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Die Zukunft Philosophischer Praxis

Ein Gespräch mit Heidemarie Bennent-Vahle, Thomas Gutknecht, Michael Niehaus und Thomas Stölzel

Wie sieht sich die Philosophische Praxis selbst, als Weisheit, Wissenschaft, Therapie oder als Beratung?

Thomas Gutknecht
: Wir haben eine Sprachregelung gefunden, wonach Philosophische Praxis „keine Therapie, sondern die Alternative zur Therapie“ ist. Von der Tradition her ist gesehen ist die Philosophische Praxis eher Kunst als Wissenschaft. Man kann das mit der Medizin vergleichen, mit dem praktizierenden Arzt, der zum einen einen wissenschaftlichen Hintergrund hat, der aber seine Tätigkeit in Bezug auf Personen ausübt. In diesem Sinne hat es Philosophische Praxis mehr mit Klugheit und Weisheit zu tun als mit Wissenschaft.

Gibt es gegen diese Einschätzung Widerspruch?

Thomas Stölzel: Formeln sind immer problematisch. Ich glaube zwar auch nicht, dass Philosophische Praxis Therapie ist, aber der Begriff Therapie ist ein sehr weiter und geht in verschiedenste Bereiche hinein. Philosophische Praxis kann sehr wohl eine gute therapeutische Wirkung haben, aber sie ist keine indizierte Therapie und arbeitet nicht mit dem Problemlösungsverständnis, wie es vielen Therapien zugrunde liegt. Philosophische Praxis ereignet sich im Dialog, gewissermaßen auf existentieller Augenhöhe, auf der Ebene der Ebenbürtigkeit. Hier hat sie nach meinem Verständnis am meisten mit dem Coaching gemein.

Heidemarie Bennent-Vahle: Man müsste sich die Frage stellen, ob nicht vieles von dem, was heute pathologisiert wird, so gesehen wird, weil der Fokus zu sehr auf das Einzelsubjekt verengt ist und damit der Einzelne zum Austragungsort gesellschaftlicher Problemlagen wird. Die Philosophische Praxis hat deshalb auch einen anderen Blick auf die Probleme des Einzelnen als die Therapie. Sie spannt den Bogen weiter, indem sie nicht nur das Einzelindividuum mit seinen persönlichen Problemen in den Blick rückt, sondern das Ganze unter einem Zeitgeistaspekt und einem gesellschaftlichen Aspekt betrachtet. Damit verändert sich auch die Gesamtbeurteilung: die Philosophische Praxis hat eine ganze andere Wahrnehmung.

Michael Niehaus: Ich möchte noch eine andere Unterscheidung einführen, die zwischen Profession und Lebensform bzw. -kunst. Von hier aus kommt man zur Unterscheidung zwischen der Form von Praxis, die jeder Philosoph für sich ausübt und im Sinne einer Lebensform auch lebenspraktisch im Alltag lebt und der Profession im Sinne einer spezifischen Berufstätigkeit. Letzteres können ganz verschiedene Formen sein, etwa Beratung oder Bildungsarbeit. Der entscheidende Punkt ist aber die Frage, ob sich Philosophische Praxis in das eine oder andere, also Profession oder Lebensform einsortieren lässt. Mein Standpunkt liegt dazwischen: Philosophische Praxis bewegt sich immer zwischen den beiden Polen und ist deshalb so schwer zu fassen.

Thomas Gutknecht: Dieses Zwischen ist mir sehr sympathisch. Der Philosoph sitzt gewissermaßen zwischen allen Stühlen.

Und wie steht die Philosophische Praxis zur Weisheit?

Michael Niehaus
: Weisheit im Sinne einer Lebensform, als Lebenskönnerschaft und Lebensklugheit.

Heidemarie Bennent-Vahle: Weisheit ist zwar ein schöner Begriff, aber doch etwas hoch gegriffen. Ich werde immer ehrfürchtig, wenn ich ihn höre. Die spezifisch philosophische Lebensform hat viel damit zu tun, dass man im Hinblick auf die Aneignung des eigenen Lebens in einem unabschließbaren Prozess ist. Man hat nicht ein bestimmtes Problem, für das man einen Experten hinzuziehen kann, der einem eine Lösungsstrategie vorschlägt. Die philosophische Lebensform, an die ein Berater einen höchstens heranführen kann, die liegt darin, dass man so etwas wie eine Klärung der eigenen Willenslage vornimmt, um sich sein eigenes Leben auf diese Weise aneignen zu können. Das ist ein unabschließbarer Prozess: Man kommt nicht an einem Punkt an, an dem man sagen könnte, ich habe mich selbst verwirklicht, sondern man bleibt auf dem Weg.

 

 


Thomas Stölzel: Beraten hat im Deutschen zwei Bedeutungen: Man kann jemanden beraten (hier gibt es ein großes Angebot an Ratgeberliteratur), und man kann sich mit jemandem beraten. Bei letzterem gibt es kein Fachwissen im eigentlichen Sinne, es ist vielmehr eine Form von Dialogoffenheit, eine Form von Beratung, die zur Mündigkeit und – im kantischen Sinne – zum Selbstdenken führt oder gar zwingt.
Was den Begriff Weisheit betrifft, so sehe ich hier eine Aufforderung, sich achtsam und aufmerksam zwischen Anmaßung und genuinem Potential zu bewegen. Eine wesentliche Möglichkeit Philosophischer Praxis bestünde meines Erachtens darin, Menschen bei der Entfaltung ihrer persönlichen Weisheitsfähigkeit zu unterstützen: sie philosophisch zu sich selbst zu führen. Das sollte nicht nur in Beratungs-, sondern kann auch in Bildungskontexten und vielen anderen gesellschaftlichen Prozessen geschehen.

Thomas Gutknecht: Gernot Böhme hat in seinem Buch Weltweisheit, Wissenschaft und Lebensform die Lebensform deutlich von der Weisheit unterschieden. Lebensform bedeutet hier, dass jemand als Philosoph gelassen lebt und aus dieser Gelassenheit heraus Rat zu geben vermag. Das wird unterschieden von der Weisheit, die im kantischen Sinn im Unterschied zur Wissenschaft die Philosophie in sensu cosmico darstellt.

Welche Formen Philosophischer Praxis gibt es, und welche haben Zukunft?

Michael Niehaus: Ursprünglich wurde Philosophische Praxis analog zur psychoanalytischen Praxis gesehen, als ein wie auch immer geartetes Vier-Augen-Gespräche in einer freiberuflich betriebenen Beratungspraxis. Dieses Setting hat sich erweitert, es gibt mittlerweile auch andere Formen Philosophischer Praxis, die gleichberechtigt neben dieser Ausgangsform stehen.
Ich denke dabei an die Bildungsarbeit, aber auch an beratende Tätigkeiten in anderen Formen. Stichworte sind hier Unternehmensberatung und Organisationsentwicklung. Es sind dies Formen Philosophischer Praxis, in denen man nicht mit Einzelpersonen, sondern mit und in Organisation arbeitet.
Für mich ist auch die Frage wichtig, wie Philosophische Praktiker als Angestellte in anderen Berufen tätig sein und dabei authentisch als Philosophen arbeiten können. Als eine Art „Undercover-Philosophen“ schaffen sie sich dort einen Freiraum, um die zentralen, die wichtigen Fragen zu stellen. Sie tragen zwar nicht immer das Schild „Philosoph“ auf ihrer Brust, aber durch ihr Wirken, durch ihr Handeln wirken sie als Philosophen.

Thomas Gutknecht: Ich kann das nur bestätigen. Ich selber bin noch in der Schule tätig und kann in der von Michael Niehaus genannten Weise dort als Philosoph einwirken.

Heidemarie Bennent-Vahle: Man kann sicher in all diesen Bereichen philosophisch arbeiten, aber ich denke, es ist unterschiedlich schwer. Es gibt Bereiche, die sind weniger von Handlungszwängen geprägt, während andere, etwa in Unternehmen, stark auf Effektivität ausgerichtet sind. In letzteren Bereichen ist es schwierig, einen Raum zu schaffen, in dem grundsätzliche Probleme überdacht werden können.

Thomas Gutknecht: Überall dort, wo Emanzipationsprozesse stattfinden, kann man von Philosophischer Praxis sprechen. Man kann auch eine Beteiligung an politischen Emanzipationsbestrebungen durchaus als Philosophische Praxis sehen. Überall wo Freiheit ins Spiel kommt, handelt es sich um genuine Philosophische Praxis.

Heidemarie Bennent-Vahle: Doch es bedarf einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Analyse, um sich gerade in solchen Bereichen einer Vereinnahmung zu entziehen. Ich denke, dass gegenwärtig viele Dinge als Freiheitspraxis vermittelt werden, die dies in dem eigentlichen Sinne nicht sind, dass sie die solidarische Dimension nicht im Blick haben. Damit meine ich alle möglichen Projekte, die darauf ausgerichtet sind, die Kreativität, die Kommunikationsfähigkeit des Einzelnen und die Authentizität zu befördern. Diese sind vielfach von marktorientierten Tendenzen in der Gesellschaft vereinnahmt.

Wie steht es denn mit der Beziehung Philosophischer Praxis zur Theorie?

Heidemarie Bennent-Vahle
: Man muss als Philosophischer Praktiker immer theoretisch wachsam bleiben. Man kann nicht nur Praktiker sein, sondern man muss sich auch mit der Gesellschaftstheorie beschäftigen.

Thomas Stölzel: Angenehm an der Philosophie ist ja, dass sie sich zumindest längerfristig nicht domestizieren lässt. Manchmal ist sie von Ideologien vereinnahmt worden wie im Christentum oder im Kommunismus – aber nur für eine bestimmte Zeit. Die Philosophie hat etwas Freiheitsstiftendes an sich.

Thomas Gutknecht: Theoriearbeit ist für einen Praktizierenden Philosophen sehr wichtig, und er muss die Theorieentwicklungen mitverfolgen. Hinzu kommt, dass man noch eine Theorie der Philosophischen Praxis braucht. Es geht nicht nur darum, als kritischer Philosoph das Leben in der Gesellschaft zu begleiten, sondern es braucht auch eine kritische Theorie der Philosophischen Praxis.

Zurück zum Freiraum, um philosophische Fragen zu stellen: Gibt es Firmen, die einen solchen Raum zur Verfügung stellen?

Thomas Stölzel
: Ich arbeite mit Führungskräften, und da spüre ich ein wachsendes Interesse. Ein wichtiges Feld bildet die Selbstsorge. Die Philosophische Praxis kann hierbei stark beanspruchte Berufsgruppen (ich denke neben Führungskräften auch an Ärzte), die sich der Herausforderung gegenüber sehen, sehr viel Fremdsorge leisten zu müssen, nachhaltig unterstützen. Die Selbstsorge stellt so gesehen ein genuines Arbeitsfeld Philosophischer Praxis dar. Wir werden als Philosophische Praktiker nicht um eine Halbdurchlässigkeit zur Psychologie und Psychotherapie herumkommen. Alle Techniken zur Selbstsorge (wie sie seit der Antike entwickelt worden sind) befinden sich in der Nähe zu Psychologie und Psychotherapie, sind aber nicht darauf zu begrenzen. Das zeigen auch die einschlägigen Forschungen von Hadot, Foucault und Schmid. Viel von dem, was uns heute psychotherapeutisch anmutet, war ehemals selbstverständlicher Teil der philosophischen Lebenspraxis. Gerade bei der Selbstsorge wird deutlich, dass – was Fragen der reflektierten Lebenspraxis betrifft – philosophische und psychologische Herangehensweisen sinnvoll zu verbinden sind. Innerhalb der Wirtschaft ist die philosophische Arbeit auch da wichtig und gefragt, wo es um Rahmenbedingungen, um Methoden und um Fragen des jeweiligen Selbstverständnisses geht.

Gibt es noch andere Bereiche der Philosophischen Praxis, über die wir nicht gesprochen haben?

Thomas Gutknecht
: Es gibt das Philosophieren mit Kindern, es gibt das Philosophische Cafe…

Thomas Stölzel: Es gibt noch die Philosophische Seelsorge im Krankenhaus, die Arbeit mit alten Menschen. Überall dort, wo menschliche Wachstumsmöglichkeiten gefragt sind, kann es Philosophische Praxis geben.
Wie hat sich die Philosophische Praxis in den letzten Jahren verändert?

Michael Niehaus: Es ist kein einheitlicher Trend festzustellen. Allerdings hat die Zahl der Philosophischen Praxen zugenommen, im deutschsprachigen Raum kann man gegenwärtig zwischen 200 und 250 solcher Praxen zählen. Aber man muss sich dabei natürlich stets fragen, was dahinter steht. Man müsste genauer wissen, welcher Art von Praxis dies ist und in welcher Form und Intensität Philosophische Praxis ausgeübt wird. Die reinen Zahlen sagen nicht allzu viel aus.

Thomas Gutknecht: Manche haben nur ein Schild an der Tür und die beraten vielleicht im Monat zweimal, andere haben in der Woche fünf bis sechs Beratungsgespräche, andere führen philosophische Reisen durch.

Heidemarie Bennent-Vahle: Wenn man die Sache von der anderen Seite aus betrachtet: Wie bekannt ist denn die Philosophische Praxis als Beratungsform? Sie ist auf jeden Fall nicht so bekannt, dass man als Philosophischer Praktiker nicht andauernd erklären müsste, was es damit auf sich hat.

Hängt dies vielleicht damit zusammen, dass auch nicht so bekannt ist, was die Philosophie überhaupt ist?

Heidemarie Bennent-Vahle: Bekannt schon, aber in einem sehr oberflächlichen Sinn. Es beschränkt sich darauf, dass es sich um etwas handelt, wo man schwierige Fragen stellt. Das Etikett „Philosophischer Praktiker“ löst zudem bei vielen Menschen Berührungsängste aus. Ich habe dieses Problem andauernd bezüglich der Gesprächskreise. Die Leute sagen, da komm ich nicht hin, das ist zu schwierig, da blamier ich mich.

Thomas Stölzel: Im Rückblick sagen aber dann viele: ich hätte nicht gedacht, dass Philosophie so viel Spaß macht und dass Philosophie so nützlich sein kann; ich möchte das weitermachen.

Michael Niehaus: Was die angesprochene Veränderung betrifft: Mein Eindruck ist der, dass sich das Spektrum der Angebote weiter ausdifferenziert. Wir haben vermehrt auf spezifische Bedürfnisse zugeschnittene Angebote, sei es im Gesundheitssystem, sei es Führungskräftecoaching, sei es Ethikberatung. Einzelne Praktiker haben in diesen Bereichen ein spezifisches Profil entwickelt.

Geht die Zukunft in diese Richtung?

Thomas Gutknecht: Das sind zugleich auch die Schwachstellen. Die Philosophische Praxis droht zu einer Einrichtung zu werden, die konkrete Bedürfnisse befriedigen will. Unter Umständen bleibt dabei das spezifisch Philosophische auf der Strecke.

Thomas Stölzel: Die Philosophie ist, wie ich gesagt habe, nicht völlig zu domestizieren.

Heidemarie Bennent-Vahle: Aber mancher Philosoph…

Thomas Stölzel: Dem kann ich nur zustimmen. Eine Gefahr sehe ich, dass man sagt: hier brauchen wir die Philosophie. Philosophie bekäme dann einen Werkzeugcharakter. Ich kenne dagegen viele, die im Coaching oder in der Wirtschaft arbeiten und die, wie Michael Niehaus ausführte, sagen: Philosophie ist in meiner Arbeit enthalten.

Aber bei Michael Niehaus arbeitet der Philosoph gewissermaßen subversiv.

Thomas Stölzel: Das gibt es auch.

Michael Niehaus: Jeder muss sich die Frage stellen, ob er philosophisch wirkungsvoller arbeiten kann, wenn er das Label „Philosophie“ auf der Brust trägt (und damit auch, wie gerade gesagt wurde, Menschen abschreckt) oder eben undercover arbeitet, quasi als trojanisches Pferd.

Thomas Gutknecht: Ich halte diese Aussage für problematisch. Undercover arbeiten würde eher das Philosophische verraten. Wenn der Praktiker überzeugend als Philosoph auftritt, hat er doch die beste Wirkung.

Thomas Stölzel: Die Philosophische Praxis sollte die Chance bekommen, sich zu bewähren. Das bedingt einen sorgfältigen Umgang mit dem Begriff Philosophische Praxis, der gleichermaßen anzieht wie erschreckt. Gute Erfahrungen habe ich damit gemacht, mit dem Begriff der Lebensform oder der Selbstsorge zu arbeiten und Philosophie als Untertitel zu setzen. Es kommt hier immer darauf an, mit wem man zusammenarbeitet und was man erreichen möchte.

Heidemarie Bennent-Vahle: Ich glaube, dass die gesellschaftliche Notwendigkeit philosophischer Praxis zunimmt. Im gesellschaftlichen Bereich ist vieles in Veränderung: die Arbeitsverhältnisse verändern sich, die Grenzziehung zwischen Privatleben und Berufsleben wird zunehmend aufgeweicht, und die gesellschaftlichen Rückzugsorte, an denen sich der Einzelne erholen konnte, verschwinden zunehmend. Je mehr diese verschwinden, neigen Menschen dazu, sich über die eigenen Kräfte hinaus auszubeuten. In dieser Situation entsteht die Notwendigkeit der Reflexion…

Thomas Gutknecht: …und der Bedarf an philosophischer Praxis wird immer größer. Aber es gibt noch zu wenig solide arbeitende praktizierende Philosophen. Es besteht die Gefahr, dass dieser Markt unter nicht seriös arbeitende (beispielsweise esoterische) Philosophen aufgeteilt wird und dann der Name „Philosophische Praxis“ einen schlechten Ruf bekommt. Dann kämen wir tatsächlich in eine Situation, wo der „wahre“ Philosoph inkognito tätig werden müsste.

Thomas Stölzel: Ich teile diese Einschätzung. So wie das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Psychotherapeuten und Psychologen war, könnte das 21. Jahrhundert dasjenige der Philosophen werden. Es zeigt sich beispielsweise auch an der anhaltenden Popularität von Autoren wie Precht, das ein großes Interesse an Lebensfragen besteht. Die Philosophische Praxis sollte mit diesem Interesse achtsam umgehen.

Heidemarie Bennent-Vahle: Gesellschaftliche Notwendigkeit erzeugt nicht zwangsläufig einen Markt.

Wie sieht es denn mit der Ausbildung zum Philosophischen Praktiker aus?

Thomas Gutknecht
: Wir müssen hier unterscheiden zwischen Aus- und Weiterbildung.

Sprechen wir über die Ausbildung.

Thomas Gutknecht
: Was heißt hier Ausbildung? Es geht um Bildung: Bilden tut man sich selber, und denken muss man auch selber. Man muss Anreize schaffen, dass die Leute Spaß am Denken bekommen. Man kann dies etwa in Form von Gesprächen tun. Der Philosophische Praktiker kann nicht ausgebildet werden, er muss selber gebildet sein. Man kann, etwa indem man Vorbild ist, dazu Anstoß geben.

Was ist denn ein gutes Vorbild?

Thomas Stölzel: Ich halte es durchaus für eine Aufgabe der „Internationalen Gesellschaft Philosophischer Praktiker“, sich ein klares und differenziertes Bild darüber zu machen, was das Curriculum einer solchen Ausbildung zum Praktiker betrifft. Diese Frage steht an.

Bleiben wir bei der Frage: Was ist ein gutes Vorbild?

Thomas Gutknecht
: Vorbilder sind die großen Denker der Geschichte, mit denen wir ins Gespräch kommen können, also Platon, Descartes, Kant usw. Vorbilder brauchen nicht Zeitgenossen sein.

Heidemarie Bennent-Vahle: Aber es geht nicht nur darum, sich theoretisch mit diesen Denkern auseinanderzusetzen, so wichtig dies auch ist. Die richtige Haltung des Beraters kann man nicht in einem Crash-Kurs lernen, sondern man muss bestimmte Haltungen, die vielleicht auch in diesen Philosophien dargelegt sind, durch das eigene Leben sozusagen erlebt haben.

Thomas Stölzel: Es geht nicht darum, dass man gegenüber vermeintlich großen Denkern sozusagen eine Froschperspektive bezieht …

Thomas Gutknecht: Wir nehmen den Großen gegenüber nicht eine Froschperspektive ein, sondern stehen sozusagen auf deren Schultern, um weiterzusehen.

Heidemarie Bennent-Vahle: Aber dabei darf man nicht denken, je mehr große Denker man kennt, umso höher steht man.

Michael Niehaus: Ich möchte zur Frage nach der Aus-, bzw. Weiterbildung zurückkommen. Neben der Auseinandersetzung mit den großen Denkern bedarf es auch einer wirklichen Praxis im Sinne einer Lebenspraxis. Der Philosophische Praktiker bzw. die Philosophie muss sich in den Anfechtungen des Lebens bewähren. Hier ist es Aufgabe der AusbildungsleiterInnen, Vorbilder zu sein mit ihrer Lebensform und Lebenskunst. Sie müssen in der Lage sein, Lebenspraktiken zu vermitteln. Dies kann nur in der Form des Übens geschehen. Bei einer Ausbildung zum Praktiker muss das Praktizieren im Mittelpunkt stehen und hier müssen angemessene Formen gefunden werden. Darin sehe ich auch die große Herausforderung für die Entwicklung eines Curriculums.

Ist von Seiten der „Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis“, was ein solches Curriculum betrifft, etwas in Arbeit?

Thomas Gutknecht
: Die „Gesellschaft für Philosophische Praxis“ hat in erster Linie die Sache der Philosophischen Praxis zum Thema, und man kann dort auch Mitglied sein, wenn man kein Praktiker ist. Aus diesem Grund hat sich aus der Gesellschaft selber ein eigentlicher Berufsverband organisiert, der die die Aufgabe hat, das genannte Curriculum zu entwickeln sowie die Professionalisierung der Philosophischen Praxis voran zu bringen.

Thomas Stölzel: Was die Ausbildung betrifft, so sollte diese unbedingt zwei Aspekte enthalten: Zum einen ist das, was in der Psychotherapie erarbeitet worden ist, zu berücksichtigen und zwar nicht als eine Para-Psychotherapie. Vielmehr sollte ein Philosophischer Praktiker, der das Wagnis eingeht, Einzelgespräche zu führen, ein entsprechendes Grundwissen, man kann es „Menschenkundigkeit“ nennen, haben. Zum anderen sollte er, wenn nicht traditionskundig, so doch traditionsverständig sein und zumindest diejenigen Klassiker, die praxisrelevant sind. kennen. Zwar kann ein Praktiker nicht die ganze philosophische Tradition kennen, aber er sollte die Texte, die die philosophischen Lebensformen betreffen, zum einen kennen, zum anderen aber auch an ihren Gehalten sichtbar machen können.

Was die Professionalisierung betrifft: Wie steht es mit der Beziehung zur akademischen Philosophie?

Thomas Gutknecht
: Ich beobachte bei der akademischen Philosophie gegenüber der Philosophischen Praxis zwei Haltungen: Die eine ist uns gegenüber aufgeschlossen, die andere ist eher hochnäsig und unterstellt von oben herab, dass diejenigen, die in der akademischen Philosophie scheitern, in der praktischen Tätigkeit eine Zuflucht suchen.

Wie ist das Verhältnis dieser zwei Haltungen?

Thomas Gutknecht
: Ich glaube, dass die zweite Haltung – leider – überwiegt. Aber ich denke, dass zeichnet die betreffenden nicht als Philosophen aus; es ist dies eher die Mentalität von Professoren und Lehrern.
Anders ist es bei denjenigen, die in einem persönlichen Verhältnis mit Praktikern stehen und wissen, was diese leisten. Ich kann hier einige namentlich nennen: Hans Krämer, Odo Marquard, Volker Gerhardt, Gernot Böhme und noch einige andere. Es sind dies alles renommierte Philosophen, und mit ihnen suchen wir das Gespräch.

Heidemarie Bennent-Vahle: Es gibt auch andere, die bei dem, was sie schreiben, einen Praxisbezug auf jeden Fall möglich machen. Ich denke hier etwa an Peter Bieri oder an Rahel Jaeggi mit ihrem Buch über Entfremdung. Es gibt eine ganze Reihe von Philosophen im akademischen Bereich, bei denen ich vermute, dass sie die Sache der philosophischen Praxis wertschätzen.

Thomas Gutknecht: Das Problem der akademischen Philosophie ist, dass diese ihre Themen sehr oft aus der Tradition bezieht und nicht, was meines Erachtens wünschenswert wäre, aus Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft. Viele Lehrstühle beziehen sich auf die Geschichte der Philosophie, und dabei bleibt der Lehrstuhlinhaber oft innerhalb der Textexegese und versteht es nicht, diesen für die Gegenwart fruchtbar zu machen.

Das ist doch bereits Vergangenheit, gegenwärtig werden Lehrstühle für Geschichte der Philosophie eher abgebaut …

Thomas Gutknecht
: Das ist aber auch wieder ein Problem. Lehrstühle für Geschichte der Philosophie sollten vielmehr ausgebaut werden. Aber deren Inhaber sollten die Perspektive der Philosophischen Praxis mit einbeziehen.

Jetzt entstehen überall neue Studiengänge. Ist schon daran gedacht worden, die Philosophische Praxis hier einzubringen?

Thomas Gutknecht
: In den romanischsprachigen Ländern ist das bereits der Fall. In Spanien zum Beispiel gehört Philosophische Praxis bereits beim Bachelor mit dazu. Das Problem dort ist aber das große Theoriedefizit punkto Philosophischer Praxis. Dann reicht schon ein Kursus über Seneca und die Absolventen denken, sie seien nun Philosophische Praktiker. Das ist weit unter dem Niveau, das die Philosophische Praxis theoretisch bereits erarbeitet hat.
Wenn in Deutschland Philosophische Praxis in einen Studiengang eingebracht werden sollte, muss alle diese Erfahrung, die in anderen Ländern bereits gemacht wurde, berücksichtigt werden. Irgendwelchen Schnellschüssen müsste ein Riegel vorgeschoben werden.

Thomas Stölzel: In der Schweiz, an der Hochschule für Soziale Arbeit in Olten, bin ich an einem CAS-Studiengang „Angewandte Philosophie im beruflichen Kontext“ beteiligt. Da wird auf einer fundierten Ebene – also nicht als Schnellschuss – philosophische Grundbildung bzw. Grundkompetenzen philosophischer Arbeit vermittelt. Es wäre wünschenswert, wenn Philosophische Praxis von den romanischen Ländern über Olten hinaus in die germanischen Länder Einzug hielte.

Thomas Gutknecht: In den skandinavischen Ländern besteht eine Verbindung zwischen Philosophischer Praxis und der universitären Ethik oder der Organisationsberatung in der Wirtschaftswissenschaft.

Alle vier Jahre macht die „Deutsche Gesellschaft für Philosophie“ einen großen Kongress. Die Philosophischen Praktiker fehlen da. Warum?

Thomas Gutknecht
: Wir waren auch schon dabei, aber für uns geht es dabei etwas zu akademisch zu. Unser eigentliches Anliegen kann nicht in einem Vortrag von dreißig Minuten dargelegt werden.

Heidemarie Bennent-Vahle: Aber man könnte versuchen, eine ganze Sektion zu bekommen.

Thomas Gutknecht: Es gibt sicher auch Defizite von unserer Seite her. Wir haben uns zu wenig darum bemüht. Das muss in Zukunft anders werden.

DIE TEILNEHMER DES GESPRÄCHS:

Heidemarie Bennent-Vahle ist Autorin mit Gastdozenturen an verschiedenen Universitäten und Fachhochschulen; Thomas Gutknecht ist Leiter des Logos-Instituts für Philosophische Praxis in Reutlingen und Präsident der „Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis IGPP“; Michael Niehaus ist Inhaber der Philosophischen Praxis „pro-phil“ in Dortmund. Thomas Stölzel ist als Philosophischer Praktiker, Systemischer Berater, Coach und Publizist tätig und lebt mit seiner Familie in Berlin. Die Fragen stellte Peter Moser.

Das Gespräch fand am 1. November 2010 in Wuppertal statt.