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TAGUNGEN

Nikolaos Loukidelis:
Rosenzweig-Tagung


Vom 4. bis zum 7 Mai dieses Jahres fand in Zürich eine internationale Tagung zum Thema „Die Denkfigur des Systems. Franz Rosenzweig und die Debatte um die Form des Denkens“ statt. Deren Veranstalter waren das Hermann Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich (Leitung: PD Dr. Hartwig Wiedebach) und der Lehrstuhl für Literatur- und Kulturwissenschaft der ETH Zürich (Prof. Dr. Andreas Kilcher).
Die Verbindung von Franz Rosenzweig mit der für die Philosophie maßgeblichen Systemproblematik klingt beim ersten Vernehmen befremdlich. Es ist nämlich bekannt, dass Der Stern der Erlösung, das Hauptwerk Franz Rosenzweigs, vor allem in Kreisen gewirkt hat und wirkt, die sich der Geschichte und Kultur des jüdischen Volkes auf die eine oder andere Weise verbunden fühlen. Weniger bekannt ist jedoch, dass der Autor dieses bemerkenswerten Buches die Bezeichung „jüdisches Buch“ eindeutig zurückweist: Der Stern der Erlösung, sagt er in den nachträglichen Bemerkungen, die 4 Jahre nach seiner Veröffentlichung geschrieben wurden, sei „bloß ein System der Philosophie“.
Diese Bemerkung eröffnete den Veranstaltern die Möglichkeit, eine Tagung zu konzipieren, in deren Rahmen nicht nur die Fragen der Eigenart und der Schlüssigkeit des Systems Rosenzweigs, sondern darüber hinaus die nach dem Zusammenhang von System und Philosophie thematisiert werden konnten. Im Verlauf der Tagung konnte man eine weitgehende Verselbstständigung der letzteren Problematik feststellen, die viele Erträge zu Tage förderte. Vor allem diesen Erträgen der Tagung, die sich in zwei Kategorien einteilen lassen, wird das Augenmerk des vorliegenden Berichts gelten.

Die erste Kategorie von Erträgen ist als Antwort auf die Frage nach den charakteristischen Eigenschaften eines Systems, seiner Leistung mit Blick auf die Hervorbringung von Wissen und den Grenzen dieser Leistung zu verstehen. In diesem Zusammenhang sind die Vorträge von Prof. Dr. Walther Ch. Zimmerli (Cottbus) und Prof. Dr. Karen Gloy (München) ausführlich zu referieren.
Anders als der Titel seines Vortrags suggerierte („Systemzwang: Vollendung philosophischen Denkens oder logozentristische Paranoia?“), unternahm Zimmerli keine Psychiatrisierung des philosophischen Denkens. Die Rede von „logozentristischer Paranoia“ diente dem Referenten zwar als Erinnerung an die Tatsache, dass die menschliche Vernunft in Momenten des Hochmutes und eines blinden Glaubens an ihre eigene Autarkie die Leistung ihrer systembildenden Fähigkeit vollkommen überschätzt. Damit war aber nicht ein Verzicht auf die systematische Darstellung überhaupt beabsichtigt. Zimmerli weiß sich mit einem berühmten Diktum Friedrich Schlegels – das bei der Tagung von weiteren Referenten zustimmend angeführt wurde – im Einklang: „Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.“ Es sei nämlich zum einen ein Bedürfnis der Vernunft in ihrer sowohl logischen als auch intersubjektiven Funktion, den Versuch der Beschreibung und der Ergründung von Zusammenhängen zu unternehmen. Und es wäre zum anderen unsinnig und sogar gefährlich, wenn das (philosophische) Denken in Dogmatismen vergangener Zeiten verfallen würde, in denen der Absolutheitsanspruch von Systemen die verschiedensten Diskurse beherrschte.
Gloy hat in ihrem Vortrag eine Klärung des Systembegriffs unternommen, bei der der Rekurs auf Platon von besonderer Bedeutung war. Das System sei ein Produkt des „logon didonai“ , des bei der Wissenssuche unentbehrlichen Anführens von Gründen. Diese im System vereinigten Gründe stellen − wie auch die Etymologie des Terminus aus dem griechischen „συνίστημι“ nahelegt – keine bloße Aufeinanderhäufung von Komponenten, keine Aggregation, sondern einen geordneten Zusammenhang dar, der analog dem Kosmos (griechisch: Welt, aber auch Wohlordnung, Schmuck) aufzufassen sei. Wie bei der Welt gebe es also im System eine Harmonie, und darüber hinaus eine Zusammensetzung aus vielen Elementen, die eine Einheit, eine Ganzheit bilden.
Hier sind einige Schwierigkeiten anzuführen. Das System lässt sich, so Gloy, niemals mit der Existenz selbst zusammenfallen. Dennoch wohne der systembildenden Tätigkeit der menschlichen Vernunft ein Moment der Verführung inne, dass dies der Fall wäre. Damit hänge auch die Tatsache zusammen, dass die Sprache oft keine entsprechenden Namen zur Bezeichnung eines Sachverhaltes hat oder dass die zur Verfügung stehenden Namen diesen Sachverhalt eher verzerrend wiedergeben als beleuchten. Trotz dieser Schwierigkeiten gilt, was bei der Referierung von Zimmerlis Vortrag betont wurde: das Bedürfnis nach einer zusammenhängenden und allgemeingültigen Mitteilung legt eine systematische Form (im Gegensatz zu einer fragmentarischen) nahe.
Die zweite Kategorie von Erträgen betrifft die Hervorhebung der Einheit von Leben und Werk bzw. System eines Philosophen. PD Dr. Hartwig Wiedebach hatte bereits in seiner kurzen und prägnanten Einführung in die Thematik der Tagung betont, dass – mit Wilhelm Dilthey − die Systeme Objektivationen des Lebens sind und dass die unpersönlich betriebene Philosophie durch die lebendige Gestalt des Philosophen ersetzt werden sollte.
Die in Rede stehende Einheit von Leben und Denken fand dann im Grußwort der Präsidentin der internationalen Rosenzweig-Gesellschaft Prof. Dr. Myriam Bienenstock (Tours) eine geglückte Formel, indem sie einen Vergleich zwischen Hegel und Rosenzweig unternahm: Wenn das System Hegels einer Kathedrale ähnele, dann erinnere das entsprechende Rosenzweigs an eine Synagoge. Bei einem Gebäude haben wir es nämlich nicht nur mit seiner Form zu tun, sondern auch mit einer Lebensform, die – abgesehen davon, dass sie das Gebäude errichtet hat – in ihm wirkt. So richtet sich das Augenmerk – zusätzlich zu den Proportionen des Gebäudes, die mit den logischen Schachzügen des Systems zu vergleichen sind – auf das zwischenmenschliche Geschehen, das durch eine Sprache, ein Ritual und eine Atmosphäre geprägt ist.

Das sich im Arzt-Patient Verhältnis manifestierende zwischenmenschliche Geschehen in seiner Bedeutung für die Systemfrage würdigte der Physiker und Wissenschaftsphilosoph Rainer M.-E. Jacobi (Bonn), dessen Vortrag sich der Medizinischen Anthropologie Viktor von Weizsäckers widmete. Jacobi schloss sich einer für jede Betrachtung des Zusammenhanges von Leben und Denken grundlegenden Feststellung Dieter Henrichs an, nach der ursprüngliche Einsichten gleichermaßen zur Begründung einer Lehre wie eines Lebensweges verhelfen. Wenn man im Leben und Werk Weizsäckers nach einer solchen Einsicht suche, könne man nicht umhin, an die helfende Einstellung des Arztes zu denken, die als Antwort auf die menschliche Not komme. Die Beziehung zwischen dem Hilfesuchenden und dem Hilfeleistenden könne wegen ihres fließenden Charakters und ihrer oft überraschenden Wendungen keineswegs als geschlossenes System dargestellt werden. Sie ähnele vielmehr der aus der Frühromantik stammenden und nicht mit der entsprechenden literarischen Gattung zu verwechselnden Lebens- und Denkform des Fragments.
An dieser Stelle kommt eine vermeintliche Spannung klar zum Vorschein: Die „Systematiker“ würden sich nämlich mit einer bloß fragmentarischen Darstellung der Wirklichkeit keineswegs begnügen und ihr Misstrauen gegenüber den „Lebensphilosophen“ und deren Verfahrensweise noch ein Mal äußern. Dieser spezifische Konflikt löst sich jedoch auf, wenn man bedenkt, dass man durchaus eine systematische Darstellung einer fragmentarisch gegebenen Wirklichkeit geben kann, und zwar im vollen Bewusstsein dieser Fragmentarität. Leider können nicht alle Spannungen zwischen beiden Lagern so leicht aufgelöst werden. Das wurde an einer unvergesslichen Wendung der Diskussion zu Gloys Vortrag deutlich, als sie gefragt wurde, ob denn ein Philosoph, der sein Leben dem „logon didonai“ gewidmet hat, beten könne. Die Zürcher Tagung ließ zwar diese Frage stricto sensu unbeantwortet. Sie bot aber eine niveauvolle Aktualisierung einer wichtigen und leider in den letzten Jahren im deutschsprachigen Sprachraum etwas vernachlässigter Thematik. Das ist ihr eindeutiges Verdienst.

Nikolaos Loukidelis