handlungen“ oder „Spielzügen“, zu deren Koordination die Rahmenordnung etwas beiträgt, in dem sie sie konditioniert.

„In der Rahmenordnung werden die Optionen und Restriktionen des Handelns geschaffen, und insofern ist die Ethik der Handlungsbedingungen grundlegend. Das Handeln selbst folgt dann den Anreizen, also der ökonomischen Logik. Eine moderne Ethik muss daher als Ordnungs- bzw. Institutionenethik und als Handlungsethik entwickelt werden. Sie muss auf Konsistenz beider Ebenen achten und kann nicht im Handeln etwas verlangen, das gegen die von der Ordnung gesetzten Anreize verstößt.“ (4)

Wirtschaftsethisch interessant ist die Rahmenordnung, sofern sie auch die moralischen Qualitäten der Spielzüge konditionieren kann. Hier sehe ich Homanns versteckte Priorisierung: Rahmenordnung vor Spielzügen. Eine moralisch programmierte Rahmenordnung konditioniert das Handeln der Menschen so, dass moralisch wünschenswerte Handlungsweisen und Handlungsergebnisse eher zustande kommen als moralisch unerwünschte. Die Menschen orientieren sich idealiter in allen Interaktionen strategisch rational an den durch alle situationsrelevanten Rahmenordnungen vorgegebenen „Anreizen“.

Lassen sich die Märkte moralisieren?

In wirtschaftsethischer Hinsicht ist damit erst dann etwas gewonnen, wenn wir annehmen dürfen, dass das Handeln in der kapitalistischen Marktwirtschaft sich tatsächlich so indirekt moralisch qualifizieren lässt. Aber: Lassen sich die Märkte wirklich moralisieren? Oder sind Märkte moralisierungsresistent, sozusagen strukturell a-moralisch?

Homann füllt diese Theorielücke, in dem er die Marktwirtschaft als eine implizit immer schon moralisch gute Praxis erscheinen lässt, sie also im Zuge ihrer Beschreibung auch schon rechtfertigt. Diese Rechtfertigung ist insofern idealistisch, als sie sich nicht auf die Empirie der realen Marktwirtschaft, sondern auf die Vorstellung einer „idealen“ Marktwirtschaft bezieht: Die Marktwirtschaft

„ist gewissermaßen die institutionalisierte Solidarität oder Nächstenliebe, insofern in der Marktwirtschaft mit geeigneter Rahmenordnung nur derjenige individuelle Vorteile erzielen kann, der seinen Mitmenschen etwas zu bieten hat, was diese auch tatsächlich wünschen.“ (1, 19)

Kann sich Homanns Wirtschaftsethik auch auf die – unzweifelhaft massive – negative Realität der Marktwirtschaft beziehen? Die

„Schlußfolgerung aus ethischen Defiziten empirischer Marktwirtschaften kann nicht lauten: Bändigung des Marktes, des Wettbewerbs, des Vorteilsstrebens. Die Schlussfolgerung muß vielmehr lauten: Verbesserung, Entfesselung der Märkte durch Entwicklung und Implementierung einer Rahmenordnung, welche die Dynamik des Vorteilsstrebens so kanalisiert, dass alle Menschen in diesen produktiven Prozeß einbezogen werden können. Nur so kann eine Welt der Freiheit, des Friedens, der Gerechtigkeit und der Solidarität aller auf hohem Wohlstandsniveau entstehen“ (1, 27)

Hier zeigt die ökonomische Ethik Homanns ihr sozialutopisches visionäres Moment. Marktwirtschaft soll die Welt verbessern, und zwar nach Maßgabe ethisch fundamentaler Werte: Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit. Ökonomische Wirtschaftsethik soll ihr dabei helfen.

Und die vielen skandalösen Fälle von Unternehmensversagen? Hier kontert Homann mit dem Argument vom Selbstkorrekturpotential der Marktwirtschaft:

„Marktwirtschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie über einen eingebauten leistungsfähigen Fehlerkorrekturmechanismus verfügen. Auch Unternehmensführung ist eine knappe Ressource. Der Wettbewerb sorgt dafür, dass knappe Ressourcen tendenziell der besten Verwendung zugeführt werden“. (1, 34)

Dass der Wettbewerb im globalen Wirtschaftssystem durch eine gute Rahmenordnung so programmiert werden kann, dass er selbstkorrigierend dafür sorgt, dass knappe Ressourcen tendenziell der besten Verwendung zugeführt werden – der „besten“ Verwendung im Sinne des utilitaristischen Ethos der Besserstellung aller Menschen –, das sind steile, fast möchte ich sagen: metaphysische Annahmen. Jedenfalls wäre jeder Versuch, diese Annahmen empirisch zu überprüfen, mit prohibitiven methodologischen Problemen belastet. Das ist ein Dilemma für die ökonomische Ethik. Denn ohne einen solchen Versuch muss man Homann bezüglich dieser wesentlichen Annahmen als einen Wettbewerbsmetaphysiker bezeichnen.

Ulrichs Kritik

Ulrich hat Homanns wettbewerbsmetaphysische Annahme und das von Homann idealistisch beschriebene Ethos der Marktwirtschaft als eine Fiktion kritisiert, nämlich als eine „Gemeinwohlfiktion“, die den Nutznießern des Kapitalismus zur Immunisierung gegen gewisse moralische Einwände dient, z. B. gegen den Einwand der ungerechten Exklusion.

Genauer: An der vorhin formulierten Mitverantwortungsforderung in Homanns ökonomischer Ethik, die die Einbeziehung aller Betroffenen zu fordern scheint, bemerkt Ulrich ein moralisch relevantes Defizit: Es sind nur diejenigen Akteure zu inkludieren, die über Defektionspotential, also Störmacht, verfügen, alle anderen fallen aus der Reichweite der Grundnorm heraus. Das klingt so, wie wenn einer sagt: „Konsum ist etwas gutes für alle Menschen“, und hinzufügt: „wenn sie Kaufkraft haben“. Ich meine, Ulrich hat hier nicht nur irgendeinen wunden Punkt, sondern die Achillesferse der ökonomischen Ethik getroffen.

Ulrich bemerkt eine weitere Schwachstelle: Homann nimmt als die Instanz für die moralische Programmierung der Rahmenordnung die Politik an. Also eine Instanz mit angeblich großer Distanz zum Markt. Denn dass der Markt seine Rahmenordnung unmittelbar selbst programmiert, würde – außer einigen Marktextremisten – niemand im Ernst für möglich oder auch nur für wünschenswert halten. Aber, meint Ulrich, das Politiksystem wird vom Wirtschaftssystem immer mehr versklavt oder depotenziert sich sogar selbst. Politik wird zu einer Instanz ohne Distanz zum Markt, jene Distanz, die doch für die Entwicklung „guter“ Rahmenordnungen im Sinne Homanns nötig wäre. Wer also hätte die Autorität, um gute Rahmenordnungen zu entwickeln, und wer sollte sie haben?

Ulrichs Konstruktionsidee

Wie vorhin für Homann versuche ich nun den für Ulrichs Ansatz zentralen moralisch-normativen Gehalt in Form einer Anforderung zu formulieren. Normative Wirtschaftsethik liefert passende Begründungen, die allen stakeholdern der kapitalistischen Marktwirtschaft den Sinn einer Anforderung klar macht, unter der sie stehen, ob sie wollen oder nicht und ob sie es wissen oder nicht. Was diese Anforderung verlangt, lautet als persönlich adressierter Imperativ ausgedrückt so: Nimm die Mitverantwortung wahr, die du als Bürger dafür hast, dass die Wirtschaftsordnung ebenso wie die einzelnen Handlungsweisen bestimmt werden vom politisch-ethischen Leitbild einer wohlgeordneten Gesellschaft freier und gleicher Bürger! (5, 29)

Diese Anforderung im Rahmen der kommunikativen Wirtschaftsethik – Ulrich nennt sie auch den „republikanischen Imperativ“ –impliziert des weiteren folgendes: Geltungsansprüche für alle Normen, die die sozialen Praktiken der kapitalistischen Marktwirtschaft normieren, sollen gemäß dem folgenden Rationalitätskriterium beurteilt werden: Können freie und mündige Personen in der Form der Wertschöpfung, zu der die fraglichen Normen beitragen, eine legitime Form der Wertschöpfung erkennen – erkennen im Rahmen der vernunftgeleiteten Verständigung unter allen Betroffenen?

Gemäß dieser Konstruktionsidee enthält Ulrichs kommunikative Wirtschaftsethik nicht nur das Postulat vom Vorrang der kommunikativen vor der strategischen Rationalität. Sie enthält zudem das Postulat vom Vorrang der demokratischen Politik vor der Marktwirtschaft.

Den Nexus beider Vorrang-Postulate nennt Ulrich die „regulative Idee sozialökonomischer Rationalität“. Im republikanischen Imperativ liegt, dass Wirtschaftsethik als ein Teil der normativen Demokratietheorie zu begreifen ist, genauer: als ein Teil der normativen Theorie der deliberativen Demokratie. Ulrich verlangt deshalb von einer Wirtschaftsethik auch eine Klärung der institutionellen Voraussetzungen, unter denen „der öffentliche Diskurs als der systematische Ort der ethisch-politischen Integration der Ökonomie“ (5, 27) gewährleistet werden kann.

Das genannte Rationalitätskriterium bedeutet ja, dass als ökonomisch vernünftig nur solche Handlungsweisen gelten dürfen, die nicht nur für die beteiligten Akteure selbst als effizient, sondern auch gegenüber allen Betroffenen als legitim vertretbar sind. Ulrich pointiert: „Die sozialökonomische Rationalitätsidee formuliert nicht mehr und nicht weniger als den moral point of view einer Vernunftethik des Wirtschaftens.“ (1, 123)

An dieser Stelle erinnert Ulrichs Rede von der Lebensdienlichkeit der Ökonomie an Homanns ideelle Rechtfertigung der idealen Marktwirtschaft. Auch bei Ulrich scheint es so etwas wie eine idealistische Rechtfertigung der idealen Ökonomie zu geben. Allerdings begreift Ulrich „Lebensdienlichkeit“ als eine offene Variable, die diskursethisch integer von allen Menschen, die unter der Ordnung werden leben müssen, noch erst bestimmt werden muss. Homann hingegen begreift „Wohlstand für alle“ als eine Variable spezifisch der ökonomischen Wertschöpfung, die er utilitaristisch bestimmt.

UNSER AUTOR:

Matthias Kettner ist Professor für Philosophie an der Universität Witten-Herdecke.

Im Artikel zitierte Texte:

(1) Homann, Karl: Ethik in der Marktwirtschaft, Heft Nr. 3 der Reihe „Position“ des Roman Herzog Instituts, 2007, Deutscher Instituts Verlag, München.

(2) Ulrich, Peter: Integrative Wirtschafts- und Unternehmensethik“, in: S. Blasche et al (Hg.), Markt und Moral. 2004. Haupt Verlag, Bern.

(3) Homann/Suchanek, Ökonomik. Eine Einführung. 2000, Mohr Siebeck, Tübingen

(4) Homann, Karl: Ökonomik. Fortsetzung der Ethik mit anderen Mitteln.
http://www. philoek.uni-uenchen.de/homann /Oekonomik-FortsetzungderEthik.pdf

(5) Ulrich, Peter: Der entzauberte Markt. 2002, Herder, Freiburg