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Politische Philosophe: Olaf Müller lehnt humanitäre militärische Interventionen ab


Olaf L. Müller lehnt humanitäre militärische Interventionen ab

Befürworter sogenannter „Humanitärer Interventionen“ pflegen zu argumentieren: „Natürlich ist Krieg ein Übel und fordert viele schlimme Opfer bei Zivilisten und Soldaten. Aber der geplante Kriegseinsatz wird weit schlimmeres Unheil verhüten. Wenn wir nicht militärisch eingreifen, droht eine humanitäre Katastrophe; deren Opfer haben Anspruch auf unsere Hilfe.“ Wer so argumentiert, so legt Olaf L. Müller, Professor für theoretische Philosophie an der HumboldtUniversität zu Berlin in seinem Aufsatz

Müller, Olaf L.: Chaos, Krieg und Kontrafakten, in: Bleisch, Barbara/Strub, JeanDaniel (Hrsg.) Pazifismus. Ideengeschichte, Theorie und Praxis (346 S., kt., 2006, Haupt, Bern)

dar, wiegt sich in epistemischen Sicherheiten, meint viel zu wissen, hält sich für realistisch und ist in Wirklichkeit ein Traumtänzer.

Wer eine Katastrophe verhindert, der bewirkt, dass sie gar nicht stattfindet. Nur wenn dem Krieg wirklich diese kausale Macht innewohnt, war er nach den Maßstäben des humanitären Kriegsbefürworters moralisch richtig. Für einen Vergleich kommt nur jene humanitäre Katastrophe in Frage, die sich ereignet hätte, wenn der fragliche Krieg unterblieben wäre; eine Katastrophe also, die de facto gar nicht stattgefunden hat.

Die Befürworter humanitärer Kriegsinterventionen verlangen noch mehr. Sie verlangen, dass die fragliche Intervention das einzige und beste Mittel zur Verkürzung der humanitären Katastrophe sein muss: „Keine friedliche Handlungsweise hätte die humanitäre Katastrophe so sehr verkürzen können, wie es der tatsächlich geführte Kriegseinsatz vermocht hat.“ Was anstelle der tatsächlichen Entwicklung geschehen wäre, das verbirgt sich für immer. Wer einen Krieg plant, sieht weder die bevorstehende Zukunft noch die unzähligen Abzweigungen, die sich im Falle anderer Entscheidungen ergeben würden. Wer sich aus der Rückschau für Krieg ausspricht, kennt nur einen einzigen Weg aus der Vergangenheit in die Gegenwart; die unzähligen Abzweigungen verbergen sich ihm genauso wie dem Kriegsplaner. In der Rückschau steht man nur unwesentlich besser da als zum Zeitpunkt der Entscheidung.

Wer die fragliche humanitäre Kriegsintervention ablehnt, kann zum einen sagen, dass er den umstrittenen Krieg selbst dann für falsch hält, wenn der Kriegsbefürworter mit seiner Annahme recht hätte. Er kann aber – und das ist der Weg, denn nun Müller einschlägt – der Annahme, d.h. dem kontrafaktischen Satz seines Gegners widersprechen und behaupten: „Wenn anstelle des Krieges friedliche Mittel gewählt worden wären, so hätte sich die humanitäre Katastrophe mindestens genau so verkürzen und abmildern lassen, wie es der tatsächlich geführte Kriegseinsatz vermocht hat.“

Ein Streit um kontrafaktische Sätze, um Sätze, die mit „wenn“ beginnen, wird typischerweise nicht durch den tatsächlichen Verlauf der Dinge entschieden. Sie hängen vielmehr von so etwas ab, was Musil „Möglichkeitssinn“ genannt hat. Die Umstände, die unser Urteil über kontrafaktische Sätze mitbestimmen, können völlig verschiedenen Arten angehören: Umstände der Gesprächssituation, räumliche Umgebung des Sprechers oder des besprochenen Gegenstandes usw. Welche Umstände in einem Fall genau relevant werden, sind nicht durch starre Regeln festgelegt, vielmehr müssen wir uns stets am gesunden Menschenverstand orientieren. Je mehr relevante Informationen wir in den Vordersatz eines kontrafaktischen Konditionals hineinnehmen, desto eindeutiger wird unser Urteil über den Sachverhalt aus dem Nachsatz (und desto eindeutiger dann auch unser Urteil über den Gesamtsatz). Neben dem Möglichkeitssinn und der Phantasie bestimmen auch Werte kontrafaktische Urteile. Ohne Möglichkeitssinn, Wirklichkeitssinn und Sinn für Moral keine Menschenkenntnis, und ohne Menschenkenntnis kein zuverlässiges Gespür für kontrafaktische Konditionale, in denen von Menschen die Rede ist. Wenn wir also zwei deskriptive Teilsätze über menschliches Tun mit dem Ausdruck „wenn – dann“ zu einem kontrafaktischen Konditional zusammenbinden, dann lässt sich das angemessene Urteil fast nie ohne Rückgriff auf Wertungen bestimmen. Denn beim Austausch kontrafaktischer Konditionale reden wir über unsere Welt, über die tatsächliche Welt, und zwar so, wie wir sie sehen, weil wir Wesen sind mit Werthaltungen (und mit Phantasie, narrativer Intelligenz, Einfühlungsvermögen).

Aus diesen Überlegungen folgt nach Müller: Wer sich in der moralischen Bewertung irgendeines Subjektes sehr sicher ist, der darf solange voller Phantasie über die kontrafaktischen freien Entschlüsse seines Subjektes improvisieren, bis er das unerwünschte undwiderstreitende kontrafaktische Konditional aus dem Spiel geworfen hat. Das verstößt nicht gegen die Prinzipien der intellektuellen Redlichkeit – solange es auf eine überzeugende Weise geschieht. Wer einen anderen in der Sache überzeugen will, braucht dabei narrative Intelligenz, seine Geschichte muss gut aufgehen. Ob sie aber gut aufgeht, kann wiederum nur mit narrativer Intelligenz entschieden werden, also nicht allein auf dem Boden harter Tatsachen. Und je außergewöhnlicher und extremer die Lage wird, in der ein Mensch steckt und agiert, desto weniger können wir uns auf harte objektive Fakten verlassen, wenn wir sagen sollen, wie sich der Mensch verhalten hätte, wäre seine Situation anders gewesen.

Noch weniger Gewicht haben die sogenannten harten Fakten, wenn wir nicht kontrafaktische Urteile über einen einzelnen Menschen, sondern Menschenmassen in der Krise erwägen.

Müller nennt ein Beispiel: „Selbst wenn die Alliierten davon abgesehen hätten, hunderte deutscher Städte zu bombardieren und in weiten Teilen zu zerstören, hätte der Zweite Weltkrieg in Europa nicht wesentlich länger gedauert und hätte insgesamt auch nicht mehr Opfer gefordert als im tatsächlichen Kriegsverlauf.“ Ein Streit um derartige Sätze ist kein Streit, der sich alleine mit Hilfe historischer Einzelfakten entscheiden lässt; es ist auch ein Streit um Werte. Die Sätze bieten keine wertfreie Grundlage objektiver Fakten, die erst durch Subsumption (unter moralischen Prinzipien) zur Bewertung des Luftkrieges führen, vielmehr stehen die Sätze selber schon mit einem Bein im Reich der Werte. Im Urteil über das Konditional verschmelzen Beschreibung und Bewertung aufs engste. Ob es dabei zur Bejahung oder Ablehnung kommt, das hängt u. a. von den individuellen Werthaltungen des Urteilenden ab. Ein britischer Patriot und ein deutscher Antifaschist gelangen zu anderen Resultaten als ein patriotischer Deutscher. Wenn wir nun den Satz „Hätte die NATO keine Bomben auf Ziele im Kosovo und in Serbien abgeworfen, dann wären mehr KosovoAlbaner und Serben getötet, verletzt und vertrieben worden“ beurteilen, dann dürfen wir uns an unserer narrativen Intelligenz, an Phantasie, an Menschenkenntnis, aber auch an unseren Werthaltungen orientieren.

Befürworter und Ablehner militärischer humanitärer Interventionen halten sich bis hier die Waage. Was kann der Pazifist tun, um seine Position zu stärken? Er muss seinen Einfallsreichtum und seinen Möglichkeitssinn zusammenbringen, um konkrete Vorschläge auszuarbeiten, durch die sich die humanitäre Katastrophe hätte verhindern lassen. So hätte im Kosovo die OSZE die Zahl ihrer Beobachter erhöhen sollen. Der Pazifist kann damit behaupten: „Wenn die NATO keine Bomben auf Ziele im Kosovo und in Serbien abgeworfen, sondern stattdessen die KVM verstärkt hätte sowie allen gegenseitigen Vorwürfen der Streitparteien energisch und mit größtmöglicher Fairness nachgegangen wäre, dann wären weniger KosovoAlbaner und Serben getötet, verletzt oder vertrieben worden.“ Er besteht darauf, dass der Kriegsbefürworter eine wichtige Möglichkeit übersehen hat: einen Weg zwischen dem tatenlosen und dem militärischen Extrem. Doch warum sollen die vorgeschlagenen Lösungen des Pazifisten erfolgreicher sein? Pazifisten, so Müller, glauben daran, dass sich Konflikte friedlich lösen lassen. Sie glauben, dass sich die allermeisten Menschen zur Wehr setzen, wenn sie mitbekommen, wie brutal ihre eigenen Leute die Rechte anderer mit Füssen treten. Wer das für aussichtslos hält, ist für Müller ein extremer Pessimist. Denn er müsste ja meinen, dass im Fall der Fälle die Mehrzahl einer Bevölkerung ungerührt zur Tagesordnung übergeht, selbst wenn sie von den Greueltaten ihrer eigenen Leute Wind bekommt. Aber für diese pessimistische Meinung gebe es keine Belege; sie beruht, meint Müller, bloß auf Vorurteilen.