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FORSCHUNG

Kritische Theorie: Adornos Radioprojekt

KRITISCHE THEORIE

Adornos Radioprojekt


1937 führte der österreichische Soziologe Paul Lazarsfeld in den USA ein RadioForschungsprojekt durch, das „Princeton Radio Research Project“. Er war ein Emigrant mit in den USA hoher wissenschaftlicher Reputation. Lazarsfeld bot Adorno, der dringend nach einem gesicherten Einkommen in den Staaten suchte, eine Mitarbeiterstelle innerhalb dieses Projektes an, und Adorno sagte zu. Die Autoren, die sich bislang mit diesem Lebensabschnitt Adornos beschäftigt hatten, kamen aus dem Umkreis der Frankfurter Schule, und ihnen zufolge ist Adorno an Lazarsfeld gescheitert.
Der Sozialforscher Fleck hat nun in seiner Arbeit

Fleck, Christian: Transatlantische Bereicherungen. Zur Erfindung der Sozialforschung. 578 S., kt., € 18.—, stw 1823, Suhrkamp, Frankfurt

die Quellen, vor allem auch die amerikanischen, aufgearbeitet und er kommt zum gegenteiligen Schluss: Adorno ist an sich selbst gescheitert.

Lazarsfeld hatte als Projektleiter die Aufgabe, Methoden zu entwickeln, um die „actual role of radio in the lives of listeners“ zu bestimmen. Er lernte Adorno vermutlich 1937 bei dem Kongress der Neopositivisten in Paris kennen, und er kannte Adornos Aufsatz „Zur gesellschaftlichen Lage der Musik“. Was er nicht wusste: Adorno und Hork¬heimer hatten sich mehrfach über ihn ausgetauscht und sich dabei über ihn abfällig geäußert.

Horkheimer hatte die Sache mit der Stelle organisiert, und er sandte Adorno am 20. Oktober 1937 ein Telegramm: „Teilweise Arbeitszeit bei neuem Radioproject Princeton University. Bereitzustellen wäre zweijähriges Einkommen insgesamt 400 Dollars monatlich gesichert.“ Horkheimer meinte gleichzeitig, keinesfalls dürfe er aber als Assistent Lazarsfelds tätig werden, sondern nur als eigenständiger Mitarbeiter. Der Grund: Horkheimer hoffte, dass sich Adorno dadurch besser in der akademischen und musikalischen Welt Amerikas etablieren könnte. Lazarsfeld wiederum erwartete von Adorno einen gewichtigen Beitrag zu seinem Projekt und forderte ihn auf, seine Arbeit noch vor der Ankunft mit ihm brieflich zu diskutieren. Es gehe zwar um empirische Forschungen, doch diese könnten durch vorgängige theoretische Überlegungen verbessert werden und Adornos Artikel in der Zeitschrift für Sozialforschung bildeten dazu eine gute Ausgangslage, allerdings müssten sie erweitert werden „toward an empirical research problem“ und „toward an actual execution of the field work“. Doch Adorno dachte nicht daran, das zu tun – er fuhr erst in Urlaub. Danach schickte er Lazarsfeld einen Brief des Inhalts, die theoriefreie Forschung sei eine Fiktion, zwischen Theorie und empirischer Forschung bestehe eine Wechselbeziehung, „eben jene Wechselbeziehung, die wir mit dem Ausdruck dialektische Methode zu bezeichnen pflegen“. Der Brief enthalte, kommentierte Fleck, „vertraute Techniken der












Paul Lazarsfeld

Überredung“. Und dort, wo er konkret werden sollte, greift Adorno zu Binsenwahrheiten. Er verspricht, „die geistige und ökonomische Kraft eines extensiven research works…dort einzusetzen, wo es sich wirklich lohnt, das heißt, wo man Resultate gewinnen kann, die ohne diesen Einsatz nicht zu gewinnen wären“ und meint dann, um von der empirischen Forschung wegzukommen, „um festzustellen, dass auf dem Radio die im Sinne der experimentellen Psychologie akustischen Typen mehr reagieren als die optischen, braucht man keine großen Forschungsapparate in Bewegung zu setzen“. Adorno, so Fleck, hatte sich auf diesem Gebiet nicht kundig gemacht, aber er hielt sich für klug genug, andere zu schulmeistern. Für ihn war die Sache klar: „Fürs Radio, wie für die politische Ökonomie insgesamt, sind die entscheidenden Aufschlüsse aus den Produktionsverhältnissen zu gewinnen, von dem der Konsum abhängt.“ Als konkreten Vorschlag zur empirischen Forschung schlägt Adorno einzig eine Analyse der Hörerbriefe vor.

Mitte Februar überquerte Adorno den Atlantik und besuchte am 26. Februar 1938 erstmals die Räumlichkeiten des Forschungsinstituts. „Mein erster Eindruck von den im Gang befindlichen Untersuchungen zeichnet sich nicht gerade durch viel Verständnis aus“, schreibt er an Horkheimer, „doch be¬griff ich soviel, dass es sich um das Ansammeln von Daten handelte“.

Lazarsfeld verhielt sich Adorno gegenüber sehr loyal und lobte ihn als hilfsbereiten Mitarbeiter. Adorno umgekehrt beanspruchte in einem Brief an Benjamin, bereits wenige Tage nach Arbeitsbeginn, die Gesamtleitung des Projektes übernommen zu haben.

Nach einigen Monaten überreichte Adorno Lazarsfeld seine ersten Arbeitsergebnisse, ein 160seitiges Manuskript, das diesen beinahe zur Verzweiflung trieb, denn der Inhalt war ihm unverständlich. Lazarsfeld monierte nun in einem langen Brief, Adorno verwende eine unnötig schwierige Sprache, er ignoriere die empirische Wirklichkeit zugunsten unbewiesener Einfälle, polemisiere gegen die vorgeblich amerikanische empirische Methode und missachte schließlich die einfach¬sten Regeln der Argumentation. Dennoch hielt Lazarsfeld an Adorno als Mitarbeiter fest, konnte ihn dann aber nicht mehr halten, als Adorno seinen Endbericht nicht ablieferte.

Erhalten geblieben ist das Manuskript des Vortrags „On a social critique of radio music“, den Adorno in einem Seminar des Projektes vortrug. Adorno wollte dabei zeigen, was mit Sozialkritik des Radios in Bezug auf Musik gemeint sein könne, und er wollte die methodischen Implikationen dieser Perspektive aufzeigen. Die herkömmliche Sichtweise, so Adorno, untersuche das Radio, indem es dessen Wirkung auf die Hörerschaft erfasse, Man setze Gruppen von Untersuchungspersonen einem bestimmten Stimulus aus und beobachte, wie sie darauf reagierten. Ihm gehe es aber vielmehr darum zu untersuchen, was gute Musik sei. Dazu müsse man von vier Axiomen ausgehen: Wir lebten in einer Gesellschaft der Waren; in dieser Warengesellschaft bestünde zweitens ein allgemeiner Trend zur Konzentration des Kapitals, was den freien Markt beschränke und zu einer immer höheren Standardisierung der Waren führe. Drittens, je stärker die gegenwärtige Gesellschaft damit zu kämpfen habe, in der existierenden Form weiterzubestehen, umso stärker werde die ideologische Gleichschaltung. Viertens zeichne sich die Gegenwartsgesellschaft durch einen steigenden Grad an Antagonismen aus. Im zweiten Teil erläutert Adorno seinen empirischen Zugang zur Radiomusikforschung. Er habe die Hörerpost einer ländlichen Rundfunkstation analysiert, die sich darum bemüht hätten, „serious music“ zu senden. Die Zuschriften hätten alle die Form eines „standardized enthusiasm“ gehabt, und das rühre daher, dass „the listeners were strongly under the spell of announce as the personified voice of radio as a social institution and his call to provide one’s cultural level and education by appreciating this good music”.

Die Gefahr der Willkür und Voreingenommenheit, der er sich durchaus bewusst sei, meinte Adorno durch das bannen zu können, was er „musicotechnological control of sociological interpretation“ taufte. Musik sei eine strenge Disziplin und enthalte keine willkürlichen Wertungen, sondern klare Aussagen über richtig und falsch. So könne eine richtig angewandte musiktechnologische Interpretation zeigen, dass leichte Populärmusikrichtungen wie Sweet und Swing im Kern dasselbe seien. Sein Ansatz und der des Forschungsprojektes erwiesen sich, obwohl sie antagonistisch zueinander stünden, als einander ergänzend, da beide sich mit demselben Material auseinander setzten. Was seine Perspektive zur Hörerforschung beitragen könne, sei die Ausarbeitung einer vorläufigen Typologie des Musikhörers. Diese Typologie erstrecke sich auf ein Kontinuum, das vom „expert listener“ bis zum „musically ignorant“ reiche. Die bislang durchgeführten Interviews hätten gezeigt, dass die beiden Extremtypen selten zu finden seien.

Für Fleck zeigt der Vortrag, dass Adorno gewillt war, seine Position im Lichte der ihm entgegengehaltenen Kritik zu modifizieren. Der Text exponiert aber zugleich auch die Eckpunkte, die Adorno keinesfalls bereit war, aufzugeben. Dazu zählt seine geradezu als szientistisch zu bezeichnende Auffassung der Musiktheorie. Dazu tritt der normative Gestus des Bildungsbürgers, der genau weiß, was in kulturellen Fragen gut und schlecht ist. Aber er war nun gewillt, seine „Theorie“ einer Art empirischen Prüfung auszusetzen, und er versuchte überdies, die empirische Arbeit durch den Entwurf einer Typologie voranzubringen, auch wenn weder klar ist, wie er bei der Typenbildung vorging ist noch, woher er das in sie Eingang findende Material her hatte.