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Heidegger, Martin: Der Begriff der Zeit 1924

HEIDEGGER

Der Begriff der Zeit 1924

Band 64 der Heidegger-Gesamtausgabe enthält zwei Texte Heideggers zur Zeit: die unveröffentlichte Abhandlung Der Begriff der Zeit aus dem Jahr 1924 und den gleichnamigen Vortrag, den Heidegger am 25. Juli 1924 vor der Marburger Theologenschaft auf der Grundlage dieser Abhandlung gehalten hat und der 1998 anlässlich von Heideggers 100. Geburtstags von Heidegger von Hartmut Tietjen veröffentlicht wurde. Dieser Text ist im Band 64 unverändert nachgedruckt:

Heidegger, Martin: Der Begriff der Zeit. Martin Heidegger Gesamtausgabe, III. Abteilung: Unveröffentlichte Abhandlungen, Vorträge, Gedichte, Band 64, 134 S., Ln., 2004, Klostermann, Frankfurt

Der Begriff der Zeit (1924, Abhandlung)

Das menschliche Leben ist in seinem alltäglichsten Tun und Lassen nach der Zeit orientiert. Wenn es als forschendes der Zeit selbst nachgeht, um zu erkunden, was sie sei, sieht es sich auf die „Seele“ oder den „Geist“ verwiesen. Sie wird umso mehr in den Blick gebracht werden können, je ursprünglicher das menschliche Dasein selbst hinsichtlich seiner Seinscharaktere sichtbar gemacht ist. Die Analyse der Zeit schafft sich das Fundament in einer ontologischen Charakteristik des menschlichen Daseins. Dasein besagt: „In der Welt sein.“ Die Welt ist das Worin solchen Seins. Das „In der Welt sein“ hat den Charakter des Besorgens, des besorgenden Umgangs. Damit meint Heidegger Vorgänge wie etwas herstellen, etwas in Verwahrung halten oder etwas betrachten. Die Umgebung, in der sich dieses Besorgen aufhält, hat den Charakter der Vertrautheit. Hinzu kommen die Eigenschaften des Vorscheins und der Vorhandenheit. Sie sind die Strukturmomente des Grundcharakters der „Welt“, nämlich der Bedeutsamkeit: die Weise des Anwesendseins des Werkzeugs an seinem Platz gründet in dem, worauf es in seiner Dienlichkeit verweist. Dieses Wozu und Worum trägt sich in den weiteren Verwendungszusammenhängen, in denen das Besorgen sich bewegt. In diesem nutzenden und gebrauchenden Besorgen begegnet die Natur. Das Besorgen kennt sich in seiner Umwelt aus.

Dasein ist als „In der Welt sein“ zugleich Miteinandersein.: „Miteinandersein“ ist ein dem „In-der-Welt-Sein“ gleichursprünglicher Seinscharakter des Daseins. Die Umwelt lässt die nächstbekannten und vertrauten Anderen begegnen; im umweltlich Besorgten sind die anderen immer schon da als die, mit denen man besorgend zu tun hat. Es ist also nicht die Welt als vorkommender Zusammenhang der Naturdinge, in denen man sich begegnet, sondern die Welt, in der man sich besorgend aufhält. Die Grundweise des Miteinander-Seins-in-der-Welt ist das Miteinander-Reden. Das etwas Besprechen, das Zu- und Abreden in einer Sache hat den Charakter des Aufgehens mit den andern im Besprochenen. Erst auf dem Wege über das „in Rede stehende“ sind die anderen da, die zuhören und Rede stehen.

Mit der Ausarbeitung des Fundamentalcharakters des „In-der-Welt-Seins“ hebt Heidegger zwei Dinge hervor: die „Welt“ als das Womit des besorgenden Umgangs und das „Man“ als das Seiende des Daseins in der nächsten Alltäglichkeit seines Besorgens. Mit der Explikation des Seinscharakters des „Inseins“ führt Heidegger nun in die ursprüngliche Seinsverfassung des Daseins: Das Sein wird in seiner Grundstruktur als die Sorge abhebbar. Der Seinscharakter des In-Seins besagt: die Welt in einer jeweilig umgrenzten Erschlossenheit halten. Dieses besorgende Erschließen des Daseins ist primäres Erkennen, ist Auslegung. Das Fremde ist kein nur Vorhandenes und als solches Gegenstand einer Feststellung, sondern das, womit man zunächst nichts anfangen kann. Es begegnet im Horizont des besorgenden Erschließens und die Frage, was es sei, ist das auslegende Fragen nach dem Wozu.
Das Sichauskennen wiederum ist das Verfügen über die jeweilige, durch das Feld des Besorgens begrenzte Ausgelegtheit. Sofern das Insein als Miteinandersein bestimmt ist, wächst der Ausgelegtheit aus der Bestätigung durch die anderen eine Bekräftigung zu; die Bestätigung gründet in der Wiederholung des täglichen Umgangs. Damit gewinnt das Insein seine volle Bestimmtheit: Das Insein bedeutet das Sein, in dem, als jeweils bestimmter Möglichkeit besorgenden Verweilens, das Dasein sich befindet.

Das angebliche Erschließen der Welt ist ein Verdecken und zwar so, dass das Gerede mit Berufung auf die Öffentlichkeit und Tradition dem Dasein den Besitz allgemein anerkannter und daher echter Wahrheit einredet. Die im Gerede gleichsam verhärtete Ausgelegtheit zieht das jeweilige Dasein in die Seinsweise des „Man“. In der Öffentlichkeit lebt das Dasein weder in der ursprünglich zugeeigneten Welt noch ist es es selbst.