PhilosophiePhilosophie

ESSAY

Kobusch, Theo: Die Kultur des Humanen. Zur Geschichte der Idee menschlicher Freiheit

aus Heft 5/2010

Humanität – Vernunft und Freiheit des Menschen

Trotz zahlreicher, weit zurückreichender Wurzeln ist der Begriff des Humanen eine Frucht der Aufklärung. In seinen Briefen zu Beförderung der Humanität hat Johann Gottfried Herder die Humanität als einen umfassenden Begriff bezeichnet. Er beinhaltet zum einen Menschheit, verstanden als Gattungsname, zum anderen das „barmherzige Wort“ Menschlichkeit, die Menschenrechte, die ohne Menschenpflichten nicht gedacht werden können, die Menschenwürde, die dem Menschengeschlecht zwar aktuell „seinem größesten Teil nach“ nicht zukommt, aber doch Ziel der Bildung des „Charakters seines Geschlechts“ ist und schließlich die Menschenliebe. Humanität ist der Begriff, der all dies zusammenfasst. Er beinhaltet den „Charakter unseres Geschlechts“, der uns jedoch nur in Anlagen angeboren, gewissermaßen unfertig mitgegeben ist, damit er von uns auf der Welt ausgebildet und für uns das Ziel all unseres Strebens, die „Summe unsrer Übungen“ und „unser Wert“ sei.

In dieser Konzeption der Humanität wird der Mensch gedacht als jenes Wesen, das im Unterschied zum Tier über ein „Hauptgut“ verfügt. Das ist die Erkenntnis „unserer Kräfte und Anlagen, unseres Berufes und unserer Pflicht“, der Geist, der die Natur beherrscht, der sich selbst als Wille das Gesetz gibt, kurz: als Wesen der Freiheit, das sich selbst zu dem macht, was es sein kann. Herder sagt vom Menschen ausdrücklich: „Er konstituieret sich selbst“ und er konstituiert mit anderen Gleichgesinnten eine Gesellschaft. Der Mensch ist in diesem Sinne der moralischen, d.h. die Freiheit betreffenden Selbsthervorbringung der „erste Freigelassene der Schöpfung“, „er stehet aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm, er kann forschen, er soll wählen“.

Man hat mit Recht gesagt, dass hier der zentrale Gedanke der europäischen Aufklärung von der Autonomie des Menschen repräsentativ zum Ausdruck kommt. Auf diese Weise sind auch die zentralen Begriffe der Vernunft und der Freiheit in dem der Humanität eingeschlossen. Herder hat auch das ausdrücklich gesagt: „Ich wünschte, daß ich in das Wort Humanität alles fassen könnte, was ich bisher über des Menschen edle Bildung zur Vernunft und Freiheit, zu feinern Sinnen und Trieben, zur zartesten und stärksten Gesundheit, zur Erfüllung und Beherrschung der Erde gesagt habe: denn der Mensch hat kein edleres Wort für seine Bestimmung als er selbst ist, in dem das Bild des Schöpfers unsrer Erde, wie es hier sichtbar werden konnte, abgedruckt lebet“. Der letzte Satz ist eine Anspielung auf das Thema der Gottebenbildlichkeit des Menschen, das ebenfalls von zentraler Wichtigkeit im Werk Herders ist. Die enge Verbindung von Vernunft und Freiheit, die im Begriff der Humanität enthalten ist, repräsentiert die allgemeine Ansicht von der „Bestimmung des Menschen“.

Zur Bestimmung des Menschen gehört nach der Humanitätskonzeption der Klassik auch die Religion. Herder sagt ausdrücklich: „Endlich ist die Religion die höchste Humanität des Menschen“, insofern es zum Geschäft des Verstandes gehört, den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung wenigstens zu ‚ahnen’“. Die Philosophie war und ist insofern selbst Religion. „Dies ist der Gang der Philosophie, und die erste und letzte Philosophie ist immer Religion gewesen“.

Man braucht nur einen Blick auf das Werk von F. H. Jacobi zu werfen, um zu sehen, dass da derselbe Geist, ja derselbe Buchstabe waltet. Nicht nur, weil auch Jacobi das Wort Vernunft wie Herder von Vernehmen ableitet und daraus vielfältige Konsequenzen zieht. Vor allem bringt Jacobi in diesem Zusammenhag auch den Begriff der Person, bzw. der Persönlichkeit ins Spiel: „Was den Menschen zum Menschen, d. i. zum Ebenbilde Gottes macht, heißet Vernunft. Diese beginnet mit dem – Ich bin. Am Anfang war das Wort. Wo dieß inwendige – das sich selbst Gleiche aussprechende – Wort ertönt, da ist Vernunft, da ist Person, da ist Freyheit. Vernunft ohne Persönlichkeit ist Unding“. Jacobis Denken läuft eben darauf hinaus zu ergründen, was es mit den Fortschritten des Verstandes auf sich hat im Blick auf die Vernunft, d .i. die „Ausbildung der eigentlichen Humanität, also dessen, was „ausschließlich und allein den Menschen zum Menschen macht“.

Damit ist ein weiteres Stichwort gefallen, das einen Hauptgegenstand der Aufklärungsphilosophie bezeichnet, nämlich der Begriff des Menschen als Menschen. Chr. Wolff hat ihn als einer der ersten ins Zentrum der praktischen Philosophie gestellt, d. h. der Philosophia Practica Universalis, die ganz eng mit dem „Naturrecht“ von 1740 und den „Institutiones juris naturae et gentium“ von 1750 verbunden ist. Nach Wolff ist der Mensch als Mensch nichts anderes als der „homo moralis“, d. h. der Mensch als Freiheitswesen, dem als solchem bestimmte Rechte und Pflichten zukommen. Es ist eine der großen Errungenschaften des Naturrechts, diese Abstraktion, oder wie Wolff selbst sagt, diese nützliche Fiktion des moralischen Menschen, d.h. des Menschen als Menschen oder des Menschen als eines Freiheitswesens geleistet zu haben und die Bestimmungen zu benennen, die ihm als solchem zukommen.

 

 

Das antike Verständnis menschlicher Freiheit

Alle diese zentralen Bestimmungen dessen, was das Denken der Aufklärung die Humanität nennt, kommen innerhalb der Geschichte der Philosophie von weither, wie die Autoren auch selbst wissen, die sich oft, wie z. B. Herder, auf Mark Aurel oder andere antike Autoren beziehen. Es ist dies ein historischer Prozess, der die Entwicklung vom antiken zum neuzeitlichen Freiheits- bzw. Glücksbegriff oder inhaltlich: vom Autarkieideal zum Begriff der kommunikativen Freiheit beinhaltet.

In der vorchristlichen antiken Philosophie, in der man weder den Ausdruck des „Menschen als Menschen“ noch die Bedeutung des modernen Personbegriffs kennt, kommt die menschliche Freiheit in der Form der Entscheidungsfreiheit (Prohairesis) vor allem im Rahmen der umfassenden Glücksthematik in den Blick. Bei Aristoteles ist die Verbindung schon dadurch hergestellt, dass das Glück das letzte Ziel allen Handelns ist, welches selbst nicht ohne Prohairesis gedacht werden kann. Das Glück und damit auch die Freiheit in ihrer vollkommenen Form trägt aber den Stempel der Autarkie und der Bedürfnislosigkeit. Die Prädikate der Autarkie und Bedürfnislosigkeit, letzteres sogar als Gottesprädikat, scheinen von der Dichtung her in die Philosophie Eingang gefunden zu haben. Die Philosophie benutzt sie, um das göttliche Leben selbst, aber auch das gottähnliche Leben des Menschen zu charakterisieren. Autark und bedürfnislos ist das Glück bei Aristoteles aber – gewissermaßen – in vermittelter Weise. An drei entscheidenden Stellen seines Werkes, wo von dem göttlichen Glanz des menschlichen Lebens die Rede ist, wird nämlich zugleich auch darauf hingewiesen, dass der Mensch von Natur aus auf das „politische Leben“ hin angelegt ist, so dass das Leben in der Polis als die Erfüllung und Vollendung des naturhaft Gegebenen angesehen werden muss.

Das Glück als das vollkommene Gute für den Menschen bedeutet tatsächlich so viel wie Autarkie, nur darf dies nicht auf den Einzelnen beschränkt, sondern muss auf Eltern, Kinder, Freunde, Mitbürger, kurz: auf die Polis ausgedehnt werden (Eth.Nic. I 5, 1097 b7ff.). Darüber hinaus wirft das zentrale Kapitel IX 9 der Nikomachischen Ethik das Problem auf, ob der Glückliche, also der per definitionem autarke und bedürfnislose Mensch, der Freunde bedarf oder nicht. Der Mensch, der das Glück des politischen Lebens erfahren will, bedarf der Freunde und ist gleichwohl autark, insofern sein Freundschaftsbedürfnis im Leben des autarken Staates aufgehoben ist (EN 1169 b 17). Schließlich wird im ersten Buch der Politik gezeigt, dass das Handeln des Menschen in einem umfassenden Naturprozess eingebunden bleibt, insofern die „Natur“ jedes einzelnen Seienden und so auch des Menschen durch die Vollendung seiner Entwicklung, d.h. durch das Leben im autarken Staat erreicht wird (Pol. 1252 b30-1253 a4).

Doch das so politisch vermittelte Glück ist nur der zweitbeste Weg. Das theoretische Glück ist das wahrhaft Autarke und Bedürfnislose. Der Mensch kann dieses Glück nur erfahren, insofern etwas Göttliches in ihm ist, nämlich der Geist. Denn das Sein der Götter ist nichts anderes als solche in sich wertvolle, keines anderen bedürfende theoretische Tätigkeit. Aristoteles hat im 7.Buch der Politik in diesem Sinne das politische und das philosophische Leben einander gegenüber gestellt (Pol. 1324 a 32). Aus diesem Gedankengang des Aristoteles geht klar hervor, dass das eigentliche, höchste göttliche Glück darin besteht, autark und bedürfnislos zu sein, d. h. auch: zu seinem eigenen Glück nicht des Glücks des anderen zu bedürfen. Unabhängig zu sein, das ist von nun an die Losung der Philosophie für das, was Glück und Freiheit besagen sollen.

Noch deutlicher als bei Aristoteles kommt das in der Philosophie der Stoa zum Ausdruck. Sie hat dafür auch einen eigenen Terminus geprägt: den der autopragia. Allein der Weise ist in diesem Sinne des „unabhängigen Handelns“ frei, obgleich es sich um eine vom göttlichen Gesetz ermöglichte Unabhängigkeit handelt. Gegenüber Aristoteles wird die Lehre vom Glück im Sinne der Autarkie noch zugespitzt. Der Weise ist völlig autark, weil die Tugend allein es ist, die als notwendige und zureichende Bedingung für die Glückseligkeit anzusehen ist. Deswegen sagen die Stoiker, dass die Tugend allein hinreichend ist für das Glück. Die aber liegt in des Menschen Hand. Sie gehört zu dem, was „bei uns“ liegt. In diesem Sinne ist der Weise souveräner Meister seines Glücks, der absolut Freie. Von daher ist verständlich, wenn die Freiheit die „größte Frucht der Autarkie“ genannt wird oder – wie in Epiktets berühmter Freiheitsabhandlung – das „höchste Gut“.

Unbestreitbar gelangt die Entwicklung der antiken Freiheitsidee mit Plotins achtem Traktat der sechsten Enneade mit dem Titel Der freie Wille und das Wollen des Einen zu ihrem eigentlichen Höhepunkt. Plotin entfaltet in diesem Traktat, den H. Krämer „nicht nur für den höchsten Punkt der antiken Freiheitsdiskussion, sondern der antiken Philosophie überhaupt hält“, seine These, dass das Eine, das sich selbst das Sein gibt, ganz bei sich, aus sich selbst und durch sich selbst und daher in voller Freiheit, Autarkie und Selbstverfügung rein es selbst ist. Wenn dieser Traktat also repräsentativ für die antike Freiheitsauffassung steht, wird man konstatieren müssen: Freiheit ist im Verständnis der Antike Unbedürftigkeit, Autarkie, Durch-sich-selbst-Sein. Das moderne Prinzip kommunikativer Freiheit besagt gerade das Gegenteil: Freiheit bedarf anderer Freiheit.

Die christliche Philosophie hat die antike Idee der Freiheit im Sinne der Autarkie und Unabhängigkeit, die in Plotins Denken ihren krönenden Abschluss gefunden zu haben schien, noch einen Schritt weiter vorwärts getrieben. Origenes steht am Anfang einer innerchristlichen Entwicklung – in die auch Basilius, Gregor von Nyssa, Johannes Chrysostomus u. a. involviert sind –, in der die Freiheit auch in ihrer Unabhängigkeit von einer zugrunde liegenden „Natur“ oder einem vorausgesetzten „Wesen“ verstanden wird. Die These der christlichen Philosophie, die vordergründig gegen die manichäischen „Natur“- oder Prinzipientheoretiker, faktisch aber gegen die antike Philosophie insgesamt gerichtet ist, lautet: Nicht das Wesen bestimmt den Willen, sondern umgekehrt bestimmt die Freiheit das Wesen des Menschen. In diesem Sinne erklärt Gregor von Nyssa – der deswegen der Sartre der Antike genannt worden ist – : „Und wir sind gewissermaßen die Väter unserer selbst, indem wir uns selbst als die hervorbringen, die wir sein wollen, und durch unseren Willen uns nach dem Modell bilden, welches wir wollen“. Johannes Chrysostomus hat die allgemeine Ansicht auf den Punkt gebracht: Die Freiheit ist das Wichtigere gegenüber dem Wesen, und der Mensch ist mehr Freiheit als Wesen.

Das neuzeitliche Verständnis menschlicher Freiheit

Was das Menschliche am Menschen ist, wird in der Philosophie der Neuzeit trotz aller Rezeptionen und Renaissancen der antiken Idee doch grundlegend anders verstanden. Ein erster Hinweis ist das neue Verständnis des alten Begriffs der Person. Während der Begriff der Person in der Antike, sei es in ihrer Bedeutung als Maske, als Rolle oder auch – wie in der berühmten Persondefinition des Boethius – als die besonders ausgezeichnete individuelle Substanz im Reich der Naturdinge, stets Gegenstand der theoretischen Philosophie war, entwickelt sich die Person in der Neuzeit zu einem Hauptgegenstand der praktischen Philosophie, bzw. – mit besonderem Blick auf Kant und die Vorgeschichte, die bis ins Mittelalter zurückreicht – der Metaphysik des Praktischen, d.h. der Sitten. Deutlich ist diese Änderung z. B. an S. Pufendorfs neuer Grundlegung der praktischen Philosophie zu erkennen, die er seinem monumentalen Werk De Jure Naturae et gentium (1672) vorausgeschickt hat. Dort kritisiert Pufendorf die gesamte aristotelische Metaphysiktradition wegen ihrer einseitigen Ausrichtung an der Welt der Naturdinge, so dass die entia moralia nicht den ihnen gebührenden Platz in einer metaphysischen Betrachtung innehatten. „Viele haben sogar über dieselben nicht einmal nachgedacht“ oder sie aufs Schmählichste unterschätzt, sagt Pufendorf. Die Welt der entia moralia aber ist die Welt der Freiheit, die vom Bereich der Natur schon seit dem 12. Jh. terminologisch unterschieden wurde und als solche über die Aufklärungsphilosophie, darunter auch Rousseaus Unterscheidung zwischen être moral und être naturel, bis weit ins 19.Jh., ja bis in unsere Tage bewusst blieb. Das Zentrum dieser Philosophie der entia moralia ist aber die Lehre von der Person. Sie ist das eigentliche ens morale, das Wesen der Freiheit. Wie diese Tradition immer gesagt hat, ist die Person wesensmäßig auf andere Personen bezogen. Personen gibt es deswegen nur im Plural. Warum das so ist, ist in dieser Tradition relativ spät erst zu Bewusstsein gekommen. Es hängt mit dem zusammen, was die Person zu einer Person macht, nämlich mit der Freiheit selbst.

Kant hat uns zuerst diese Zusammenhänge sehen gelehrt. Nach seiner Lehre hat die Person, die per definitionem ein verantwortungsfähiges Wesen ist, absoluten oder unendlichen Wert, d. i. Würde, während der Sache nur ein endlicher Wert, ein „Preis“ zukommt. Die Wertschätzung des absoluten Wertes der Person, d. h. der Freiheit und genauer: der Autonomie heißt bei Kant die Achtung. Die Würde der Person ist immer nur im Modus der Achtung. Da, wo Würde ist, ist auch diese Form der Wertschätzung. Die Achtung konstituiert nicht die Würde, aber nur sie vermag sie zu erkennen. Kant sagt ausdrücklich: „Diese Schätzung giebt also den Werth einer solchen Denkungsart als Würde zu erkennen und setzt sie über allen Preis unendlich weg, mit dem sie gar nicht in Anschlag und Vergleichung gebracht werden kann, ohne sich gleichsam an der Heiligkeit derselben zu vergreifen.“ (GMS, AA IV 434).

Wenn aber so die Personen mit ihrem absoluten Wert, der in ihrer Freiheit gründet, immer nur im Modus der Achtung, d.h. der gegenseitigen Anerkennung sind, was sie sind, führt das zu einem – Kant sagt – ihnen anhängenden „sehr fruchtbaren Begriff“, nämlich dem des Reiches. Personen gehören zum Reich der Freiheit, das bei Leibniz u. a. auch Reich der Gnade, Reich der Zwecke und noch anders genannt wird. Wenn es nun einen Willen, d. h. eine Person gibt, die in diesem Reich keinem anderen Willen unterworfen und selbst nur gesetzgebend ist, so wird das heilige „Urwesen“, wie Kant in der Terminologie der Leibnizschen Metaphysik sagt, als „Oberhaupt“, nicht als Herr der Natur (obwohl es auch dies ist) gedacht werden müssen. Auf diese Weise führt die Freiheits- und Personenspekulation direkt zur Religion. Wie sagte noch Herder am Anfang unserer Überlegungen: Die Religion ist die höchste Humanität des Menschen.

Die Vorstellung von einem Reich der Freiheit, die erst im neuzeitlichen Denken belegbar ist, zeigt schon, dass der Freiheitsbegriff im Laufe seiner Entwicklung eine fundamentale Bedeutungsveränderung erfahren hat. Hegel war es, der diesem Begriff auch expressis verbis eine ganz neue Bedeutung gegeben hat. Dass dies in Form einer Metaphysik des Willens im Rahmen seiner Rechtsphilosophie geschieht, verwundert nicht. Denn dies Werk steht nach der Einschätzung von Zeitgenossen und auch nach Hegels Selbstverständnis in der Tradition der Pufendorfschen Ethica universalis, der Wolffschen Philosophia practica universalis, der Metaphysica moralis der Wolffschule (I. G. Canz, G. F. Meier), der Meta-Ethica A. F. Müllers und nicht zuletzt der Kantischen Metaphysik der Sitten, die, zusammen mit der Rechtsphilosophie Hegels, in der sog „Spekulativen Ethik“ des 19. Jh. ihre Fortsetzung fand.. Die Hegelsche Rechtsphilosophie ist ohne Zweifel auch eine Philosophie der Person, denn Hegel unterscheidet die drei Teile der „abstrakten Person“, der „Moralität“ und der „Sittlichkeit“ ausdrücklich auch als das „Recht der abstrakten Person“, das „Recht der besonderen Person“ und das „Recht beider zusammen“.

Person, das ist hier offenbar das, in dem die Freiheit erscheint, oder, wie später die Spekulative Ethik sagen wird: Die Person ist hypostasierte Freiheit. Grundlage für eine solche Lehre von der Person ist die in der „Einleitung“ zur Rechtsphilosophie entwickelte Metaphysik des Willens, die auch in terminologischer Hinsicht eine einzigartige Errungenschaft darstellt, insofern hier erstmals Willkür und Freiheit getrennt werden. Hegel hat es als den „ewigen Mißverstand“ bezeichnet, die Willkür und das Belieben für die Freiheit zu halten. Willkür und Freiheit sind vor allem durch den Inhalt des Wollens unterschieden. Was in der Willkür verwirklicht wird, sind die individuellen Interessen, die subjektiven Neigungen und partikulären Triebe. Der Inhalt des Wollens ist also in der Willkür notwendig etwas Zufälliges. So ist der willkürliche Mensch in Wirklichkeit von den von außen ihn bestimmenden Faktoren abhängig und nicht frei. „Ich bin also ebenso abhängig von diesem Inhalt, und dies ist der Widerspruch, der in der Willkür liegt. Der gewöhnliche Mensch glaubt frei zu sein, wenn ihm willkürlich zu handeln erlaubt wird, aber gerade in der Willkür liegt, daß er nicht frei ist“.

Der Inhalt des wahrhaften Willens dagegen ist etwas Allgemeines – „die Landstraße, wo jeder geht, wo keiner sich auszeichnet“ –, die Freiheit selbst. Das macht die wahre Freiheit aus, dass sie selbst immer nur allgemeine Freiheit, d. h. Freiheit für alle will, oder wie Hegel das sagt: dass “also die Freiheit die Freiheit wolle“. Für Hegel ist der Wille, „nichts zu wollen als sich, nichts zu wollen als die Freiheit“, das Sittliche selbst, aus dem sich die inhaltlichen sittlichen Bestimmungen ergeben. Das ist das Neue, das Umwälzende der Hegelschen Lehre, dass Freiheit nur da wirklich werden kann, wo sie als allgemeiner Inhalt, d. h. wo Freiheit für alle gewollt wird. Wer sagt, dass das Recht, die allgemeinen Gesetze, die sittlichen Normen oder die Institutionen sein Wollen beschränke, der meint das Wollen der Willkür, die in der Tat dadurch eingeschränkt wird, aber nicht die Freiheit, die durch das Wollen solcher allgemeiner Inhalte gerade erst realisiert wird. Deswegen hat die „echte Freiheit“ auch nicht das Notwendige als eine fremde und drückende Macht sich gegenüber, sondern als ein ihr innewohnendes Wesenselement in sich. Die Vorstellung, je meine Freiheit reiche so weit, bis sie durch die Freiheit der anderen eingeschränkt und begrenzt würde, ist deswegen auch ganz unangemessen. Denn auch sie belegt die Verwechslung mit der Willkür, die als eine an sich unendliche, auf alle möglichen Inhalte sich erstreckende Willensbewegung gedacht wird. In Wirklichkeit beschränkt sich wahre Freiheit selbst, weil sie die Freiheit der anderen nicht als etwas ihr Fremdes, sondern als den ihrem Wollen eigentlich zukommenden Inhalt will.

Man muss sich die historische Rolle und Bedeutung dieser Freiheitslehre deutlich machen. Sie ist die erste Konzeption, nach der Freiheit nicht mehr im Sinne der antiken Autarkielehre verstanden wird, sondern als kommunikative Freiheit. Hegel hat das in der Enzyklopädie im § 431 ganz unmissverständlich ausgedrückt: „So bin ich wahrhaft frei nur dann, wenn auch der andere frei ist und von mir als frei anerkannt wird“. Die andere Freiheit – das ist keine Beschränkung meiner eigenen, sondern eine Erweiterung derselben – das ist der große Gedanke, den diese Metaphysik des Willens hervorgebracht hat. In diesem kommunikativen Charakter wahrer Freiheit liegt das Aufeinanderbezogensein von Personen begründet. Das, was in der französischen Revolution „Brüderlichkeit“ genannt und im 19. Jahrhundert zuerst im französischen Sprachraum mit „Solidarität“ übersetzt wurde, ist kein eigentlicher Zusatz zum Gedanken der Freiheit, recht verstanden, sondern ergibt sich notwendig aus ihm. Das aber bedeutet, dass die Unterstützung anderer, das Beistehen in Not, die den Bedürftigen zukommende Hilfe nicht – wie der liberalistische Freiheitsgedanke insinuieren könnte – ein Hindernis oder eine Last für die Freiheit sind, sondern ein Wesenselement ihrer selbst. Deswegen ist das Reich der Freiheit immer auch die Welt des Sozialen.

Willkür und Freiheit: zwei Arten des Wollens

Die Hegelsche Unterscheidung zwischen Willkür und Freiheit ist jedoch nicht nur geeignet, den kommunikativen Charakter neuzeitlich verstandener Freiheit gegenüber dem Autarkieideal der Antike deutlich zu machen. Vielmehr birgt sie Einsichten in sich, die das Eigentümliche des menschlichen Wollens überhaupt betreffen und auch die aktuelle Diskussion um das Wollen mitbestimmen. Wie Hegel auch sagt, ist die Willkür „nur die unvernünftige Freiheit, das Wählen und Selbstbestimmen nicht aus der Vernunft des Willens, sondern aus zufälligen Trieben und deren Abhängigkeit von Sinnlichem und Äußerem“. Willkür ist das Wollen des Unmittelbaren. Demgegenüber ist wahre Freiheit das Wollen des Vernünftigen, des Vermittelten, des Ganzen. Die Willkür wird von Hegel als eine „Stufe“ der Freiheit begriffen. Sie ist jene „Stufe“, auf der der Geist von keiner Allgemeinheit weiß. Es ist die Eigentümlichkeit der menschlichen Freiheit, dass sie die Willkür als Moment ihrer selbst in sich trägt. Das liegt daran, dass hier – im Unterschied zum göttlichen Willen – „Sein und Sollen getrennt“ sind.

Das Stichwort der „Stufe“ zeigt an, in welchem Kontext wir uns mit einer solchen Freiheitslehre bewegen. Von „Stufen der Freiheit“ (gradus libertatis) sprachen schon Duns Scotus und auch Descartes, dessen Meditationen selbst solche Freiheitsstufen darstellen. Aber Hegels Unterscheidung zwischen Willkür und Freiheit weist – nicht terminologisch, aber dem Grundgedanken nach – noch weiter zurück in der Geschichte der Philosophie, nämlich auf Platons entsprechende Lehre. Im Dialog Gorgias trifft Sokrates im Gespräch mit Polos die Unterscheidung zwischen dem, was einem gut zu sein scheint und dem, was man wirklich will. Das Gutscheinende ist das unmittelbar Gewollte, das wirklich Gewollte aber ist das im Hinblick auf das ganze Leben Gute. Archelaos, die Verkörperung der Willkür, tut das ihm Gutscheinende. Sokrates zeigt, inwiefern das in Wirklichkeit Abhängigkeit und Unfreiheit bedeutet. Vernünftige Freiheit dagegen, so will Platon zeigen, weiß sich zu den unmittelbaren Wünschen und Bedürfnissen mit Abstand in ein Verhältnis zu setzen.

Hegels Unterscheidung zwischen Willkür und Freiheit stellt so einerseits die Rezeption dieser bedeutsamen, historisch vorgegebenen Freiheitslehren dar. Andererseits ist sie zugleich die Antizipation einer These, die in der aktuellen Diskussion eine bedeutende Rolle spielt. H. Frankfurt hat im Zusammenhang der Debatte um den Personbegriff die Unterscheidung zwischen Wünschen erster und Wünschen zweiter Ordnung zur Geltung gebracht, die selbst auf der augustinischen Lehre von der Reflexivität des Willens beruht. Ch. Taylor, der diese Unterscheidung aufgenommen hat, nennt die Wünsche zweiter Ordnung die „starken Wertungen“, die mit Blick auf das ganze Leben – im Sinne Platons – und mit Blick auf den moralischen Raum, d. h. die Welt der Freiheit überhaupt und die der anderen Menschen im besonderen, vorgenommen werden. Taylor kritisiert in seinem Buch Negative Freiheit in diesem Sinne Sartres Position der „radikalen Wahl“ als die Position der Willkür, die auf den „totalen Selbstverlust“ des Menschen hinauslaufe. Die starken Wertungen dagegen drücken im Sinne Platons aus, was wir wirklich wollen. Sie stellen die Wünsche erster Ordnung in einen größeren, umfassenderen Zusammenhang. In dieser Hinsicht sind sie die Verwirklichung von dem, was Hegel „vernünftige Freiheit“ nennt. Dieses vernünftige Wollen oder, wie es in der aktuellen Diskussion genannt wird, diese umfassenden Wertungen machen das aus, was der „Mensch als Mensch“ ist. Sie bilden jenen Horizont von Werten, jene Welt von Standpunkten, jene schon immer geltenden Überzeugungen, die eine Person zur Person machen. Ch. Taylor sagt: ohne sie würde eine Person zerbrechen. Sie sind das, was das moralische Verhalten einer Person möglich macht, das sich in moralischen Gefühlen wie der Scham oder der Empörung oder in moralischen Urteilen äußert. Die Person erhält so, wie der ursprüngliche Name des Prosopon es ausdrückt, ein Gesicht. Sie ist sichtbar gewordene Freiheit.

UNSER AUTOR:

Theo Kobusch ist Inhaber des Lehrstuhles für antike und mittelalterliche Philosophie und ihre Wirkungsgeschichte in der Neuzeit an der Universität Bonn.

Von der Redaktion gekürzte Fassung eines Vortrages bei dem Internationalen Symposium ‘Hat der Humanismus eine Zukunft’ / ‘L’Humanisme a-t-il un avenir’, das 2009 in Fribourg stattfand. Der Originaltext (mit allen Zitatbelegen und Anmerkungen) erscheint in : A.Holderegger / S.Weichlein / S. Zurbuchen (Hg.) : Humanismus. Sein kritisches Potential für Gegenwart und Zukunft, Schwabe / Fribourg Academic Press, Basel 2011