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BERICHT

Elisabeth List :
Feministische Philosophie: Frauen und globale Gerechtigkeit

Die Prinzipien der Gerechtigkeit sind immer schon als allgemeingültige, universelle Prinzipien gedacht worden, und sie gelten damit für den globalen Raum. Dass große Teile der Weltbevölkerung unter Bedingungen leben, die diesen Gerechtigkeitsprinzipien bei Weitem nicht entsprechen, von einer weltweiten Umsetzung dieser Prinzipien also keine Rede sein kann, hat nicht zuletzt der Prozess der Globalisierung ins öffentliche Bewusstsein gebracht. Eines der schwierigsten Probleme der Durchsetzung dieser Vorstellungen von Gerechtigkeit ist das der Geschlechtergerechtigkeit. Und die Forderung nach Geschlechtergerechtigkeit meint, aufgrund der weltweiten Situation von Frauen, in erster Linie Gerechtigkeit für Frauen.

Gibt es Wechselwirkungen zwischen Globalisierung und Geschlecht? Drei Gesichtspunkte sind hier zu beachten und zu unterscheiden:

- Erstens wirkt der Prozess der Globalisierung sehr ungleich auf die konkreten Lebens- und Arbeitsverhältnisse von Frauen. Dabei laufen vor allem Frauen in den Ländern des Südens Gefahr, zu den Verlierern der Globalisierung werden.

- Zweitens basiert dieser Prozess auf Ungleichheiten in der Situation beider Geschlechter, die lange vor dem Auftreten der Globalisierung entstanden sind.

- Drittens verändert Globalisierung auch bestehende Geschlechterarrangements, nicht nur als Auswirkung rezenter Wirtschaftskrisen, sondern auch durch Änderungen der internationalen Arbeitsteilung, durch Arbeitsmigration, durch Menschenhandel und durch Zwangsprostitution.

Umgekehrt bringt der Prozess der Globalisierung nicht nur neue Risiken, sondern auch neue Chancen für Frauen, neue Formen ökonomischer Teilhabe mit sich. Es stellt sich aber auch die Frage, ob die herkömmlichen Modelle und Konzepte der Moralphilosophie auf Fragen nach den Erfordernissen von Gerechtigkeit für Frauen ausreichende Antworten geben. Vorweg sei gesagt: Sie sind notwendig, aber nicht hinreichend, um alles zu sagen, was für globale Gerechtigkeit für Frauen von Belang ist. Dazu haben feministische Theoretikerinnen alternative Modelle entwickelt, ausgehend vom Konzept des Care, das aus Studien über das moralische Urteil bei Frauen hervorgegangen ist und als Konzept der Sorge eine neue Sicht von Ethik und Moral eröffnet hat.

Was heißt es, eine Frau zu sein?

Was ist eine Frau? Oder besser: Was macht Frausein aus? Diese Frage zu beantworten war ein zentrales Anliegen feministischer Theorien der letzten Jahrzehnte. Eine neue Generation von Feministinnen warf den Klassikerinnen der Frauenbewegung vor, sie hätten ihre Forderung nach Emanzipation mit dem Argument begründet, Frauen seien ebenso wie Männer vernunftbegabte Wesen und hätten deshalb als Bürgerinnen dieselben Rechte. Damit hätten sie, die Vordenkerinnen der Frauenbewegung, Frauen an den geltenden männlichen Wertvorstellungen gemessen und damit die den weiblichen Lebenszusammenhang bestimmenden Werte ignoriert. Die Antwort darauf war die Position eines Gynozentrismus, der Verteidigung weiblicher Werte und Lebenseinstellungen. Gegen ein solches, nun von Frauen festgeschriebenes „Wesen des Weiblichen“ entstand Kritik in den Reihen der Feministinnen selbst. Sie warfen ihren historischen Vorgängerinnen vor, sie hätten den Standpunkt von Frauen an der Kultur, dem Klassenstandpunkt, der ihrer eigenen Position entsprach, gemessen. Zugleich hätten sie, Frauen wie Harriet Taylor, die Partnerin von John Stuart Mill, Charlotte Perkins-Gilman, Virginia Woolf oder Simone de Beauvoir die Dienste anderer Frauen als Bedienstete und Hausangestellte als selbstverständlich in Anspruch genommen und dabei nicht bedacht, dass auch sie Frauen waren. Sie sprachen vom Standpunkt von Frauen als Angehörige der weißen Rasse, des bürgerlichen Mittelstands der USA und Europa, und damit vom Standpunkt eines ganz bestimmten Frauenbilds, nämlich des bürgerlichen Frauenbilds.


Die Kritik an einem neuen Essentialismus des Weiblichen speiste sich aus mehreren Quellen – dem Poststrukturalismus, und neuerdings aus den Stimmen der afro-amerikanischen Frauen. Gesammelt finden sich diese Argumente in Elisabeth Spelmans Buch The Inessential Women. Die Formulierung „als Frau“ sei das Trojanische Pferd des feministischen Eurozentrismus. Spelmann sieht dahinter die Annahme, dass alle Frauen Sexismus und Diskriminierung auf dieselbe Weise erleben und sie betont, dass Geschlechtsidentität immer in Verbindung mit anderen Parametern wie Rasse, Klasse und anderen kulturellen Aspekte gesehen werden muss. Das ist sicher richtig. Aber folgt daraus, dass die Erfahrungen von Frauen in jeder Hinsicht verschieden sind? Ist die Annahme, es gebe eine von allen Frauen geteilte Erfahrung des Frauseins ein Mythos? Hat diese von westlichen Feministinnen vorgetragene These den armen Frauen in den Ländern des Südens etwas zu sagen?

Susan Moller Okin hat diese Behauptung am Beispiel der armen Frauen im Süden einem empirischen Test unterzogen. Sie stellt zunächst fest, dass die angloamerikanischen politischen Theorien und die Entwicklungstheorien die Situation von Frauen des Südens lange ignoriert bzw. falsch eingeschätzt haben. Moller Okin fragt deshalb: Warum ist die Tatsache der Ungleichheit der Geschlechter so lange nicht beachtet worden? Warum ist es so wichtig, sie aufzugreifen? Welche Rolle spielt die Familie? Und was ist an politischen Maßnahmen nötig, um mehr soziale Gerechtigkeit für Frauen zu erwirken?

Zur ersten Frage meint sie, dass sowohl politische Theorie als auch die Entwicklungstheorien dem Geschlecht deshalb keine Aufmerksamkeit schenkten, weil für sie die Trennung des Öffentlichen – als der Sphäre des Politischen – vom Privaten eine Selbstverständlichkeit war. Die Familie, der Lebensraum von Frauen, war für Fragen der Gerechtigkeit nicht relevant, weil sie als Ort von Liebe, Altruismus und geteilten Interessen galt. Aus dieser Ausblendung der Familie aus dem Raum des Politischen erklärt sich die Unfähigkeit, geschlechtsbezogene Gegebenheiten als politische wahrzunehmen und im moralischen Diskurs zu reflektieren. In der rechtstheoretischen Literatur werden, so Okin, diese Befunde verborgen hinter einer Rhetorik von „Geschlechtsneutralität“, indem man Wörter auswechselte, statt von Frauen und Männern nur mehr von „Personen“ sprach. Die weiterhin angenommene Trennung von Öffentlich und Privat war für Frauen von Nachteil, besonders für die Frauen des Südens, obwohl ihre Situation qualitativ nicht so sehr verschieden ist von der der Frauen des Westens.
Unterschiede

Zur zweiten Frage: Warum ist es so wichtig, das Problem der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern – insbesondere im globalen Rahmen – ernst zu nehmen? Eine Reihe von Entwicklungstheoretikern und -theoretikerinnen, unter ihnen Amartya Sen, haben gezeigt, dass die Geschlechterungleichheit in den Ländern, die sie untersuchten, nicht nur unerwünschte, sondern fatale Folgen hat. Sen argumentierte, dass eine Million Frauen weniger existieren als gemessen an der Mortalitätsrate von Frauen und Männern zu erwarten wäre. Das sei vor allem eine Folge davon, dass Frauen einen schlechteren Zugang zu den Einrichtungen des Gesundheitswesens haben. Ist es insgesamt schlecht bestellt um die Gesundheitsversorgung, so sind Frauen davon weit mehr betroffen als Männer.

Ähnliches gilt für den Bereich der Arbeit. So zeigen vergleichende Untersuchungen zur Situation in den USA und in den Entwicklungsländern, dass hier wie dort der Zugang von Frauen zur Erwerbsarbeit beschränkt ist, und zwar sowohl durch Diskriminierung als auch durch Geschlechtertrennung an den Arbeitstätten. In den Industrieländern wie in den Ländern des Südens leisten Frauen einen Großteil unbezahlter Arbeit, die als unproduktiv abgewertet wird. Obwohl, so Okin, die Situation von Frauen des Südens erheblich schlechter ist, ist sie im Grunde der Situation der Frauen im Westen qualitativ gesehen ähnlich.

Dasselbe gilt bei der gerechtigkeitstheoretisch wichtigen Frage nach Chancengleichheit. Mädchen steigen im Norden wie im Süden schlechter auf, insbesondere, wenn sie aus Familien stammen, wo Frauen die Alleinerhalterinnen des Haushalts sind. Drei Fünftel aller armen Haushalte in den USA sind Haushalte, für die Frauen allein verantwortlich sind. Dieser Umstand ist lange nicht gesehen worden. Zudem hat die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung einen erheblichen Einfluss auf die Verteilung von Chancen zwischen Mädchen und Buben. Die Chancen von Mädchen/Frauen werden bestimmt durch ihre Rolle in der Familie, vor allem durch den Umstand, dass es fast immer Frauen sind, die die primäre Fürsorge für Kinder wahrnehmen. Das führt dazu, dass sie überarbeitet sind und ökonomisch als weniger wert gelten. Auch dieser Umstand, so Moller Okin, wirkt in den Familien armer Länder „ähnlich, aber noch mehr“. Diese Formulierung, die Okin im Laufe ihrer Darstellung mehrfach betont und wiederholt, gibt Anlass zu fragen, was für die konstatierte Ähnlichkeit der Situation aller Frauen weltweit verantwortlich ist. Es ist offenbar nicht der ökonomische und politische Entwicklungsstand in verschiedenen untersuchten Staaten, der als Erklärung dienen könnte. Es muss etwas anderes sein. Es sind die den ökonomischen Wandel überdauernden kulturellen Selbstverständnisse, und sie zu erklären reicht das Vokabular der Gerechtigkeitstheorien nicht aus.

Die Familie

Der dritte Punkt, die Rolle der Familie, die Nichtbeachtung des Themas der gerechten Verteilung innerhalb des Haushaltes, ist für Moller Okin besonders deshalb von Bedeutung, weil die Familie die erste Gelegenheit ist, zu lernen, was gerecht und was unrecht ist. Kinder erhalten zumeist die Botschaft, dass Frauen nicht gleich sind und dass sie deshalb daran gewöhnt werden, sich unterzuordnen. Dies ist vor allem in armen Ländern der Fall, in denen häusliche Gemeinschaften so operieren, dass Alter und Geschlecht Macht über andere bedeutet. Eine Forscherin, Hanna Papanek, stellt fest: „Given the persistence of gender-based inequalities in power, authority, access to recourses one must conclude that socialisation for gender inequality is by and large very successful.“ Der Familie trägt dazu entscheidend bei. Und auch hier zeigt sich, dass sich die Situation von Frauen in wohlhabenden und armen Ländern im Wesentlichen ähnelt. Hier wie dort arbeiten Frauen mehr, und zum großen Teil leisten sie unbezahlte Arbeit. Die Tatsache, dass Frauenarbeit schlechter bewertet ist, obwohl Frauen mehr Arbeit und gesellschaftlich notwendige Arbeit leisten, führt dazu, dass sie in und außerhalb der Familie weniger Macht haben.

Das führt zur Frage aktueller und wahrgenommener Abhängigkeit von Frauen. Obwohl arme Frauen in armen Ländern viele Stunden am Tage arbeiten, gelten sie als ökonomisch von den Männern abhängig. Auch das ist „ähnlich, aber noch schlechter“ als die Situation von Frauen in reichen Ländern. Viel von ihrer Arbeit ist unbezahlte Arbeit oder schlecht bezahlte Arbeit, und oft beanspruchen die Männer die Gehälter ihrer Frauen und Töchter für sich. Sowohl in armen wie in reichen Ländern ist die Situation von Frauen als Alleinerhalterinnen von Familien besonders prekär. Frauen verdienen im Westen für ihre Arbeit zwei Drittel dessen, was ein Mann in dieser Position verdienen würde. Drei Fünftel der Familien der USA, die in Armut leben, sind Familien von Frauen als Alleinerhalterinnen. Trotzdem ist die Situation armer Frauen in armen Ländern noch schlechter als die der Frauen im Norden/Westen. Selbst wenn sie keine andere Möglichkeit haben, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, verbieten ihnen Religion oder andere kulturelle Normen oft, eine bezahlte Arbeit anzunehmen. Das zeigt zum Beispiel die Situation verlassener Frauen oder Witwen in Indien, denen die Regeln der Kaste, purdah, nicht erlaubt, eine Arbeit anzunehmen. Viele arbeitende Frauen im Westen erfahren Missbilligung, wenn sie kleine Kinder haben und ihre Familie als nicht darauf angewiesen erscheint, aber wenigstens wird ihnen nicht verboten zu arbeiten. Hier besteht in den Ländern des Südens eine Form der Unterdrückung von Frauen, mit der Frauen im Westen nicht mehr konfrontiert sind.

Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von Frauen

Welche Maßnahmen sollten Moller Okin zufolge ergriffen werden, um diese Situation von Frauen weltweit zu verbessern? Erstens, die Trennung von Privat und Öffentlich müsse radikal hinterfragt werden. Solange das nicht geschieht, wird sich an der Situation nichts ändern. Zweitens, die entscheidende Einheit von Analyse und auch von moralischer Beurteilung müsse das Individuum sein. Drittens, da Frauen in den armen Ländern den Haushalt bestreiten, müssen ihnen volle Rechte auf Kredite, Ausbildung, Marktzugang und Technologien garantiert werden. Und schließlich, je mehr Frauen außerhalb der Familie Arbeit haben, umso geringer wird der Ungleichheit in der innerfamiliären Verteilung sein.

Moller Okin zufolge kann Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, insbesondere die Idee des Schleiers des Nichtwissens in der Situation der Normfindung, das Problem defizitärer Geschlechtergerechtigkeit sehr gut verdeutlichen. Er zwingt die Menschen dazu, sich Gedanken zu machen über die am schlechtesten Gestellten, auch über die Situation von Frauen.
Viele Frauen haben ihre soziale Situation so internalisiert, dass sie nicht in der Lage sind, Forderungen nach mehr Gerechtigkeit zu stellen. Sie geben sich mit kleinen Geschenken zufrieden, aber das ist kein Weg zu sozialer Gerechtigkeit. Gerechtigkeit erfordert die Beseitigung aller Formen von Ungleichheit.

Die empirischen Evidenzen, die Moller Okin darstellt, erlauben den Schluss, dass es bei allen Unterschieden sehr wohl eine Erfahrung gibt, die Frauen weltweit teilen: Die Erfahrung der Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern. „From place to place, from class to class, from race to race, from culture to culture, we find similarities in the specificities of these inequalities.“ Moller Okin ist zuversichtlich und traut dem Rawlsschen Schleier des Nichtwissens zu, dass er, ernst genommen, auch diese allgemeine Ungleichheitserfahrung von Frauen ans Licht und die Form eines ethischen Gebots der Gleichbehandlung und Gleichbeachtung von Frauen bringen wird. Der Schleier des Nichtwissens ist ein brauchbares Instrument der Bewusstmachung von vielfältigen Formen des Unrechts. Aber kann er leisten, was Moller Okin ihm zutraut, nämlich eine Änderung der Situation der Ungleichheit zwischen Männern und Frauen hervorzubringen?

Ohne Zweifel: Das wäre zu wünschen. Aber ist er in der Lage, tief sitzende kulturelle Vorurteile in der Wahrnehmung von Geschlecht zu beseitigen? Diese Vorteile sind seit Jahrtausenden festgeschrieben im Kulturellen Unbewussten, Relikte einer Geschlechterordnung mit männlicher Dominanz.

Das unüberwindbare Machtgefälle zwischen Mann und Frau

„Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“, dieser Satz von Gertrud Stein kann variiert werden: „eine Frau ist eine Frau ist eine Frau“. Mehr darüber zu sagen ist heute eine Zumutung für jede denkende Frau.
Das heißt aber nicht, dass es nichts gibt, was allen Frauen gemeinsam ist. Dieses Gemeinsame ist aber nicht Teil ihrer Identität, sondern ihrer Erfahrung von Beziehungen zum anderen Geschlecht. Auch die herkömmlichen Vorstellungen von „der Frau“ weisen in diese Richtung. Man muss sich nur daran erinnern, dass „Herr sein“ herrschen heißt. Um herauszufinden, was das bedeutet, kann man Konversationslexika bemühen. In meiner Brockhausausgabe aus dem Jahr 1967 fand ich nur einen Eintrag zu „Frau“. Es war eine kurze Liste der Aufgaben und Pflichten der Frau als Hausfrau und Mutter – gerade sechs Zeilen. Zu „Mann“ fand ich zu meiner Überraschung in derselben Ausgabe gleich drei Einträge: einen zu Thomas Mann, je einen zu Heinrich Mann und Golo Mann. Es fand sich also kein Eintrag zu „Mann“ an sich. Was bedeutet das für das Selbstverständnis der Herausgeber dieses Lexikons? Offenbar dies: Der Mann hat es nicht nötig, irgendeinen für ihn bestimmten Platz im Lexikon einzunehmen. Denn das ganze Lexikon ist eine Darstellung dessen, was Männer können, ist ein Resümee ihrer allumfassenden Weise, Geschichte zu machen, soziale Wirklichkeit zu gestalten. Der Mann wird denn auch im alltäglichen Diskurs, in Dokumenten und Briefen als Herr angesprochen. „Herr“ ist dabei eine Bezeichnung für die Position der Dominanz des Mannes in unserer Kultur. Das ist vielleicht ein Relikt aus der Tradition des Patriarchats, aber zugleich ein Indiz für seine Allgegenwart.

Was bedeutet es für Julia, Frau Müller zu sein? Es bedeutet Zugehörigkeit zu einem bestimmten Mann, ihm untergeordnet zu sein. In ihrer gesellschaftlichen Bedeutung sind die beiden Begriffe „Herr“ und „Frau“ nichts anderes als Positionsbestimmungen, und haben mit den Eigenschaften der involvierten Personen so gut wie nichts zu tun. Mit anderen Worten: Das Geschlechterverhältnis ist ein politisches Verhältnis und die Positionen. die Männer und Frauen einnehmen, sind die Dominanz und Unterordnung. Die erwähnte Diskussion um Essentialismus und Antiessentialismus in der Antwort auf die Frage: Was ist eine Frau? geht daran vorbei. Frauen wird gegenüber Männern eine bestimmte Position aufgezwungen oder zugemutet, und was sie darüber hinaus sind, ist deshalb nicht von Belang.

Die von Susan Moller Okin hervorgehobene Tatsache, dass die Lebenssituation von Frauen überall ähnlich ist, abgesehen von graduellen Unterschieden, kann also nur bedeuten, dass das, was allen Erfahrungen von Frauen gemeinsam ist, die Erfahrung eines Machtgefälles zwischen Männern und Frauen ist, und das heißt, eine gemeinsame politische Position. Das ist der Kern aller feministischen Geschlechterpolitik. Die vorsichtige Formulierung von Moller Okin, im Norden wie im Süden sei die Situation ähnlich, nur in den armen Ländern des Südens „noch schlechter“, weist darauf hin, ohne die Sache konkret zu benennen.

Die Philosophen des Bürgertums haben die Geschlechterdifferenz mit einer Metaphysik polarer Geschlechtscharaktere begründet, aber dass Männer „oben, Frauen unten“ sind, wie Aristoteles in seiner Darstellung der Ordnung der Welt in Gegensätzen nahe legt, ist bis heute noch in den Köpfen. Davon zeugen die Pornographie, die Werbung, und der Common Sense. Zwar haben sich die Zustände in den letzten Jahrzehnten erheblich zugunsten von Frauen geändert, aber offenbar ist die Sicht des Geschlechterverhältnisses noch immer nicht von den traditionellen Zuschreibungen dieser Art frei. Trotz Menschenrechtserklärungen, trotz der überzeugenden ethischen Standpunkte zu ihrer Rechtfertigung, die mittlerweile auch in der Politik anerkannt werden, bleibt ein Rest dieser kulturell tiefsitzenden inegalitären Geschlechterwahrnehmung wirksam, als Teil des kulturellen Unbewussten. Warum ist das so? Man kann sich nicht damit begnügen, resigniert festzustellen, das sei schon immer so gewesen. Man wird also fragen müssen, warum sich die inegalitäre Optik in der Wahrnehmung der Geschlechterposition so schwer korrigieren lässt.

Eine kulturanthropologische Deutung inegalitärer Geschlechterwahrnehmung

Auf der Ebene der Kultur artikulieren und reproduzieren sich die Vorstellungen und Bilder von uns selbst und unserer Welt, in unserer Sprache, unseren Bildern und Vorstellungen als Inbegriff von grundlegenden und nicht hinterfragten Selbstverständlichkeiten im Alltagsleben. Solcher Art sind auch die Vorstellungen von Mann und Frauen, die uns unbefragt leiten, auch wenn wir uns im Denken mit Wirtschaft, Politik und der gesellschaftlichen Ordnung beschäftigen. Kulturanthropologische Studien belegen, dass Frauen über Jahrtausende kulturell als Tauschobjekte und nicht als Subjekte wahrgenommen wurden und damit von der Macht ausgeschlossen waren. Was einen optimistischen Blick auf die Zukunft ermöglicht, ist der Umstand, dass solche kulturelle Ordnungen nicht der ahistorische Ausfluss der Natur oder des menschlichen Geistes, sondern Produkte historischer menschlicher Aktivität sind und eben deshalb auch änderbar. Trotzdem hat sich das alte Bild von der Geschlechterordnung, das vor Jahrtausenden entstand, hartnäckig bis in die Gegenwart gehalten, mit einigen Änderungen, die notwendig waren, um es wechselnden Machtverhältnissen und ökonomischen Rahmenbedingungen anzupassen.
Die Rolle der Frauenbewegung

Ungerechte Verteilung von Chancen und Ressourcen zwischen Frauen und Männern lässt sich, wie Moller Okin meint, mit Rawls´ Theorie der Gerechtigkeit kritisieren. Es waren aber nicht die Philosophen, sondern es waren Frauen, die sich dieses Themas annahmen und auch die Initiativen ergriffen, um die Frage der Geschlechtergerechtigkeit zu stellen und Lösungen vorzuschlagen. Die Begründerinnen der Frauenbewegung waren Europäerinnen und mit den Problemen in ihren eigenen Ländern beschäftigt. Jüngere Generationen von Feministinnen haben ihren eurozentrischen Standpunkt verlassen und sind sich der globalen Dimension des Themas der Geschlechtergerechtigkeit bewusst geworden. Sie bringen zu allgemeinem Bewusstsein, in welcher Situation sich Frauen im Prozess der Globalisierung befinden, insbesondere die Frauen des Südens. Zunächst im Bereich der Arbeit.

- Migrantinnen aus dem Süden leisten in Europa Dienstarbeiten für die gehobene Mittelschicht als billige Arbeitskräfte. Die privilegierte Frau in den USA, in Österreich oder Deutschland kann es sich leisten, ihrer Berufsarbeit nachzugehen, weil sie eine billige Hilfskraft aus Bosnien oder den Philippinen im Haushalt hat, die für sie die Hausarbeit erledigt.

- In den Produktionsstätten der multinationale Konzerne in den Staaten des Südens schuften junge Frauen ohne soziale und andere Sicherheiten unter unannehmbaren Bedingungen für einen Hungerlohn. Um Investoren ins Land zu locken, haben diese Staaten alle sozialstaatlichen Anforderungen für solche Investitionen herabgesetzt oder überhaupt abgeschafft und zwar auf vor allem Kosten der Frauen, die als billige Arbeitskräfte ausgebeutet werden.

- die Kluft zwischen Arm und Reich ist nicht nur global größer geworden, sondern auch lokal innerhalb der Länder des Südens. Dabei sind Frauen hier von der Armut besonders stark betroffen. Ein besonders dringliches Problem ist die weltweit geübte Gewalt an Frauen: 80 % der Flüchtlinge sind Frauen und Kinder, ein Umstand, der sich auf die Lebenssituation von Frauen besonders fatal auswirkt. Damit im Zusammenhang stehen Frauenhandel und Zwangsprostitution. Das sind die bedrohlichsten Formen eines Sexismus, der Frauen im wahrsten Sinn des Wortes zu Objekten macht. Es ist der klarste Ausdruck der Entwürdigung und Entrechtung von Frauen, und einer, der noch immer an der Tagesordnung ist.

Diese Themen sind für die Frauenbewegung relativ neu. Die zweite Welle der Frauenbewegung zwischen 1960 und 1970 hatte eine Fülle von Fragen nach dem Verhältnis von Männern und Frauen, von Öffentlichkeit und Privatsphäre, vom Sexismus im Alltag und seiner Beschönigung in der hohen Literatur zur Sprache gebracht. Die feministische Kritik nahm auch Wissenschaft und Politik als Orte männlicher Dominanz ins Visier. Ihre Anliegen fanden mittlerweile Eingang in die Politik. Das Jahr 1975 wurde von der UNO in aller Form zum Jahr der Frau ausgerufen und 1976 – 1985 zur Dekade der Frau. In den Ländern des Südens entstanden eigene Frauenbewegungen. Die Frauen des Nordens begannen sich nun auch für die speziellen Anliegen der Afrikanerinnen und Asiatinnen einzusetzen.

Seit den Siebziger Jahren gibt es weltweit ein Umdenken. 1995 fand die erste Weltfrauenkonferenz in Peking statt. Es waren Frauen als Wissenschaftlerinnen und Politikerinnen, die wesentlich zum Bewusstwerden der Situation von Frauen in einer globalisierten Welt beitrugen. Die erste Forderung, die die Frauenbewegung an globale Gerechtigkeit stellt, ist immer noch die Forderung des Rechts auf sich selbst. Erst wenn dieses Recht anerkannt wird, ist es überhaupt möglich, einen Diskurs über globale Gerechtigkeit als Verteilungsgerechtigkeit zu führen.

Die feministischen Alternativen

Eine Neubestimmung von Vorstellungen der Gerechtigkeit

In dem von Ursula Degener und Beate Rosenzweig herausgegebenen Band Die Neuverhandlung sozialer Gerechtigkeit geht es um mehr als um das im Titel angekündigte Thema – es geht zugleich um eine Bestandsaufnahme der rezenten Geschichte feministischer Theorie und um eine Neubestimmung ihrer theoretischen Position als eine Form der Gesellschaftskritik und der politischen Theorie.

Unter dem Druck der Ereignisse im transnationalen Raum kam es zu einer Wende hin zu einer neuen transnationalen feministischen Politik, die Fragen der Umverteilung, der Anerkennung und der Repräsentation jenseits des staatlichen Rahmens verortet. Transnationale Räume im Umkreis der Institutionen der Vereinten Nationen oder das Weltsozialforum sind die Beispiele für solche Räume. Feministische Politik und Theorie markieren eine Wende im Denken über soziale Gerechtigkeit.

Einen entscheidenden Impuls zur Destabilisierung der politischen Vorstellungen des (westlich orientierten) Feminismus gibt die theoretische Perspektive des Postkolonialismus. Sie macht deutlich, dass das „Wir Frauen“ auch im feministischen Diskurs lange nur eine Minderheit von Frauen einschloss.

Ein zentrales Thema der Neuverhandlung sozialer Gerechtigkeit angesichts globaler Vorgänge der Verschiebung ökonomischer und politischer Machtverhältnisse ist die wachsende Armut immer weiterer Kreise der Weltbevölkerung. Die von den Neoliberalen lautstark vorgetragene Behauptung von der segensreichen Wirkung der Liberalisierung der Märkte, so die Politologin Brigitte Young, stützt sich auf Statistiken aus manipulierten Daten der Weltbank. Von der neoliberalen Transformation der Weltgesellschaft sind Frauen besonders betroffen. Die Folgen der Globalisierung beschränken sich nicht auf die Länder des Südens, betroffen sind auch diejenigen etwa des Ostens Europas, deren Integration in die EU mit einem hohen Preis verbunden war: Verunsicherung und Informalisierung der Beschäftigungsverhältnisse, niedrigste Löhne, Verdrängung der Gewerkschaften. Von der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse waren besonders Frauen betroffen, speziell in der Textil- und Bekleidungsindustrie.

Feministische Bewegung im globalen Raum

Feministische Bewegungen sind nicht primär Denkbewegungen, sondern konkrete politische Bewegungen. Die haben mittlerweile auch den globalen Raum als Raum für sich entdeckt. Als ein Instrument des Kampfs um Geschlechterpolitik als „transversale Politik“ haben sich zunächst die weltweit organisierten Frauenweltmärsche formiert, die sich vor allem gegen Armut und Gewalt gegen Frauen richteten. Das Ziel transversaler feministischer Politik ist, Räume für den globalen Dialog von Frauen zu schaffen: nicht um eine einheitliche, Frauen als Gruppe homogenisierende „weibliche Identität“ geht es, sondern um Respekt vor der Vielfältigkeit von Identitäten und Zugehörigkeiten von Frauen.

Aus geschlechterpolitischer Perspektive zeigt sich, dass im Rahmen der rezenten Arbeitsmarktreformen die vertretenen Modelle der Existenzsicherung auf private Solidarität setzen statt auf gesellschaftliche Solidarität – im Rückgriff auf das traditionelle Modell des männlichen Familienernährers. Auf der Basis des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes wäre es die Aufgabe des Sozialstaats, individuelle Existenz zu sichern und eine Teilhabe am öffentlichen Leben zu ermöglichen. Die Realität bleibt, z. B. in Deutschland, in diesem Punkte hinter der in den Eu-Leitlinien enthaltenen geforderten Erhöhung weiblicher Erwerbsbeteiligung weit zurück.

Globales Sorgen als feministisches Projekt für die Zukunft

Schon bald nach den Gründungsjahren der Zweiten Frauenbewegung gingen Frauen - Sozialwissenschaftlerinnen und Kulturanthropologinnen – in andere Kontinente, um die Situation von Frauen in Mittelamerika, in Indien und anderswo kennen zu lernen, aber auch um von ihnen als Akteurinnen einer Subsistenzwirtschaft, einer Überlebenswirtschaft im Schatten des neoliberalen Umbaus, zu lernen. In Chile, Argentinien, Guatemala und anderen Ländern fanden sie Vorbilder dafür, wie frau ihre eigene Welt gegen alle Widerstände konstruktiv und nach eigenen Vorstellungen zu gestalten können.

Was sie aus diesen Erfahrungen vor allem lernten, war, dass das alteuropäische Wirtschaftssystem und seine Strategien und Techniken der Aneignung von Ressourcen desaströse Folgen hat – die Zerstörung von Natur und Lebensraum. So entstand das Projekt des Ökofeminismus, das nicht nur Visionen hervorbrachte, sondern auch Strategien zu einem schonenden Umgang mit Natur im eigenen Lebensbereich – Strategien einer alternativen Ökonomie nach dem Modell der Subsistenzproduktion.

Eine Ethik der Fürsorge, global gedacht

Eine erste Leitlinie feministischer Politik ist es, für eine sozial gerechtere Welt zu kämpfen, nicht nur für Frauen, sondern für alle Menschen. Für eine gerechtere Welt, aber darüber hinaus auch für eine lebenswerte Welt, und auch für Respekt für den gesamten planetarischen Lebensraum mit allen seinen Bewohnern. Was dazu zu tun ist, haben Frauen früh begriffen. Sie machten klar, das das Eintreten für Gerechtigkeit für das Individuum Frau eine notwendige Voraussetzung, aber nicht hinreichend ist für das feministische Projekt. Der erste und entscheidende Schritt über das liberale Denkmodell Gerechtigkeit hinaus war die einer anderen Vorstellung von Moral, die Carol Gilligan in einer einflussreichen Studie über das moralische Urteil von Mädchen und Jungen entwickelte: Mädchen orientieren sich nicht an universellen Prinzipien. Moral bedeutet für Mädchen, auch Frauen, konkrete Fürsorge für Andere. Verantwortung und Fürsorge weisen eine neue Richtung einer Antwort auf die Frage, wie eine Moral aussehen müsste, die das Ziel der Schaffung einer nicht nur gerechteren, sondern einer lebenswerteren Welt im Auge hat.

Eine solche Ethik hat als ihren entscheidenden Wert nicht (allein) Gerechtigkeit für das Individuum, sondern konkret die Sorge, die Fürsorge für andere. Diese Sorge muss konsequenterweise auch dafür sorgen, dass alle Menschen in einer Welt leben können, wo sie nicht nur genug Ressourcen haben, um sicher zu leben, sondern auch eine Umwelt, in der sie unbeschädigt überleben können – das heißt die Sorge für die Erhaltung der Umwelt insgesamt. Das hat der Ökofeminismus angesichts des Raubbaus an der Natur, der in der Industriegesellschaft bedrohliche Ausmaße angenommen hat, früher erkannt als die Bewegung der Grünen. Die Ökofeministinnen haben bei den Frauen in Lateinamerika und Asien Formen der Subsistenzwirtschaft kennen gelernt, denen es nicht um steigende Profite, sondern um die Sorge für das Leben der Mitglieder ihrer Lebensgemeinschaften geht. In weiterer Perspektive, so sahen sie, geht es nicht nur um das konkrete Überleben von Einzelnen, sondern um die Erhaltung der Lebensbedingungen im sozialen Umfeld, im planetarischen Raum insgesamt, um also um Nachhaltigkeit, und um die Aufrechterhaltung der ökologischen Balance, um die Sorge dafür, dass die ökonomischen, technischen und politischen Aktivitäten im globalen Raum diese Balance nicht bedrohen.

Das Ziel solcher Politik ist letztlich die Erhaltung der Grundlagen allen Lebens, insbesondere des organischen Lebens, des Lebendigen. Sie ist im Kern eine Ethik des Lebendigen. Wir können als die Spezies, als die wir leibhaft-körperlich existieren, nur existieren unter bestimmten materiell Bedingungen, zu denen die Erhaltung des Lebensraums, der lebenswichtigen Ressourcen wie Wasser, Luft und die notwendigen natürlichen Überlebensressourcen gehören. Das sind die Ressourcen, die wir mit allen lebendigen Wesen teilen, für die wir nicht weniger Sorge tragen sollten als für uns selbst Die Verknappung dieser Ressourcen ist etwas, was uns Sorgen machen muss, wenn wir Verantwortung übernehmen für das Leben von Pflanzen, menschlichen und nichtmenschlichen Tieren gleichermaßen. Und es ist eine Verantwortung mit globalen Dimensionen.

Im Text genannte Literatur:

Carol Gilligan. Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau. München 1085

Spelman, Elisabeth: The Inessential Women. Problems of Exclusion in Feminist Thought.

Susan Moller Okin, Gender Inequality and Cultural Difference, in Thomas Pogge, Keith Horton (eds.), Global Ethics, Seminal Essays, Paragon House 2008, S. 233 – 257, 234 f.

Ursula Degener/Beate Rosenzweig (Hrsg.): Die Neuverhandlung sozialer Gerechtigkeit, 2006, VS Verlag, Wiesbaden.

Armatya Sen, Ökonomie für den Menschen. Wege zu Solidarität und Gerechtigkeit in der Marktwirtschaft, dt.München 2002.

Mies, Maria, Vananda Shiva: Ökofeminismus. Beiträge zu Theorie und Praxis. Zürich 1995.

Elisabeth List, Ethik des Lebendigen, Weilerswist 2009.

UNSERE AUTORIN:

Elisabeth List ist Professorin für Philosophie an der Universität Graz.