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FORSCHUNG

Husserl: Geschichte des Leuvener Husserl-Archivs


Die Geschichte des Leuvener Husserl
Archivs

Wie Husserls Nachlass nach Leuven kam und wie sich das dortige HusserlArchiv entwickelte, dokumentiert der Band

Geschichte des HusserlArchivs/History of the HusserlArchives. Herausgegeben vom HusserlArchiv, 161 S., kt., 1997, Springer, Berlin/Heidelberg

Husserls Nachlass

Am 27. April 1938 starb Husserl im Alter von fast 79 Jahren in Freiburg im Breisgau. Am 15. August desselben Jahres traf der junge holländische Franziskaner Hermann Leo Van Breda in Freiburg ein. Er hatte die Absicht, Husserls nachgelassene Papiere zu inventarisieren und zu studieren. Van Breda war damals 27 Jahre alt und hatte gerade in Leuven den Grad eines Lizenziaten der Philosophie erworben.

Wenige Tage vor seiner Abreise von Leuven kam Van Breda der Gedanke, Husserls Nachlass eventuell zu veröffentlichen. Bei seinem Leuvener Lehrer fand dieser Gedanke auf offene Ohren. In Freiburg traf Van
Breda auf Husserls Witwe, die unerschütterlich an die philosophische Bedeutung des Werkes ihres Mannes glaubte. Alles, was nicht der Rettung seines Nachlasses vor der Zerstörung durch die Nazis diente, war untergeordnet. Überrascht war Van Breda jedoch vom Umfang des Nachlasses: 40'000 Seiten stenographische Handschriften, dazu etwa 10'000 Seiten Transkriptionen, handschriftlich oder maschinenschriftlich hergestellt von Edith Stein, Ludwig Landgrebe und Eugen Fink, Husserls früheren Assistenten. Eine Verarbeitung der stenographischen Dokumente war unmöglich ohne Kenntnis der Husserlschen Stenographie. Zwar hielt sich diese im allgemeinen an das sog. Gabelsberger System, mit dem viele Deutsche damals vertraut waren, doch im Laufe der Jahre hatte Husserl viele Abkürzungen erfunden.

Ganz spontan kam Van der Breda der Gedanke, in Leuven ein HusserlInstitut zu gründen, und er teilte dies Frau Husserl gleich mit. Nach kurzer Bedenkzeit war sie mit dem Plan einverstanden. In Leuven stieß seine Idee hingegen auf Skepsis: Das Institut für Philosophie sei nicht in der Lage, die mit einem solchen Institut verbundenen Lasten (vor allem finanzieller Art) auf sich zu nehmen. Allerdings ging es nun erst einmal darum, die Handschriften Husserls in Sicherheit zu bringen. Van Breda kam auf die Idee, dies von belgischen Botschaftsangehörigen im Diplomatengepäck tun zu lassen. Bevor er sich darüber weitere Gedanken machte, hatte Schwester Adelgunde Jägerschmidt aus dem LiobaKloster in Günterstal, die noch bei Husserl Vorlesungen gehörte hatte, einen anderen Vorschlag. Sie wollte die Papiere in eine Filiale ihres Ordens in Konstanz bringen, also in die Nähe der Schweizer Grenze. Da die Schwestern sowohl auf deutschem wie auch auf Schweizer Gebiet tätig waren, ergäbe sich dadurch Gelegenheit, den Nachlass nach und nach in die Schweiz zu bringen. Doch es zeigte sich, dass die Nonnen ohne weiteres bereit waren, die Handschriften bei sich aufzubewahren, nicht aber, sie über die Grenze zu bringen. So kam Van Breda auf den ursprünglichen Plan mit dem Versteck im Diplomatengepäck zurück.

Der Transport nach Belgien

Die belgische Botschaft in Berlin zeigte sich dazu bereit, Voraussetzung war allerdings, dass die Papiere im Besitz eines belgischen Staatsbürgers waren. Husserls Witwe hatte soviel Vertrauen in den jungen Priester, dass sie kraft ihrer Vollmacht Husserls Nachlass Van Breda übereignete. Gleichzeitig wurde ein zweiter Vertrag abgeschlossen, wonach diese Übertragung fiktiver Natur sei und der Nachlass, sobald er Deutschland verlassen habe, wieder im Besitz von Husserls Witwe sei. Nachdem auch der belgische Ministerpräsident sein Einverständnis gab, wurden die Papiere im Diplomatengepäck nach Belgien gebracht und waren bereits im November in der Leuvener Universitätsbibliothek.

Man reichte nun bei den belgischen Wissenschaftsstiftungen Gesuche um jährliche Unterstützungen ein. Man bekam schnell einen Beitrag zugesichert, um damit zwei Forscher (gedacht wurde an Landgrebe und Fink, die beide Husserls Schrift lesen konnten) zu beschäftigen. Der entsprechende Tag, der 27. Oktober 1938, darf deshalb als Gründungsdatum des Leuvener HusserlInstituts gelten.

Nun stellte sich die Frage der Emigration von Frau Husserl. Vorgesehen war eine Ausreise nach Amerika, doch die dortigen Behörden mauerten. Man nahm sie deshalb erst vorsorglich nach Belgien. Sie überlebte die deutsche Besetzung versteckt in einem bescheidenen Zimmer in einem Nonnenkloster bei Leuven. Das dortige Leben beeindruckte sie, und 1941 trat sie, eine Jüdin, zum katholischen Glauben über. Nach der deutschen Niederlage konnte sie zu ihrem Sohn nach Amerika reisen.

Ganz verschont blieb Husserls Nachlass von den Kriegswirren jedoch nicht. Im September 1940 wurde bei einem alliierten Bombenangriff ein Teil der Korrespondenz Husserls, darunter die an ihn gerichteten Briefe Martin Heideggers, zerstört.

Im Frühjahr 1939 kommen Fink und Landgrebe mit ihren Familien nach Leuven und néhmen die Arbeit an der Transkription der Texte auf. Nach dem deutschen Einmarsch müssen sie zwar in ihre Heimat zurückkehren, doch sie kommen 1942 wieder nach Leuven und setzen die Arbeit fort. 1946 gelingt es Van Breda, Gelder für zwei weitere Stellen zu erhalten. Walter Biemel, der bei Heidegger in Freiburg studierte hatte, kommt mit seiner Frau nach Leuven.

Van Breda gewährte allen interessierten Forschen ungehinderten Zugang zum Archiv. Dieser Politik ist das Archiv bis heute treu geblieben. Es entstanden dadurch viele wissenschaftliche Arbeiten, die auf die Bedeutung des Archivs aufmerksam machten. Besonders hervorzuheben ist das Interesse französischer Philosophen an Husserl. Der erste interessierte Besucher war MerleauPonty, danach der vietnamesische Philosoph TranTucThao. Beide erhalten, wie auch Ricoeur und später Derrida, Kopien transkribierter Texte. Bereits 1950 veröffentlicht Ricoeur eine französische Übersetung von Ideen I.

1957 gründen Gaston Berger, Paul Ricoeur, Jan Wahl, Jean Hyppolite und Merleau Ponty nach jahrelangen Verhandlungen in Paris das „Centre d’Archives Husserl“. Es wird erst von MerleauPonty, dann von Ricoeur und gegenwärtig von JeanFrancois Courtine geleitet.

Konkurrenz durch die Amerikaner

Aber auch die Amerikaner zeigen Interesse an Husserl. Der HusserlSchüler Marvin Faber gründet 1939 erst die „International Phenomenological Society“, ein Jahr später die Zeitschrift Philosophy and Phenomenological Research, die als Nachfolgeorgan von Husserls Jahrbuch für Phänomenologie und phänomenologische Forschung angekündigt wurde. Neben Fink, Landgrebe, Alfred Schütz, Hermann Spiegelberg und anderen gehört auch Husserls Sohn, der mit Faber in ständigem Kontakt ist, zu den Gründungsmitgliedern.

Dabei entwickelt sich Fabers Unternehmen zu einer Konkurrenz für Van Breda. Dieser will mit dem Druck derjenigen Manuskripte Husserls beginnen, von denen im Nachlass Abschriften vorlagen und die ohne große editorische Eingriffe druckfertig gemacht hätten werden können, aber insbesondere Fink und Landgrebe drängen auf die baldige Veröffentlichung von sachlich relevanten, zumeist späten und weithin unbekannten Manuskripten. Landgrebe schlägt eine kritische Bearbeitung dieser Manuskripte vor und zwar dergestalt, dass Texte Husserl, die zwar aus verschiedenen Zeiten stammen, aber dennoch einen thematischen Zusammenhang bieten, zusammengestellt und wo noch notwendig durch stilistische Eingriffe einander angepasst und mit Überleitungen und Kommentaren des Herausgebers versehen würden.

Fink wiederum möchte seine Erfahrungen aus der langen Zusammenarbeit mit Husserl in die Edition einbringen. Er hebt eindringlich hervor, „dass streckenweise Husserl bei schlechter Arbeitsdisposition in alte überwundene Denkvorstellungen zurückfällt, dass dann plötzlich das produktive Strömen der Gedanken beginnt, die subtilen Analysen an Präzision beginnen. Seitenlang können die Manuskripte bloße Schreibübungen sein, um zwischen Schlacken ausgebrannten Geistes plötzlich lebendiges Feuer aufglühen zu lassen“. Im September 1046 macht Fink Husserls Sohn, dem Nachlassverwalter, den Vorschlag, die HusserlManuskripte unter die Ägide der „International Phenomenological Society“ zu stellen. Nur Phänomenologen, die eine tiefgehende Kenntnis von Husserls Werk besitzen, sollen künftig mit der Herausgabe seiner Schriften betraut werden. Van Breda reagierte darauf zurückhaltend, aber mit diplomatischem Geschick. Er sieht eine Gefahr darin, dass die Arbeit des HusserlArchivs künftig einzig auf die Transkriptionsarbeit beschränkt und die eigentliche Forschungsarbeit in andere Hände gelegt würde. Nun kommt in dieser für das Leuvener Institut bedrohlichen Situation Husserls Witwe Van Breda zu Hilfe. Für sie ist der Vorschlag, dass „alle Manuskripte nach Amerika gehen sollten…. umöglich“, da „Van Breda durch tausend Mühen und Sorgen die Manuskripte vor den Bombenangriffen gerettet hat, von dem moralischen Rechte der Universität Louvain ganz zu schweigen, die Geld und Sorge für die Erhaltung der Manuskripte opferte“. Bei einem Besuch von Gerhart Husserl 1947 in Leuven kommt es zu einer Einigung. Husserl hat einen sehr guten Eindruck von Van Breda, und er lässt die Manuskripte in dessen Händen. Dieser verstärkt nun seine Bemühungen, das Husserl Archiv als eine international tätige Institution aufzubauen. In den folgenden Jahrzehnten kommen weitere phänomenologisch relevante Nachlässe hinzu, etwa derjenige des HusserlSchülers Fritz Kaufmann und der umfangreiche Nachlass von Franz Brentano, der dem Archiv in Form von Mikrofilmen übergeben wird. Viele Dokumente zum Lebens und Denkweg Husserls sowie zur phänomenologischen Bewegung sammelt Herbert Spiegelberg für das Archiv. 1967 beginnt Karl Schuhmann seine Arbeit im Archiv, er setzt diese mit seiner Frau Elisabeth Schuhmann fort.

Zweigstellen in Freiburg und Köln

1950 eröffnen Van Breda, Fink, Biemel, Landgrebe und Gerhart Husserl (der mittlerweile nach Deutschland zurückgekehrt ist) in Freiburg eine Zweigstelle des HusserlAr¬chivs, die „Internationale Forschungsstelle für Phänomenologie“. Sie soll nicht direkt an der Herausgabe der Werke Husserls mitarbeiten, sondern ein intensives Studium der Texte ermöglichen. Kopien aller Transkrip¬tionen werden dafür nach Freiburg gesandt. Wenig später wird auch ein HusserlArchiv in Köln gegründet. Auch dieses soll als Zweigstelle des LeuvenerArchivs den Zugang zum Nachlass Husserls ermöglichen. Leiter des Kölner Archivs ist über viele Jahre der GadamerSchüler KarlHeinz VolkmannSchluck, der von dem den von Leuven nach Köln gewechselten Walter Biemel in der Funktion eines „Hauptdienstmitarbeiters“ unterstützt wird. Landgrebe, der zuvor Ordinarius in Hamburg und Kiel gewesen war, übernimmt dann nach seiner Berufung an die Universität Köln 1956 zusammen mit VolkmannSchluck die Leitung des Kölner Archivs.

Direktor des Freiburger Archivs ist Fink und nach dessen Ausscheiden Werner Marx, der an der Freiburger Universität den Lehrstuhl von Husserl und Heidegger inne hat. Unter seiner Leitung wird nun auch in Freiburg eine aus den Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte HusserlEdition durchgeführt. 1971 beginnt Bernhard Rang mit der Arbeit an der Edition von Husserls frühen Aufsätzen und Rezensionen. Rang leitet das Freiburger HusserlArchiv bis zu seinem frühem Tod im September 1999. Gegenwärtig ist HansHelmuth Gander Direktor des Instituts. In Köln führt Landgrebe auch nach seiner Emeritierung das Archiv weiter, ab 1971 zusammen mit VolkmannSchluck und Elisabeth Ströker, später von Klaus Düsing und KlausErich Kaehler. Seit 2005 ist Michael Quante zusammen mit KlausErich Kaehler Direktor des Kölner Archivs.

Die Husserliana

Im März 1948 kommt es zu einem Vertragsabschluss mit dem holländischen Verlag Martinus Nijhoff (er wird Ende der 80er Jahre vom Kluwer Verlag übernommen und gehört heute zu Springer). Zwei Jahre später erscheinen die ersten beiden Bände der „Husserliana“: in einer Auflage von 300 Expl. als Husserliana Band I die Cartesianischen Meditationen. Dieser von Stephan Strasser bearbeitete Band enhält u.a. den Text des Vortrages, den Husserl im Februar 1929 an der Sorbonne in Paris hielt. Band II enthält die Idee der Phänomenologie, den ersten Teil einer Göttinger Vorlesung aus dem Jahr 1907.
Fast gleichzeitig bewilligt die UNESCO die Unterstützung des Archivs und der Edition; eine Unterstützung, die über mehrere Jahre anhielt und den internationalen Charakter des Unternehmens verdeutlicht.

Van Breda stirbt am 3. März 1974 unerwartet im Alter von nur 63 Jahren. Samuel IJsseling wird neuer Direktor. Er baut die internationalen Verflechtungen aus, ergänzt die „Husserliana“ durch eine DokumentenReihe und eine bei Meiner erscheinende Studienausgabe. Als wissenschaftlich Verantwortlicher für die Edition tritt ihm Rudolf Boehm zur Seite. 1997 folgt nach der Emeritierung von IJsseling Rudolf Bernet als Direktor.