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FORSCHUNG

Heidegger: Die formale Anzeige

HEIDEGGER

Die „formale Anzeige“ als Geheimwaffe

Von der Habilitationsschrift über Duns Scotus bis zu Sein und Zeit benutzt Heidegger die „formale Anzeige“ als Werkzeug, ohne dieses aber als solches auszuweisen. Sie ist, wie der HeideggerForscher Theodor Kisiel in seinem Essay

Kisiel, T.: Die formale Anzeige als Schlüssel zu Heideggers Logik, in: Denker, A./ Zaborowski, H. (Hrsg.), Heidegger und die Logik, 221 S., kt., 2006, Elementa Band 79, Rodopi, Amsterdam

ausführt, eine Art Geheimwaffe im methodischen Arsenal Heideggers. 1927 schreibt Heidegger an seinen Schüler Karl Löwith: „Ich musste zuvor extrem auf das Faktische losgehen, um überhaupt die Faktizität als Problem zu gewinnen. Formale Anzeige, Kritik der üblichen Lehre vom Apriori, Formalisierung und dergleichen ist alles noch für mich da (in Sein und Zeit), wenn ich auch jetzt davon nicht rede.“ Die formale Anzeige glänzt gewissermaßen immer wieder durch ihre Abwesenheit. So schreibt Heidegger im Herbst 1924 für eine neu gegründete Zeitschrift einen umfangreichen Artikel und berichtet Löwith, dass er wegen der Länge „Wichtiges beiseite lassen musste, so vor allem die ‚formale Anzeige’, die für ein letztes Verständnis unentbehrlich ist“.

Für Kisiel hat es damit, dass dieses verwickelte Thema immer wieder zurückgehalten wurde, eine eigene Bewandtnis. Die ausführlichste Präsentation der formalen Anzeige findet in den ersten Stunden der Vorlesung vom Wintersemester 1920/21 statt, die den Titel Einleitung in die Phänomenologie der Religion trägt. Heidegger geht darin auf die Thematik der formalen Anzeige ein, behandelt den Unterschied zwischen Generalisierung und Formalisierung und doziert über die subtilen Unterscheidungen zwischen Objekt, Gegenstand und Phänomen. Er spricht über die unentrinnbar vermittelte Einheit in der Mitte der faktischen Lebenserfahrung, die immer zugleich aktives und passives Erfahren ist, über den formal anzeigenden Begriff des „Historischen“, der diese vox media am Kern der Erfahrung verständlich macht, sowie über die Notwendigkeit vorläufiger Vorgriffe. Die Studenten interessiert das aber wenig, sie wenden sich an das Dekanat und reklamieren Mangel an religiösen Inhalten. Daher bricht Heidegger seine Behandlung der phänomenologischen Formalisierung abrupt ab und fängt mit der „Phänomenologischen Explikation konkreter religiöser Phänomene im Anschluss an Paulinische Briefe“ ohne Vorankündigung und echte Vorbereitung an. Er kehrt nie mehr zu einer ausführlichen Diskussion der formalen Anzeige zurück.

Im letzten Kapitel seines längst zu einem Klassiker gewordenen Buches Der Denkweg Martin Heideggers betont Otto Pöggeler die „formale Anzeige“ als die wahrhafte „Logik“, die Heidegger auf seinem ganzen Denkweg begleitet hat. Pöggelers Kenntnis geht auf seinen Lehrer Oskar Becker zurück. Becker ist stark beeinflusst von Heideggers Hermeneutik der Faktizität, deren Faktizität sinnvoll „nur in ihrer Jeweiligkeit treffen kann“. Es handle sich hier um eine besondere Art von Begriffen, um formalanzeigende Begriffe, „deren ‚Allgemeinheit’ in ihrer Bezogenheit auf das ‚Jeweilige’ liegt“. Kisiel zufolge entdeckt man weitere Spuren einer formalanzeigenden Logik in den Berichten von HusserlSchülern wie Günther Stern (Anders) und Ludwig Landgrebe über Heideggers erste Seminare über Husserls erste Logische Untersuchungen, die in der Erörterung von „okkasionalen Ausdrücken wie „ichjetzthier“ und „es gibt“ ihr Zentrum fand. Pöggeler sieht die Wirkung der formalen Anzeige bis in die Kehre – bis hin zum Sprachgeschehen des unverfügbaren Ereignis des Seins, d.h. bis zum „Geheiß, das je und je das Denken in Anspruch nimmt“. Die Sprache des Seyns wird durch eine „formalanzeigende Hermeneutik“ – um ein Wort Pöggelers zu benutzen – ausgelegt bzw. entborgen.

So wie das dichterische Wort ein konkretes Universal ist, ist der formalanzeigende Begriff keine Gattungsallgemeinheit, sondern ein jeweiliges Universal, das je nach der Situation immer schon ein konkretes Dasein anzeigt, ohne es faktisch voll erschließen zu können. Der formalanzeigende Begriff „sagt nicht direkt aus, worauf er sich bezieht, er gibt nur eine Anzeige, einen Hinweis darauf,
dass der Verstehende von diesem Begriffszusammenhang aufgefordert ist, eine Verwandlung seiner selbst in das Dasein in ihm zu vollziehen“ (Heidegger). Solche Begriffe enthalten „nur die Anweisung zu einer eigentümlichen Aufgabe“ (Heidegger) – über den Tod, die Entschlossenheit, die Geschichte – ohne direkt auszusagen, worauf sie sich beziehen. Weil sie immer nur den Anspruch einer Verwandlung ansprechen lassen, aber nie selbst die Verwandlung verursachen können, sind die Begriffe anzeigend. Sie zeigen immer in das Dasein hinein, d. h. mein Dasein, unser Dasein. „Weil sie bei dieser Anzeige zwar ihrem Wesen nach je in eine einzelne Konkretion des einzelnen Daseins im Menschen hineinzeigen, diese aber nie in ihrem Gehalt schon mitbringen, sind sie formal…“ Die Interpretation nach der je eigenen Faktizität ist zwar keine „nachträgliche sogenannte ethische Anwendung des Begrif fenen, sondern… vorgängiges Aufschließen der Dimension des Begreifbaren“. Im Unterschied von wissenschaftlichen Begriffen sind für Heidegger alle philosophischen Begriffe formal anzeigend, enthalten deshalb „nur die Anweisung zu einer eigentümlichen Aufgabe“, Die begrifflichen Fragen dienen dem, was dem Philosophen aufgegeben ist: nicht den Menschen und seine Welt zu beschreiben, „sondern das Dasein im Menschen zu beschwören“ (Heidegger). Philosophie sei daher keine Wissenschaft, sondern eine anweisende, auffordernde Protreptik bzw. eine „formal anzeigende Hermeneutik“ der Jeweiligkeit des Daseins.

Unterwegs zu Sein und Zeit ging Heidegger durch eine Reihe von formalen Anzeigen hindurch: 19201922 Intentionalität; mit einem umfassenden Zeitigungssinn erst 1922 ergänzt: Dasein (1923); InderWeltSein (1924), ZuSein (1925), Exsistenz (1926), Transzendenz (19271929). Dieser Aufzählung fügt Kisiel nach Sein und Zeit Inständigkeit (1931), Brauch (193638), Verhältnis (1946), Zugehörigkeit (1952) und Bezug (1954) hinzu.