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Arendt: Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher

HANNAH ARENDT

Hannah Arendt, die 1941 aus Frankreich nach Amerika floh, veröffentlichte zwischen 1941 und 1945 im deutschsprachigen New Yorker Aufbau verschiedene Texte politischen Inhaltes. Es sind dies Arendts nahezu einzigen bekannten tagespolitischen Äußerungen aus der damaligen Zeit. Marie Luise Knott hat diese Texte zusammengestellt und neu veröffentlicht:

Arendt, Hannah: Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher. Beiträge für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung Aufbau 1941-1945. 244 S., Ln., € 19.90 2000, Piper, München.

Neben den Texten findet sich ein ausführliches Nachwort der Herausgeberin, das in das Thema einführt. Danach war Arendt die einzige freie Kolumnistin des Aufbau.
Arendts Beiträge haben ein einziges Thema: das Judentum. Sie berichtet engagiert anhand der ihr zur Verfügung stehenden Quellen über dessen Überlebenskampf in Europa und engagiert sich für Israel. Sie setzt sich 1941 für die Bildung einer jüdischen Armee mit Freiwilligen aus der ganzen Welt ein. Als diese Forderung Ende 1942 von der Tagesordnung verschwindet, bricht Arendt ihre Mitarbeit im Aufbau ab. Erst 1944, als immer mehr Nachrichten vom jüdischen Widerstand aus Europa nach Amerika dringen und die Briten eine Jüdische Brigade aufstellen, versuchte sie erneut, ihre Gedanken zu Gehör zu bringen. Dabei tritt sie für die Auflösung der Nationalstaaten und die Errichtung eines föderierten Europa ein, in welchem die Juden als gesamteuropäisches „Volk ohne Territorium“ eine eigenständige Repräsentation besitzen sollen, wie auch für die Errichtung eines föderierten Staates in Palästina, in welchem Juden und Araber gleiche Rechte besitzen.

Hannah Arendts Denktagebuch „Das Unrechte, das man getan hat, ist die Last auf den Schultern, etwas, was man trägt, weil man es sich aufgeladen hat… Die Last, die man sich selbst auf die Schultern geladen hat, kann einem nur Gott abnehmen. Christen aber niemals. Verzeihen gibt es nur unter prinzipiell qualitativ voneinander Geschiedenen, also: Die Eltern können den Kindern verzeihen, solange sie Kinder sind, wegen der absoluten Überlegenheit. Die Geste der Verzeihung zerstört die Gleichheit und damit das Fundament menschlicher Beziehungen so radikal, dass eigentlich nach einem solchen Akt gar keine Beziehung mehr möglich sein sollte. Verzeihung zwischen Menschen kann nur heißen: Verzicht, sich zu rächen, schweigen und vorübergehen, und das heißt: der grundsätzliche Abschied – während Rache immer nah am Anderen bleibt und die Beziehung gerade nicht abreißt.“

Mit dieser Reflexion beginnt im Juni 1950 das erste von insgesamt 28 Heften der Tagebücher, denen Hannah Arendt ihre philosophischen Gedanken während 23 Jahren anvertraut hat. Im März 1950 war sie von ihrer ersten Europareise zurückgekehrt, und die Wiederbegegnungen mit Karl Jaspers und insbesondere auch mit Martin Heidegger inspirierten sie, sich wieder mit philosophischen Themen zu beschäftigen und das „Denktagebuch“ – dieser Name findet sich zwar in den Tagebüchern nicht, aber es ist übermittelt, dass sie sie so genannt hat – ist ihr eine Hilfe dazu. Es handelt sich dabei aber nicht um ein Festhalten von noch vorläufigen Gedanken, von Gedanken, die noch nicht zu Ende gedacht sind, sondern sie hält hier das bereits Gedachte druckreif fest.

Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann, die sich beide seit Jahren mit Hannah Arendt beschäftigen, haben in einem von der DFG geförderten Projekt diese Notizbücher transkribiert und in einer zweibändigen, aufwendigen Ausgabe vorgelegt:

Arendt, Hannah: Denktagebuch. 1950 bis 1973. Zwei Bände. Herausgegeben von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann in Zusammenarbeit mit dem Hannah-Arendt-Institut, Dresden. Insgesamt 1230 S., Ln., in Schuber, € 118.--, 2002, Piper, München.

Arendts Gedanken beschäftigen sich auf zwei miteinander verbundenen Ebenen. Zum einen sind es, wie der zitierte erste Text des Tagebuches, formale Begriffsbestimmungen, denen aber – vor dem Hintergrund des Holocaust – ein leidenschaftliches Nachdenken über Gut und Böse, über den Menschen und die Gesellschaft, zugrunde liegt. Der Leser ist gezwungen, die oftmals ungewohnten Gedanken nachzudenken – das Buch lässt sich nicht wie andere philosophische Bücher lesen, man muss es vielmehr immer wieder auf die Seite legen und man muss zu den vorgelegten Gedanken Stellung nehmen. Themen, die sich hier durchziehen, sind natürlich diejenigen, die sich in den zur gleichen Zeit entstehenden Büchern finden. „Hier ist Studieren noch ein Abenteuer, hinter jeder Biegung lauert eine neue gedankliche Herausforderung“, schreibt Harald Loch in seiner Besprechung in der Financial Times.

Immer wieder finden sich Bestimmungen von Herstellen und Handeln: „Beim Herstellen ist der gedachte Entwurf erst einmal fertig, ist Denken nicht nur überflüssig, es stört sogar die Herstellung…Herstellen gehört natürlich ebenso sehr zum Wesen des Menschen wie Handeln. Aber Herstellen ist eine Partialtätigkeit, während Handeln, wie Denken, das Leben selbst ist… Die Identifizierung von Handeln und Herstellen hat sich so verfestigt, weil das Handeln Gottes als Schöpfung im Grunde auch nach dem Modell des Herstellens vorgestellt wird.“

Im April 1952 kommt sie zu folgender Differenzierung: In der Arbeit ist der Mensch immer isoliert und von Sorge und Angst getrieben. Im Herstellen ist der Mensch allein und vom Werk als Schöpfung beflügelt. Im Handeln ist der Mensch mit anderen in der politischen Verantwortung. In der Liebe und nur in ihr gibt es wirkliche Gegenseitigkeit, die auf dem Einander-Bedürfen beruht. Als Arbeitende, so fasst Arendt zusammen, sind Menschen fast wie Tiere, als Hersteller sind Menschen fast wie Götter, als Handelnde sind Menschen wirklich Menschen, als Liebende ist jeder Mensch auch der Mensch.
Der Fluch, der gesprochen wird, wenn das Elend mittels der Arbeit beseitigt ist, so notiert sie im Mai 1952 in Freiburg, dass nun jede Tätigkeit Arbeit geworden ist – dies ist gleichsam deren Rache. Der Fluch der Arbeit, so fügt sie hinzu, ist nicht die Mühe, sondern der Zwang.

Im Juli 1954 ergänzt sie: „Das Entscheidende der Neuzeit ist, dass sie dem Denken wie dem Handeln den Erfahrungsbereich des Herstellens, der beiden als Modell gedient hat, entzieht. An die Stelle des Herstellens tritt die Arbeit und mit ihr der ‚Materialismus’ und dann die Technik.“ In der Arbeit werden Dinge zum Konsum hergestellt und nicht zum Gebrauch; der Mensch beginnt, seine von ihm geschaffene Ding-Welt zu verzehren und wird dadurch selbst unbedingt. Da er selbst nicht mehr schafft, glaubt er auch nicht mehr, geschaffen zu sein.

Ein anderes Zentrum ihrer Gedanken ist die Politik. „Politisch organisieren sich die Menschen nach bestimmten wesentlichen Gemeinsamkeiten in einem absoluten Chaos oder aus einem absoluten Chaos der Differenzen… Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen, also durchaus außerhalb des Menschen. Es gibt daher keine eigentliche politische Substanz.“ Freiheit gibt es für Arendt nur in diesem Zwischen-Bereich: „Vor dieser Freiheit retten wir uns in die ‚Notwendigkeit’ der Geschichte. Eine abscheuliche Absurdität.“

Im Januar 1952 beschäftigt sie sich mit dem Phänomen Macht: Macht ist „der Grund, dass Politik im Bereich des Zwischen entsteht: Macht kommt zustande, wenn immer Menschen etwas zusammen unternehmen, ist gleichsam das Urphänomen des Politischen“. Macht entsteht in der Pluralität, in der die Menschen die Natur bewältigen und die Welt errichten. Macht liegt nicht im Befehlenden und nicht im Befehl, sondern entspringt daraus, dass der Befehl ein Zusammen und damit das Zwischen, wo Macht entspringt, stiftet.
Für Arendt ist die abendländische politische Philosophie Bankrott gegangen: Das Um-willen des politischen Lebens ist verloren gegangen; geblieben ist einzig noch der materiale Grund und das Pathos, dass man die ökonomischen Verhältnisse in die Hand bekommen und das Elend aus der Welt schaffen muss.

Eine der dümmsten Fallen, die die philosophische Vergangenheit uns stellt, ist für Arendt der Gegensatz zwischen Freiheit und Notwendigkeit. Der Gegensatz zur Freiheit ist Schicksal, und Schicksal ist nichts anderes als der Fortgang dessen, war wir in Freiheit anfingen. Freiheit kann es nur in der Pluralität geben, in dem Raum, der zwischen den Menschen entsteht, sofern sie miteinander leben und handeln. Nur Handeln steht unter der Kategorie der Freiheit. Alle Versuche, Freiheit in die Arbeit oder das Herstellen „hineinzugeheimnissen“, sind verlogen; es läuft immer auf die „in der Notwendigkeit verborgene Freiheit“ und ähnliche Kunststücke hinaus.

Auf einer anderen Ebene beschäftigt sich Arendt mit den Klassikern, die sie gerade liest: es sind dies eingangs Platon, dann Marx, Hegel und Kant und immer wieder Heidegger. Das „große, ungeheuer große und ganz verschüttete Verdienst“ von Marx sieht sie darin, das öffentliche Leben und das Sein des Menschen auf die Arbeit und nicht auf die Familie zu gründen. Eine Konsequenz daraus sieht sie in der Emanzipation vom Besitz als einer Grundlage des politischen Lebens. Marx ist der erste, der der Arbeit den Adel des (handwerklichen) Herstellens verleiht. Dies liegt der sozialistischen Tradition und ihrem grundsätzlichen Kategorien-Paar: Produktivität – Parasitentum zugrunde. Aber, so kritisiert Arendt Marx, diese neue Bewertung der Arbeit entspringt nicht einem neuen Bild vom Menschen, in welchem der homo faber in den Typus des arbeitenden Menschen verwandelt würde, sondern „nur“ der Empörung über die Ungerechtigkeit gesellschaftlicher Zustände. Wie sehr auch und gerade Marx in der Tradition steht, der Arbeit als Fluch oder Schande und Herstellen als höchste Auszeichnung des Menschen gelten, geht aus seinem grotesk-utopischen Zukunftsbild einer klassenlosen Gesellschaft hervor, in welcher jeder jederzeit machen kann, was ihm beliebt. Marx’ grundsätzlicher Widerspruch liegt darin, dass bei ihm die Arbeit gleichzeitig den Menschen schafft und ihn versklavt. Beides ist wahr geworden: Die Maschinen machen so viel Zeit frei, dass alle Menschen von der Arbeit befreit sein könnten, wenn nicht alles zur Arbeit geworden wäre. Die moderne Welt hat alle Tätigkeit in Arbeit verwandelt, hat alles seiner Würde beraubt.

Im Mai 1952 hatte Arendt Martin Heidegger in Freiburg in dessen Haus besucht. Rückblickend schreibt sie im November 1952: „Fraglos, dass ich in Freiburg in eine Falle gegangen… bin. Fraglos aber ist auch, dass Martin, ob er es weiß oder nicht, in dieser Falle sitzt, in ihr zu Hause ist, sein Haus um die Falle herum gebaut hat; sodass man ihn nur besuchen kann, wenn man ihn in der Falle besucht, in die Falle geht. Also ging ich ihn in der Falle besuchen. Das Resultat ist, dass er nun wieder allein in seiner Falle sitzt“. Dies lässt ihr keine Ruhe, sie spinnt im Juli 1953 die Sache zu einer Fabel aus, zur Fabel vom Fuchs Heidegger:
Es war einmal ein Fuchs, dem gebrach es so an Schläue, dass er nicht nur ständig in Fallen geriet, sondern den Unterschied zwischen einer Falle und einer Nicht-Falle nicht wahrnehmen konnte. Zudem war mit seinem Fell etwas nicht in Ordnung. Er beschloss deshalb, sich von der Welt ganz zurückzuziehen und wollte dazu einen Fuchsbau errichten. Infolge seiner Unfähigkeit, zwischen Fallen und Nicht-Fallen zu unterscheiden, kam er auf einen für Füchse unerhörten Gedanken: Er baute sich als Fuchsbau eine Falle, setzte sich in sie und gab sie als normalen Fuchsbau aus. Zugleich beschloss er, den Bau zu einer Falle für andere auszugestalten – was wiederum von großer Unkenntnis des Fallenwesens zeugt. Denn viele kamen ihn in dem Bau, wo er zu Hause war, besuchen, aber freilich konnte jeder wieder hinausspazieren – denn es war der Fuchs, der ja bereits in der Falle saß.

Eigentlicher Zweck der Gedankenarbeit von Hannah Arendt ist es – wie die Herausgeberinnen im Nachwort betonen – die Begriffe und Vorstellungen der Vergangenheit aus der damaligen Ordnung herauszulösen und zu den Fragen der Gegenwart in einen Dialog zu setzen. Sie hatte sich vorgenommen, in einem Rückgang durch die Tradition des Denkens die Punkte herauszuarbeiten, wo Erfahrungen, Erkenntnisse und Einsichten verstellt, verdrängt und überlagert worden waren. Ihr schwebte eine Archäologie von Begriffen vor, in der Schicht um Schicht abgetragen wird, bis sich Identität als willkürlich zusammengepresste Differenz von Erfahrung zu erkennen gibt. Das Schreiben in diesen Heften war für sie eine Übung, die Definitionen der Traditionen zu hinterfragen und sich darin zu üben, „ständig Unterscheidungen zu machen“. Und das Modell für die Montage von Fragmenten, die sich „gegenseitig illuminieren und gleichsam freischwebend ihre Existenzberechtigung bewähren“, fand sie bei Walter Benjamin, mit dem sie in Paris einen intensiven Gedankenaustausch hatte.

Die beiden Herausgeberinnen vermuten, dass die Veröffentlichung des Denktagebuches eine Wende in der Arendt-Rezeption einleiten könnte. In jüngster Zeit stand hier die Tendenz im Vordergrund, Arendt im geschichtlichen und kulturellen Zusammenhang zu lesen. Nun hofft man, dass sich die Interpreten wieder erneut den Arendtschen Gedanken zuwenden und ihr Augenmerk insbesondere auf die postume Veröffentlichung Vom Leben des Geistes richten.

Das Tagebuch wurde nicht für die Veröffentlichung geschrieben. Es setzt sich in einem großen Teil intern mit Klassikern auseinander. Der Anmerkungsteil gibt zwar akribisch biographische Bezüge an und zeigt den Herkunftsort einzelner Stellen. Aber bei der philosophischen Interpretation wird der Leser allein gelassen, selbst die Heidegger-Fabel wird ihm nicht aufgelöst. Deshalb ist die Ausgabe eigentlich nur für Arendt-Kenner (innen) von Interesse. Dennoch hat die Veröffentlichung in der breiteren Öffentlichkeit reges Interesse gefunden. Interessant ist, dass die Rezensenten je andere Themen als roten Faden des Tagebuches herausarbeiten – was zeigt, wie vielschichtig und breit das Denken Arendts ist.

Das Tagebuch sei vergleichbar mit den „Cahiers“ von Simone Weil und Paul Valéry, schreibt Ludger Lütkehaus in der Badischen Zeitung sowie der Frankfurter Rundschau, und es sei in einer „vorzüglichen ungekürzten Nachlassedition eingehend kommentiert und mustergültig erschlossen“.
Über der Perfektion der Buchgestaltung, so Andreas Platthaus in der Frankfurter Allgemeinen, drohe der provisorische Charakter der Aufzeichnungen fast in Vergessenheit zu geraten, der doch gerade den Reiz des Textes ausmache. Thomas Wild führt in der Berliner Zeitung aus, hier werde man Zeuge, wie Hannah Arendt die philosophische Tradition unter grundsätzlich veränderten Lebensbedingungen befrage. Arendts Suche sei hier noch offener als in ihren Werken, schreibt Otto Kallscheuer im Tagesspiegel, vor allem Nietzsche werde ihr als anti-theologischer und anti-moralischer Denker des Bösen wichtig.

Nicht richtig ist es jedoch, wenn Harald Loch in seiner Besprechung – auch wenn diese variiert in Zeitungen wie der Hannoverschen Allgemeinen, dem Kölner Stadt-Anzeiger oder der Financial Times vorgetragen worden ist – das Denktagebuch als einen Kompass bezeichnet, um sich im politisch-philosophischen Gedankengebäude Arendts zu orientieren; die wechselnden Themen führen wohl eher dazu, sich zu verlieren. Stefan Ripplinger meint in Jungle World, fragwürdig sei der Antimodernismus von Arendt: „Kann es denn eine Rückkehr zum ziellosen, politischen Denken des sophos Sokrates geben?