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FORSCHUNG

Honneth reaktiviert den Begriff der Verdinglichung

Axel Honneth reaktiviert den Begriff der Verdinglichung

In den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts war der Begriff der „Verdingli-chung“ ein Leitmotiv der Sozial- und Kulturkritik im deutschsprachigen Raum. Zu dieser Zeit erweckten die sozialen Beziehungen zunehmend den Eindruck nüchtern-kalkulatorischer Zweckhaftigkeit, die handwerkliche Liebe zu den Dingen war einer Einstellung der bloß instrumentellen Verfügung gewichen. Allerdings bedurfte es erst der Geistesgegenwart eines Philosophen, diese diffusen Stimmungen auf einen Nenner zu bringen. Georg Lukács war es, der in sei-ner 1925 erschienenen Aufsatzsammlung Geschichte und Klassenbewusstsein durch eine kühne Zusammenfassung von Motiven aus den Werken von Marx, Max Weber und Georg Simmel den Schlüsselbegriff „Verdinglichung“ prägte. Dieser hat dann eine ganze Generation von Philosophen und So-ziologen beflügelt, die Lebensformen unter den damals herrschenden Verhältnissen als eine Folge sozialer Verdinglichung zu analysieren.

In der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war es um die zeitdiagnostische Zentralstellung der Kategorie der Verdinglichung geschehen. Zwar schien in den Schriften der Frankfurter Schule der Begriff nochmals auf, aber im Ganzen schien das Projekt einer Verdinglichungsanalyse endgültig der Vergangenheit anzugehören.

Zu Unrecht, meint der Frankfurter Sozialphilosoph Axel Honneth und kombiniert in sei-nem Buch

Honneth, Axel: Verdinglichung. 110 S., kt., € 14.90, 2005, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

sein Projekt der Anerkennung mit dem der Verdinglichung. Drei Indizien wiesen auf einen Stimmungswandel hin, der die erneuerte Aktualität des Begriffes belege. So wird in neueren soziologischen Untersuchungen die Verdinglichung als eine veränderte Form des menschlichen Verhaltens studiert; eine Vielzahl von neueren Romanen und Erzählungen verbreiten eine ästhetische Aura der schleichenden Ökonomisierung unseres Alltagslebens. Philosophen wie Martha Nussbaum sprechen gezielt von „Verdinglichung“, um damit besonders krasse Formen der instru-mentellen Benutzung anderer Personen zu kennzeichnen. In letzteren Fällen ist jeweils von „Verdinglichung“ in einem dezidiert normativen Sinne die Rede: gemeint ist damit ein menschliches Verhalten, das insofern gegen unsere moralischen Prinzipien verstößt, als andere Subjekte nicht gemäß ihrer menschlichen Eigenschaften, sondern wie empfindungslose, tote Gegenstände, eben als „Dinge“ oder „Waren“ bezeichnet werden.

Die Phänomene, auf die damit Bezug genommen wird, umfassen so unterschiedliche Tendenzen wie die wachsende Inanspruchnahme von Leihmutterschaft, die Vermark-tung von Liebesbeziehungen oder die explo-ionsartige Entwicklung der Sexindustrie. Lukács wiederum glaubte noch ohne jeden Bezug auf ethische Grundsätze auskommen zu können. Er nahm den Begriff der Verdinglichung insofern wörtlich, als er damit eine soziale Verhaltenspraxis charakterisieren zu können glaubte, die nur aufgrund der Verfehlung ontologischer Tatsachen schon als falsch gelten sollte.

Für Honneth reichten Lukács’ kategoriale Mittel allerdings nicht aus, um die phänome-nologisch häufig richtig erfassten Vorgänge angemessen konzeptualisieren zu können. Im Anschluss an Marx behauptete Lukács, die Verdinglichung bedeute nichts anderes, als „dass eine Beziehung zwischen Personen den Charakter einer Dinghaftigkeit“ erhält. In dieser Form bezeichnet der Begriff offensichtlich einen kognitiven Vorgang, durch den etwas, was an sich keine dinglichen Eigenschaften besitzt, als etwas Dingliches angesehen wird. Als soziale Ursache für die Verbreitung der Verdinglichung nimmt Lukács die Ausweitung des Warenaustausches an, der mit der Etablierung kapitalistischer Gesellschaften zum herrschenden Modus in-tersubjektiven Handelns geworden ist. Lukács löst sich aber von der engen Bindung an die ökonomische Sphäre, indem er die Verdinglichungszwänge auf das gesamte Alltagsleben im Kapitalismus überträgt: Allen Subjekten, die an der kapitalistischen Lebensform partizipieren, muß es zur habituel-len Gewohnheit werden, sich selber und die umgebende Welt nach dem Schema bloß dinglicher Objekte wahrzunehmen. Lukács ändert die Richtung seines begrifflichen Herangehens: In der sich erweiternden Handlungssphäre des Warentausches sind die Subjekte gezwungen, sich statt als Teilnehmer nur mehr als Beobachter des sozialen Geschehens zu verhalten, weil die wechselseitige Kalkulation der möglichen Erträge eine rein sachliche, möglichst affektneutrale Einstellung verlangt. Eine derartige Einstellung wird zur „zweiten Natur“, wenn sie kraft entsprechender Sozialisationsprozesse so sehr zu einer Gewohnheit wird, dass sie das individuelle Verhalten im gesamten Spektrum des Alltagslebens bestimmt.

Honneth will den Begriff in der Weise wieder aktualisieren, dass der gemeinte Sachverhalt als Verkümmerung oder Verzerrung einer ursprünglichen Praxis verstanden wird, in der der Mensch zu sich und seiner Umwelt in einem anteilnehmenden Verhältnis steht.

Ideen, die denen von Lukács verwandt sind, haben auch John Dewey und Martin Hei-degger und in der Gegenwart Stanley Cavell entwickelt. Lukács und Heidegger sind sich darin einig, dass die verdinglichten Verhältnisse einen falschen Interpretationsrahmen, einen ontologischen Schleier darstellen, hinter dem sich die Faktizität der tatsächlichen Daseinsweise des Menschen verbirgt. Beide sind der Überzeugung, dass inmitten der fal-schen, ontologisch verblendeten Gegenwart jene elementaren Strukturen der menschlichen Lebensformen immer schon anwesend sein müssen, die durch Besorgtheit und existentielle Interessiertheit gekennzeichnet sind. Damit, so folgert Honneth, sind beide Denker gezwungen, eine These zu vertreten, die Honneth so formuliert: „Die zur zweiten Natur gewordene Gewohnheit, sich die Beziehung zu sich selber und zur Umwelt nach dem Muster eines neutralen Verhaltens von dinglichen Gegebenheiten vorzustellen, verleiht auch der menschlichen Handlungs-praxis über die Zeit eine andere, verdinglichte Gestalt, ohne dass der ursprüngliche Sorgecharakter jener Praxis aber vollständig zum Verschwinden gebracht werden könnte; vielmehr muss in Form eines präreflexiven Wissens oder elementarer Handlungsweise diese vorgängige Eigenschaft stets so präsent bleiben, dass eine kritische Analyse sie je-derzeit wieder zu Bewusstsein bringen könnte.“ Damit wird nicht weniger behauptet, als dass das menschliche Selbst- und Weltverhältnis nicht nur genetisch, sondern auch kategorial zunächst an eine befürwortende Einstellung gebunden ist, bevor dann andere, emotional neutralisierte Einstellungen daraus hervorgehen können.
In der Entwicklungspsychologie ist man sich einig, dass die Entstehung der kindlichen Denk- und Interaktionsfähigkeiten als ein Prozess gedacht werden muss, der sich ver-mittels des Mechanismus der Perspektivenübernahme vollzieht. Das Kind lernt, sich auf eine objektive Welt konstanter Gegenstände zu beziehen, indem es aus der Perspektive einer zweiten Person zu einer allmählichen Dezentrierung seiner eigenen, zunächst egozentrischen Perspektive gelangt. Das Kind muss sich aber mit der Bezugsperson emotional identifiziert haben, bevor es deren Ein-stellung als korrektive Instanz gelten lassen kann. Honneth knüpft an die Ergebnisse die-ser Forschungen an mit dem Ziel, den ontogenetischen Vorrang der Anerkennung vor dem Erkennen belegen zu können.

Das Kleinkind gewinnt erst aus der Perspektive der geliebten Person eine Ahnung von der Fülle der existentiellen Bedeutungen, die situationale Gegebenheiten für den Men-schen bedeuten können. Mit der emotionalen Verbundenheit mit seiner Bezugsperson wird ihm eine Welt erschlossen, in der es um jener bedeutungsvollen Qualitäten willen praktisch engagiert sein muss.
Honneth will die einfache Oppositionsbildung, wie sie sich bei Lukács findet, durch zwei Pole ersetzen: Den anerkennungssensitiven Formen des Erkennens auf der einen Seite stehen solche Formen des Erkennens auf der anderen Seite gegenüber, in denen das Gespür für die Herkunft aus der vorgängigen Anerkennung verlorengegangen ist. Dieses Vergessen vorgängiger Anerkennung beinhaltet für Honneth den Kern der Verdinglichung der Welt: Die soziale Welt erscheint, nahezu wie in der Wahrnehmungswelt des Autisten, als eine Totalität bloß be-obachtbarer Objekte, denen jede psychische Regung oder Empfindung fehlt. Die Ver-dinglichung entsteht, wenn die Aufmerksamkeit für das Faktum vorgängiger Aner-kennung verloren geht, weil sich im Zuge unserer Praxis der Zweck des Beobachtens und Erkennens der Umwelt derart verselbständigt, dass er alle anderen Situationsgege-benheiten vollständig in den Hintergrund treten lässt.

Wir können gegenüber der objektiven Welt eine verdinglichende Einstellung einnehmen, ohne dadurch bereits die Möglichkeit ihrer kognitiven Erschließung zu verlieren, während wir aber andere Personen gar nicht mehr als „Personen“ erkennen können, sobald uns ihre vorgängige Anerkennung in Vergessenheit geraten ist. Es ist dies der Unterschied, wie er in der klassischen Entgegensetzung von „Erklären“ und „Verstehen“ stets festgehalten wurde. Honneth spricht hier von einem Anerkennungsverhältnis höherer Stufe.