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FORSCHUNG

Wittgenstein: Cavell untersucht Wittgensteins Kriterien


Stanley Cavell untersucht Wittgensteins Kriterien

Zweifellos ist der Begriff eines Kriteriums in Wittgensteins Philosophischen Untersuchun¬gen wichtig. Doch die Charakterisierung dieser Kategorien bleibt dunkel. „Ein ‚innerer Vorgang’ bedarf äußerer Kriterien’“ heißt es in § 371. Die WittgensteinExperten sind sich darin einig, diese Kriterien seien die Mittel, um die Existenz von etwas mit Gewissheit festzustellen – an prominenter Stelle stehen die Kriterien für Schmerzen. So sind Norman Malcolm und Rogers Albritton der Auffassung, die Philosophie Wittgensteins sei von der Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus dominiert, und Kriterien seien die Mittel. um etwas mit Sicherheit zu wissen, etwa dass jemand Schmerzen hat.

Der amerikanische Philosoph Stanley Cavell will in seinem Buch

Cavell, Stanley: Der Anspruch der Vernunft. Wittgenstein, Skeptizismus, Moral und Tragödie. 794 S., Ln. € 49.80, 2006, Suhrkamp

zeigen, dass Kriterien dies weder können noch in den Philosophischen Untersuchungen leisten sollen, im Gegenteil: die Kriterien „offenbaren die Wahrheit des Skeptizismus“.
Im Alltagsverständnis sind Kriterien Spezifikationen, die eine bestimmte Person oder Gruppe festlegt, um auf ihrer Grundlage zu klären, ob etwas einen bestimmten Status oder Wert hat. Wittgensteins Begriff weicht in wesentlichen Punkten davon ab:

 Es gibt bestimmte Praktiken – allen voran Wettbewerbe – , in denen die Kriterien ausdrücklich genannt sind, nach denen die Kandidaten beurteilt werden. An diese Kriterien lässt sich auch appellieren. Bei Wittgenstein gibt es dagegen keine Fälle, in denen er sich auf die Anwendung von Kriterien beruft, und es gibt keine getrennte Bühne, auf der man an die Anwendung von Standards appellieren könnte.

 In den Fällen, wo man sich auf ein Kriterium beruft, ist das fragliche Objekt eines, das irgendeiner Bewertung oder Klärung bedarf. Wittgensteins Kandidaten für ein Urteil sind nicht von dieser Art. Seine Gegenstände sind die gewöhnlichsten Dinge von der Welt: Jemand, der auf einem Stuhl sitzt, der eine Meinung hat.

Wittgensteins Meinung scheint die zu sein, dass all unser Wissen nicht bloß durch das bestimmt wird, was wir als „Beweis“ auffassen, sondern durch Kriterien. Ohne dass Kriterien die Anwendung von Begriffen regelten, würden wir weder wissen, was als Beweis für irgendeine Behauptung gilt, noch für welche Behauptung ein Beweis verlangt wird.
Was Wittgenstein zum Philosophieren treibt, ist die einfache Tatsache, dass bestimmte Wesen überhaupt Sprache haben. Deshalb sein Beharren auf dem Gebrauch von Wörtern sowie darauf, dass wir die Kriterien, in deren Licht wir sie gebrauchen, „aufgestellt“ oder uns auf sie „geeinigt“ haben. Cavell sieht in Wittgensteins Kriterien etwas, das notwendig der Identifizierung eines Gegenstands vorausgeht. Die Kriterien, die für Wittgenstein die Daten der Philosophie bilden, sind immer „unser“. Die Gruppe, die seine „Autorität“ bildet und die sich auf die Kriterien geeinigt hat, ist stets die Gruppe der Menschen als solche. Es stellt sich die Frage, wie ich denn an dem Aufstellen von Kriterien habe beteiligt gewesen sein könne, wo mir doch gar nicht bewusst ist, dass ich es war und ebenso wenig weiß, welches denn die Kriterien sind.

Wittgensteins Antwort müsste, so Cavell, den Nachweis erbringen, dass es tatsächlich Kriterien gibt und einräumen, dass niemand sie alleine hätte aufstellen können und dass jeder der daran Beteiligten weiß, welche es sind.

Wittgenstein sagt, dass unsere Kriterien das sind, was wir entdecken, wenn wir fragen: „Unter welchen Umständen oder in welchen besonderen Fällen sagen wir …?“ Es gibt einen Hintergrund durchgehender systematischer Übereinstimmungen unter uns, den wir nicht wahrnehmen. Wittgenstein nennt ihn manchmal Konventionen, manchmal Regeln. Es ist jedoch nicht klar, was es heißen würde, unsere Kriterien zu ändern und neue aufzustellen. Kriterien hängen bei Wittgenstein von der Übereinstimmung in der Lebensform ab, doch Lebensformen sind das, was „akzeptiert“ werden muss, sie sind „gegeben“. Die Übereinstimmung, nach der wir handeln, nennt er auch „Übereinstimmung in den Urteilen“, und es sieht so aus, als hinge unsere Fähigkeit, Kriterien aufzustellen, von einer vorausgegangenen Übereinstimmung in den Urteilen ab. Die Berufung auf Kriterien ist bei ihm aber auch eine Weise, „Urteile zu klären“. Aus diesem Grund kann es den Anschein haben, dass Kriterien Urteile mit Gewissheit ausstatten. Vielleicht soll Wittgensteins Berufung auf Kriterien die erstaunliche Tatsache zu Bewusstsein bringen, dass wir in einem erstaunlichen Maße tatsächlich im Urteil übereinstimmen. Da die uns gegebenen Worte ihre Bedeutung nicht von Natur aus haben, neigen wir zu der Annahme, ihre Bedeutung beruhe auf Konventionen. Doch keine gängige Vorstellung von „Konventionen“ könnte das leisten, was Worte leisten, dazu müsste es zu viele Konventionen geben.

Sich auf Kriterien zu berufen ist keine Weise, die Tatsache zu erklären, dass wir in unserer Sprache und in unserer Lebensform aufeinander eingestellt sind, es ist bloß eine andere Beschreibung dafür. Wir berufen uns darauf, wenn unser Aufeinander Eingestelltsein in eine Krise gerät. Auf offizielle Kriterien beruft man sich, wenn Bewertungsurteile dargelegt werden müssen; auf Wittgensteinsche berufen wir uns, wenn wir „nicht wissen, wie weitergehen“, wenn wir ratlos sind. Wittgensteins These lautet: die Philosophie ist der Grund dafür, dass wir uns selbst verlieren, und Philosophie ist die Therapie der Philosophie.

Die Enttäuschung über das Versagen (oder die Grenzen) des Wissens war genauso ein Motiv für Wittgensteins Untersuchung als das Staunen über die Erfolge des Wissens. Sein Werk vermittelt aber zugleich den Eindruck, an der menschlichen Fähigkeit, etwas zu wissen, sei überhaupt nichts problematisch, mit unserem Leben sei alles in Ordnung. Einzig im Skeptizismus sieht Wittgenstein eine ständige Bedrohung unseres Denkens und unserer Kommunikation. Die Philosophen der Alltagssprache – Wittgenstein und Cavell sind solche – reagieren auf die vorgebrachten Gründe des Skeptikers, indem sie einen Ausdruck, den dieser verwendet, aus dem Zusammenhang lösen und fragen: „In welcher Situation würden wir diesen Ausdruck verwenden?“ Sie denken sich einen konkreten und relevanten Zusammenhang aus, der sich erheblich von dem Zusammenhang, in der der traditionelle Philosoph seine Gründe geäußert hat, unterscheidet. Dabei kommt der Philosoph der Alltagssprache dem Skeptiker wie ein Betrunkener vor, der seine Schlüssel beim Versuch, die Haustüre zu öffnen, hat fallen lassen und nun auf der Straße nach ihnen sucht, weil man bei Laternenlicht etwas besser findet. Aber der Philosoph der Alltagssprache behauptet, dass seine Fälle durchaus von derselben Art seien, nur klarer und fruchtbarer als die, die in den traditionellen Untersuchungen zu finden sind.

Mittels der Kriterien beziehe ich das, was geschieht, aufeinander, gebe dem Geschehen einen Sinn, indem ich ihm seine Geschichte zuordne. Wittgensteins Begriff von Grammatik und Kriterien soll die Übereinstimmung von Körper und Seele, Bewusstsein (Sprache) und Welt überhaupt bezeugen. Kriterien sind notwendig, damit wir die Existenz oder die Wirklichkeit von etwas wissen.