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FORSCHUNG

20. Jahrhundert: Die Ritter-Schule

20. JAHRHUNDERT

Die Ritter-Schule


Der Kreis um Joachim Ritter (19031974) habe „den philosophischen Konservatismus in der Bundesrepublik mit zeitgemäßen, intellektuell attraktiven Ausdrucksmitteln versehen“, schrieb Ulrich Raulff in der Süddeutschen Zeitung. Allerdings haftet der RitterSchule, zu der etwa Hermann Lübbe (geb. 1926), Odo Marquard (geb. 1928) und Robert Spaemann (geb. 1927) gehören, etwas Rätselhaftes an: Man weiß nicht so recht, was sie eint. Jens Hacke hat es nun übernommen, die intellektuelle Geschichte dieser Schule zu schreiben:

Hacke, Jens: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik. 323 S., Ln., € 39.90, 2006, Bürgertum Neue Folge, Studien zur Zivilgesellschaft Band 3, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.

Versöhnender Charakter

In den gängigen Philosophenlexika sind die Einträge zur Person Ritters spärlich; sein schmales Werk steht im Schatten ungleich prominenterer Generationsgenossen wie Adorno, Gehlen oder Gadamer. Ritter hat das berühmte „Historische Wörterbuch der Philosophie“ initiiert, mit diesem ist das „Collegium Philosophicum“ verbunden, dessen Mitglieder (und wiederum deren Schüler) eine Vielzahl von Artikeln für das Wörterbuch verfassten. Die Schüler berichten, dass sich der Kreis um Ritter sehr schnell bildete. Man traf sich in den späten 1949er Jahren in Ritters Wohnung, „wo sich, als Einrichtung der soeben wiedereröffneten Universität das Philosophische Seminar befand, für das es in der Trümmerlandschaft Münsters sonst keinen Raum gab“. Ritter war entgegen dem sonst vorherrschenden Standesdünkel der Ordinarien zur offenen Kommunikation mit seinen Studenten bereit, er schuf (auch im praktischen Sinne) die Räume dafür. Aureatisches Gehabe und elitäre Bewusstseinsbildung fand man bei ihm nicht. Vielmehr war er in besonderem Maße fähig, kontroverse Positionen nebeneinander existieren zu lassen. Der versöhnende Charakter seiner „Entzweiungsphilosophie“, die beinhaltete, Gegensätze und Brüche der Moderne auszuhalten und niemals für einen Denkweg absolut zu optieren, prädestinierte ihn für die Rolle des Vermittlers. „Er konnte sich zurücknehmen und war in besonderer Weise fähig, andere Auffassungen zu rezipieren“, erinnert sich Jürgen Seifert. „Das Realisieren eines solchen Ansatzes machte Ritter zum Garanten eines Freiraums des Denkens.“ Weniger durch charismatische Qualitäten als vielmehr durch vertrauensvolle persönliche Beziehungen und Fürsorge seinen Schülern gegenüber bewerkstelligte Ritter den Zusammenhalt seines Collegium Philosophicum. Seine weitläufigen Verbindungen zu anderen einflussreichen Intellektuellen der 1950/60er Jahre wie Helmut Schelsky, Carl Schmitt, Hans Freyer oder Arnold Gehlen, aber auch seine Bereitschaft, die Meisterschüler eigene Wege gehen zu lassen, unterstreichen die Offenheit des Kreises. Es gab aber durchaus auch Spannungen, etwa als im Sommer 1949 Lübbe, Gründer und Marquard Münster Richtung Freiburg, wo Heidegger lehrte, verließen.
„Der Kreis war kein unverbindlicher Diskussionsclub. Was ihn zusammenhielt, war … die Gemeinsamkeit von Fragestellungen“ beschrieb Spaemann rückblickend das Colle¬gium. Mit der aktuellen Diskussion vertraut war man schon dadurch, dass im Ritterschen Oberseminar wichtige Neuerscheinungen diskutiert wurden. Geprägt waren diese Rezeptions und Diskussionsprozesse von Ritters praxisbezogenem Fragestil, der mit der Frage „Was geschieht hier?“ die Erfahrung der Geschichte in den Mittelpunkt stellte. In dieser Herangehensweise war „Einsicht nicht ein Akt der Subsumtion, sondern: das Allgemeine wird in diesem Bestimmten hier erfahren“ beschrieb Karlfried Gründer die Methode Ritters. Diese historischhermeneuti¬sche Methode verbot eine Konzentration auf einseitiges systematisches Philosophieren und beförderte vielmehr eine historische Herangehensweise, die zunächst ein „Einfühlen“ in das jeweils Intendierte verlangte, bevor es zu einer Urteilsbildung kam. Dahinter stand das Bewusstsein von der Historizität jeder Semantik, die naivunreflektierten Sprachgebrauch ausschließt.

Seifert merkt zum intellektuellen Klima im RitterKreis ausdrücklich an, dass der anson¬sten gesellschaftlich dominante Antikommunismus hier nicht zum Zuge kam. Mit großer Unvoreingenommenheit wurde beispielsweise Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein und die Zerstörung der Vernunft rezipiert. Zentrale Bedeutung für diese Offenheit hatte die integrative und von den meisten Collegiaten akzeptierte liberale HegelInter¬pretation Ritters, die die Entfremdung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft von geschichtlicher Herkunft als etwas Positives, Befreiendes begreift. Der Ausgangspunkt dieser Hegelinterpretation hat zahlreiche Arbeiten der RitterSchule wesentlich geprägt – geschichtsphilosophisch und implizit auch politisch. Lübbe kolportiert die jeweils fällige Frage Ritters zur „Erweckung des Sinns für Unüberbietbarkeiten“, die lautete: „Was würde Hegel dazu sagen?“ Von außen wurde diese Omnipräsenz Hegels als konservativrechtshegelianisch wahrgenommen. Die meisten RitterSchüler empfanden sich jedoch in der Spätphase der Ära Adenauers als „progressiv“. Unter den Jungintellektuellen engagierten sich Lübbe, Böckenförde, Kriele und Seifert in der SPD, Gründer, Marquard, Lübbe und Vierhaus unterzeichneten im Juli 1958 den Aufruf „Christliches Gewissen und atomare Aufrüstung“, der sich gegen die „Aufrüstung der Bundeswehr mit Massenvernichtungsmitteln“ wandte.

Eine Vielzahl der Collegiaten wurde in der Zeit expansiver Hochschulreformen der 1960er Jahre zu Hochschulprofessoren. Ritters Engagement als Universitätsreformer kam ihnen dabei ebenso zugute wie die Tatsache, dass der mindestens ebenso einflussreiche Helmut Schelsky seit 1960 auch in Münster lehrte. Viele der RitterSchüler wirkten in bedeutenden Projekten und Gesprächskreisen. So spielten bei der Konferenzserie „Poetik und Hermeneutik“, 1963 in Gießen ins Leben gerufen und durch zahlreiche profilierte Tagungsbände bekannt, immer wieder RitterSchüler wie Marquard, Lübbe, Kriele, Gründer oder Spaemann eine wichtige Rolle. In den Evangelischen Akademien und anderen Tagungsrunden waren sie zugegen; für die großen wissenschaftlich engagierten Stiftungen waren sie als Gutachter tätig und den renommierten wissenschaftlichen Akademien der Bundesländer gehörten auch einige von ihnen an. Überdies waren Lübbe (19751978) und Marquard (19851987) jeweils Präsidenten der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland. Der umtriebigste unter den RitterSchülern, Hermann Lübbe, wurde nicht nur frühzeitig Staatssekretär in der nordrheinwestfälischen Landesregierung (19661970), sondern beriet – ebenso wie Spaemann – Landes und Bundesregierungen. Lübbes Einfluss war bis in die Reden von Helmut Kohl zu spüren, der Regierung Späth in BadenWürttemberg diente er jahrelang als Berater. ErnstWolfgang Böckenförde stieg auf bis zum Bundesverfassungsrichter; Martin Kriele war Richter am Verfassungsgerichtshof des Landes NordrheinWestfalen. Was Bestand hatte, war die Verbundenheit der ehemaligen Mitglieder des Collegium Philosophicum gegenüber ihrem Lehrer und auch untereinander.
Geschichtsphilosophie in kritischer Absicht

Eine verbindende Gemeinsamkeit besteht in der Beschäftigung mit der Geschichtsphilosophie in kritischer Absicht. Sie ist gleichsam der Einstieg in eine Haltung der Skepsis gegenüber jeglicher Art von moralischem und politischem Universalismus.
Die RitterSchüler wandten sich in ihren Arbeiten insbesondere der Epochenschwelle der Aufklärung und der Französischen Revolution zu, der von Koselleck später so benannten „Sattelzeit“. In ihr wurde die Genese des ideologischen Zeitalters nachvollzogen und gerade auch der Sonderweg des geschichtsphilosophischen und politischen Denkens in Deutschland problematisiert.

Überblickt man die Forschungsfelder der RitterSchüler, so fällt die Beschäftigung mit geschichtsphilosophischen Themen sofort ins Auge. Bereits Marquards Dissertation problematisiert die verschiedenen geschichtsbegrifflichen Optionen (Fortschritts , Bewahrungs, Möglichkeits, Wissenschafts und Endlichkeitsphilosophie) „im Blick auf Kant“. Dabei belegt er die Unmöglichkeit einer Festlegung Kants auf eine dieser Positionen ebenso, wie er die Vergeblichkeit jeder absoluten Geschichtsphilosophie insgesamt aufzeigt. Die konsequente Antwort des jungen Marquard ist hier schon in einer skeptischen Haltung begründet: „Die Philosophen haben die Welt zwar verschieden verändert, es kommt darauf an, sie zu verschonen.“ Marquards Ausgangsüberlegung, dass Metaphysik eine „Surrogatfunktion“ besitze, ist bereits begleitet von der Einsicht, die sein Werk schließlich dominiert: Die Geschichtsphilosophie muss analog zur Metaphysik als Fluchtverhalten vor der Wirklichkeit interpretiert werden.

Hermann Lübbe hat sich in seiner ungedruckten Habilitation über „Die Transzendentalphilosophie und das Problem der Geschichte“ mit den Geschichtsphilosophien Kants, Fichtes und Schellings beschäftigt. Robert Spaemann verfasste gemeinsam mit Karlfried Gründer den betreffenden Lexikonartikel „Geschichte/Geschichtsphilo¬so¬phie“ für das Lexikon für Theologie und Kirche, und seine Dissertation über den französischen Restaurationsdenker L.G.A de Bonald (1951) sowie sein früher Aufsatz zu philosophischen Strömungen der Gegenwart von 1959 behandeln geschichtsphilosophische Themen. Auch Karlfried Gründer ist immer wieder zu geschichtsphilosophischen Themen zurückgekehrt; bei den Juristen Kriele und Böckenförde spielt die geschichtsphilosophische Ausgangsposition eine wichtige Rolle.

Geschichtsphilosophie ist Geschichtstheologie, so lautet die verbreitete Interpretationslinie. Marquard sieht in der Theodizee den Keim geschichtsphilosophischen Denkens: Beschrieb die Theodizee ursprünglich die Rechtfertigung Gottes, verselbständigt sich das Theodizeemotiv zu einem Funktionalismus, nicht nur nach der Apologie bestehender Übel zu suchen, sondern Erklärungen und Verantwortungszuweisungen für historische Entwicklungen insgesamt zu finden. Die Konsequenz dieser Theodizeelogik ist, „dass eben gerade nicht Gott der Täter ist: nicht Gott ist anzuklagen, denn nicht Gott hat diese Welt geschaffen, sondern der Mensch“. Diese hypertrophe Wendung ist das Hauptthema von Marquards Interpretation einer „Radikalisierung der Theodizee zur Geschichtsphilosophie“, die den Menschen heillos überfordere. Skeptisch ordnet Marquard alle postgeschichtsphilosophischen Ideologeme und Weltanschauungen als „Schwundstufen“ geschichtsphilosophischen Denkens und damit als potentiell gefährlich ein. Vulgarisierte Weltanschauungen sind für Marquard um Begründung und innere Kohärenz verkürzte Formen des Geschichtsdenkens und beerben die Geschichtsphilosophie. Die Konsequenz ist freilich, dass sich gegenwärtige Philosophie nur noch auf Ideologiekritik beschränken kann, wenn sie glaubwürdig bleiben will. Der Abschied von der Geschichtsphilosophie ist insoweit als Entlastung von einer geschichtlichen Totalverantwortung zu verstehen, mit der sich der Mensch lange selbst überfordert hat.


Im Horizont des Historismus

Im Gegensatz zur dominanten Deutung Hegels als Philosoph des Fortschritts zur Freiheit und somit als Geschichtsphilosophen betonen Marquard und Lübbe den kritischen Gehalt der Hegelschen Geschichtsphilosophie: Hegels Sollenskritik und sein Verzicht auf die Identifizierung eines geschichtlichen Subjekts. Für Hacke ist die Rehabilitation Hegels durch Marquard und Lübbe aus zwei Gründen bedeutsam: sie setzt sich für eine Ehrenrettung des bekanntesten Exponenten der Geschichtsphilosophie überhaupt ein, und sie scheint deswegen contra intentionem zu verfahren.

Marquards Sympathie für Hegel rührt daher, dass dieser den Fortschritt weder mit einem präzisen Ziel belastet noch ihm ein verantwortliches Subjekt zuweist. Hermann Lübbe interpretiert Hegels Geschichtsphilosophie ähnlich, insbesondere stellt er ihren liberalen politischen Nutzen heraus. Da Hegel es vermeide, „ein Subjekt der Geschichte sozial und politisch zu identifizieren“, biete er keine Legitimation totalitärer Ansprüche.

Indem die RitterSchüler der Geschichte gegenüber eine unemphatisch pragmatische Perspektive einnehmen, bewegen sie sich bewusst provokant im Horizont des Historismus. Lübbe sieht seine Geschichtstheorie im Zusammenhang einer auf breiter Front erfolgten „Rehabilitierung des Historismus in seiner unüberholten wissenschaftstheoretischen und kulturellen Substanz“. Damit greift er in die Theoriedebatte der Geschichtswissenschaft ein und schlägt sich auf die Seite der Historisten Nipperdey und Koselleck. Er nahm damit eine unpopuläre Position ein, war es doch, wie Herbert Schnädelbach feststellte, „schwer vorstellbar, dass sich jemand positiv als Historist bekennt“. Insbesondere das neohistorische Beharren auf Narration und Individualität musste sich Kritik gefallen lassen. Odo Marquard hat ein anthropologisches Argument ins Spiel gebracht. Er sieht den Hi storismus als natürlichen Koalitionspartner der philosophischen Anthropologie, denn die Beschäftigung mit der Geschichte wird zum notwendigen, weil kompensatorisch unersetzlichen Mittel, die beschleunigten Modernisierungsprozesse auszuhalten. Sie besitzt Orientierungsfunktion im Blick auf Herkunft und Identität und vermag eine „Diätetik der Sinnerwartung“ zu befördern, indem sie den Sinn für Zufall, Schicksal und Alternativentwicklung schärft und den Menschen seine Endlichkeit akzeptieren lehrt. Kennzeichnend für den liberalen Gehalt des Historismus sind seine Relativierungen und sein Einstehen für die Pluralität von Geschichten. Die Geschichte ist für sie ein unverfügbares Freiheitsgeschehen, sie ist Schicksal; ein Geschehen aus menschlicher Freiheit, nicht ein a priori zur Freiheit führender Prozess. Sie kann und muss deshalb erinnernd erzählt und als Depositum menschlicher Geschichte je neu aktualisiert werden.

Lübbe und Marquard sehen in den Institutionen und Traditionen eine entlastende Wirkung sowie in Zugehörigkeit eine Orientierung gewährleistende Identität. Ihre Sorge gilt der Frage, wie sich der einzelne in einer Welt des beschleunigten Fortschritts bewähren und wie er sie überhaupt ertragen kann. Für Hacke offenbart damit ihr Geschichtsdenken in letzter Konsequenz doch eine Idealvorstellung des gemäßigten Fortschritts. Denn entfernt sich der „Weltlauf“ zu sehr von einem balancierten Ideal, so verschärfen sich krisenhaft die Probleme und Mängel derart, dass Kompensationen immer notwendiger werden. Die Kompensation von Erfahrungsverlusten, von Entfremdungsprozessen und von Fortschrittsnebenfolgen bildete über Jahre hinweg ein Schlüsselthema für die RitterSchüler und hat ihr Geschichtsverständnis wesentlich geprägt.

Die These von der kompensatorischen Rolle der Geisteswissenschaften war erstmals 1961 von Joachim Ritter entwickelt worden, und sie wurde wegen ihres konservativen Charakters vielfach kritisiert. So warf ihr Wolfgang Kersting vor, die Arbeitsteilung zwischen Geistes und Naturwissenschaften zu simplifizieren. Auch Habermas bezweifelte, dass Geisteswissenschaften eine kompensatorische Rolle übernehmen könnten, denn mit dem Hinweis auf ihre Funktion lasse „sich schwerlich die theoretische Geltung ihrer Inhalte begründen“: „Die geisteswissenschaftliche Musealisierung gibt den entwerteten Traditionsmächten ihre bindende Kraft nicht zurück.“

Die RitterSchule und der Nationalsozialismus

Bei Hermann Lübbe findet man keine eindeutige Positionierung zu den Streitfragen, die um eine historische Erklärung des Nationalsozialismus kreisen. Seine Schlüsselbegriffe Kontingenz, Identität und Kompensation scheinen dafür nicht geeignet. Lübbe ist aber der Ansicht, dass das vom Nationalsozialismus freigesetzte Zerstörungswerk ohne ideologische Motivation nicht verständlich ist: „Nicht ein gewöhnlicher krimineller Defekt hat hier wie auch in analogen Fällen politischer Großverbrechen die moralische Urteilskraft destruiert, vielmehr eine Großideologie, die den Verstand besetzt hält.“ Interessiert ist Lübbe aber an der Frage nach dem politisch angemessenen Umgang mit dem Nationalsozialismus.

Die RitterSchüler insgesamt werten den Nationalsozialismus als ideologische Destruk¬tion des common sense, der gemeinsamen Moral. Als „politische Religion“ sei er wirksam genug gewesen, die alteuropäische Tradition, Kultur und Moral außer Kraft zu setzen. Für Spaemann bietet sich der Nationalsozialismus dar „als revolutionäres Attentat auf eine von Athen und Jerusalem inspirierte, seit tausend Jahren sich entwickelnde europäische Gesinnung“. Er weist darauf hin, dass einfache katholische Bauern im Mün¬sterland Juden versteckten, weil für sie die Grundsätze der christlichen Moral und Näch¬stenliebe galten. Die Destruktion des „common sense“ durch die Ideologie sieht er in einem dreistufigen Prozess verlaufen: Zunächst engagierte sich der einzelne aus jugendlichem Idealismus oder schlichtem Opportunismus, dann geriet er in die politische Praxis, die die „Regeln gemeinen Rechts und gemeiner Moral in offenkundiger Weise verletze“, und schließlich könne die eigene moralische Identität nur dadurch bewahrt werden, „dass man an das zu glauben beginnt, dem man bislang opportunistisch nicht widersprochen hat“.

Die RitterSchüler sind auf verschiedenen Wegen

Odo Marquard agierte publizistisch in den 1970er Jahren noch im Schatten von Lübbe und Spaemann, entfaltete aber in den 1980er Jahren immer mehr Wirkung in der Öffentlichkeit.
Die RitterSchüler sind nun auf verschiedenen Wegen. Während Marquard und Lübbe auch nach Tschernobyl in ökologischen Fragen auf den technischen Fortschritt vertrauen, interveniert Spaemann auf seiten der Atomkraftgegner. Für ihn war die Nutzung der Atomenergie allein wegen des Entsorgungsproblems nicht vor der nachfolgenden Generation zu verantworten.
Ritters Institutionentheorie hatte den Rahmen vorgegeben, in dem sich die politische Philosophie seiner Schüler bewegte: die Gewährleistung von subjektiver bürgerlicher Freiheit durch Institutionen, die zugleich die Grundlage für sittliches Handeln schaffen. In den Institutionen der Bundesrepublik wird unausgesprochen die Hegelsche Sittlichkeit vorgefunden; die durch das Grundgesetz vorgegebene Ordnung bleibt für die Liberalkonservativen der normative Orientierungspunkt. Pendant für diese „Bürgerfreiheit“ ist die „Bürgertreue“, d. h. Institutionentreue, denn so bleibe „Freiheit mit Frieden verknüpft“ (Lübbe). Lübbe und Spaemann forcieren eine Reaktualisierung dezisionistischer Handlungslehren und argumentieren in der Tradition von Hobbes. Lübbe möchte über den Dezisionismus die parlamentarische Demokratie theoretisch rehabilitieren. Dabei unterscheidet er zwischen Normenbegründungs und Normendurchsetzungsverfahren. Erstes erfolgt in vier Schritten: 1. Übereinstimmung über das Verfahren, 2. Beschreibung der Konfliktsituation, 3. Diskussion von konfligierenden Theorien zur Lösung des beschriebenen Problems, 4. Formulierung einer für alle verbindlichen Norm (die zumeist auf einem Kompromiss beruht). Dieses Normenbegründungsverfahren ist für Lübbe eine Trivialität – und damit vorpolitisch. Mit knapper Geste kann er so die Diskurstheorie für überflüssig erklären.