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DISKUSSION

Universitäten: Die Chancen nutzen, die sich gegenwärtig bieten

Ein Gespräch mit Günter Abel, Andrea Esser und Carl Friedrich Gethmann über die Situation der Philosophie an den Universitäten

Philosophen klagen, ihr Fach sei an den Universitäten unter Druck gekommen, ja gefährdet. Wie schlimm ist die Situation?

Gethmann: Die Situation hat sich verändert, und diese Veränderung bietet neben Risiken auch Chancen. Keinesfalls sind wir aber in der Situation wir vor 35 Jahren, als man Arbeitsgruppen mit dem Titel „Wozu Philosophie?“ einrichtete. Damals gab es gute Gründe zu befürchten, dass Philosophie als akademisches Fach abgeschafft werden könnte. Heute ist dies glücklicherweise nicht der Fall, aber es besteht in der Tat ein erheblicher Veränderungsdruck. Dieser betrifft sowohl die universitäre Lehre wie auch die Rolle der philosophischen Forschung innerhalb der Universität. Es bestehen auch erhebliche Entwicklungschancen in der gegenwärtigen Situation, wie wir sie früher nicht hatten – es hängt davon ab wie wir darauf reagieren. Bislang war die die Philosophie als Orchideenwissenschaft unter den Geisteswissenschaften gewissermaßen eingekerkert. Nun können wir uns – wenn wir es richtig machen – daraus befreien.

Esser: Auch in Situationen von angespannten Veränderungen scheint es mir wichtig, sich Zeit für die Reflexion auf die Darstellungen dieser Situation zu nehmen: Druck – wer erzeugt den mit welchen Mitteln? Was soll der Druck bewirken, wie soll sich das Fach wandeln? Vor allem aber – ist der Druck gut für unser Fach und seine Inhalte?

Abel: Die Universitäten sind gegenwärtig in einer tiefen Umbruchphase. Auch ich sehe für die Philosophie einen Schritt ins Positive und zwar in der Form, dass wir gegenwärtig bei den Universitätsleitungen ebenso wie bei den Wissenschaftsorganisationen (in puncto Forschung, Lehre, Kompetenzzentren) als Fach stärker nachgefragt werden, als dies in den zurückliegenden Jahren der Fall war. In den ganzen, überaus scharf geführten Debatten um Streichungen bei den Universitäten hatte ich nie den Eindruck, dass die Philosophie in ihrer Existenz bedroht war. Von daher bin ich mit Herrn Gethmann der Auffassung, dass wir unsere Stärken betonen und uns nicht so verhalten sollten, als stünden wir mit dem Rücken zur Wand. Vielmehr müssen wir die Unverzichtbarkeit der Philosophie für Idee, Praxis und Zukunftsfähigkeit der Universität herausstellen.

Wie sieht es mit der Zahl der Philosophieprofessuren an den Universitäten aus?

Gethmann: In den letzten zwei Jahren war nur ein Fall relevant, nämlich Siegen. Da konnte die Streichung abgewehrt werden. Der Legitimationsdruck kann allerdings schon dazu führen, dass an einem Ort eine Stelle gestrichen wird. Die Situation ist aber in der Philosophie nicht anders als bei sehr vielen, ja vielleicht sogar bei allen anderen Fächern auch. Während früher die Philosophie punktuell unter Druck stand, stehen heute alle unter Druck. So hat beispielsweise meine Universität den Studiengang „Ökologie“ – ganz gegen den Zeitgeist – eingestellt. Auch so etwas geschieht. Uns bleibt nichts anderes übrig als die Konkurrenzsituationen anzunehmen, Streichungsaktionen abzuwehren, Verhandlungen intelligent zu beeinflussen und die sich anbietenden Möglichkeiten zu nutzen.

Gibt es Zahlen über bedrohte Stellen?

Gethmann: Uns werden auf Verbandsebene an sich alle Vorgänge gemeldet, und ich habe angeboten, dass wir auch als Gesellschaft die Philosophen vor Ort unterstützen. Nach wie vor haben wir in Deutschland 156 Lehrstühle bzw. Professuren, und ich sehe wirklich nicht, dass da etwas groß in Bewegung geraten ist.


Philosophie muss mit anderen Fächern zusammenarbeiten. Es entstehen ganz neue Kombinationen. Was bedeutet dies für das Fach?

Abel: Das ist ein wichtiger und positiver Punkt. Die Philosophie steht seit ihren Anfängen in der Nähe zu den Wissenschaften. Dass sich die Philosophie nicht in ein Residuum zurückzieht, in dem sie einzig Probleme behandelt, die nur rein innerphilosophischen Charakters sind, sondern dass wir das Fach auch an der Schnittstelle zu den Wissenschaften positionieren, dies halte ich im Blick auf die Zukunftsfähigkeit der Disziplin für einen ganz wichtigen positiven Punkt. Es gibt ja unterschiedliche Formen solcher Zusammenarbeit. An der TU Berlin beispielsweise haben wir in der Philosophie nicht genügend Kapazitäten, um sowohl einen Bachelor- als auch einen Master-Studiengang durchzuführen. Deshalb haben wir uns beim Bachelor-Studiengang mit drei anderen Fächern zusammengetan – für das Fach Philosophie ist das von großem Vorteil, können wir uns doch so auf den stärker forschungsorientierten Masterstudiengang „Philosophie des Wissens und der Wissenschaften“ konzentrieren und damit das Profil des Faches an der TU stärken. Allerdings darf man nicht dazu übergehen, jetzt Philosophie generell nur noch in Engführung mit einem anderen Fach, etwa Ökonomie, im Masterstudiengang anbieten zu wollen.

Esser: Positiv finde ich, dass man mit anderen Wissenschaften kooperiert und aus kleinteiligen Diskussionen herauskommt, wie sie sowohl im systematischen wie auch im historischen Bereich gelegentlich geführt werden. Erstere sind über das Fach hinaus ihres Komplexitätsgrades wegen nicht mehr kommunizierbar (auch wenn es freilich eine Fachsprache weiterhin geben muss). Die historisierende Philosophie wiederum kann durch ihre Philologisierung problematisch und hermetisch werden. Andererseits besteht aber die Gefahr der Reduktion originär philosophischer Anteile in Lehre und Forschung. Gerade bei kleinen Instituten kann es für die Studierenden eine Kanonisierung der Lehrinhalte zur Folge haben. Es mangelt dann an Pluralität und Anregungen, was umso wichtiger ist, als die Wahrheit in der Philosophie ja gleichsam erstritten werden muss. Auch muss man noch eine tiefergehende Forschung in der Philosophie gewährleisten können – bei den neuen kombinierten Studiengängen sehe ich dazu wenig Gelegenheit, zumal wenn diese von vornherein auf Anwendbarkeit und Praxisnähe ausgerichtet sind.

Abel: Auf der Ebene der Bachelor-Ausbildung ist dies durchaus richtig. Ich persönlich setze aber einen deutlichen Schnitt zwischen Bachelor und Master und konzentriere mich ganz auf die Master-Ausbildung, die forschungsphilosophische Fragestellungen betrifft. Man muss den „Staubsauber-Effekt“ ausmanövrieren. Mit „Staubsauber-Effekt“ meine ich, dass für die Durchführung des doch sehr verschulten Bachelor-Studiums so viele Kapazitäten gebunden werden, dass für den „Master“ gar keine Luft zum Atmen mehr da ist. Wichtig ist deshalb, dass man für die innerphilosophischen Probleme Kapazitäten freihält. Wenn dies für den Master gelingt – der im konsekutiven Sinne der universitäre Regelabschluss sein sollte –, dann sieht die Situation des Faches in keiner Weise schlechter aus als bei den bisherigen Magisterstudiengängen.

Gethmann: Sogar besser. Man muss das auch historisch sehen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist die Philosophie als Leitwissenschaft der Universität angetreten. Und wo sind wir jetzt? Die Philosophie ist ein beliebiges Kleinfach bei den sogenannten Geisteswissenschaften. Der Bezug zu den Naturwissenschaften und anderen Disziplinen ist uns de facto verloren gegangen. Was die Philosophie als Wissenschaftstheorie betrieben hat, ist von den Naturwissenschaften kaum rezipiert worden. Nun ändert sich die Situation. Wir sind nun beispielsweise auch für Mediziner wieder ein Fach, an dem man nicht vorbeikommt. Studiengänge wie Gesundheitsökonomie oder Biotechnologie verlangen zwingend Ethik als Unterrichtsfach. Es gibt auch ganz neue Studiengänge. Vor zwanzig Jahren hat sich ein Ökonom doch nicht um Philosophie gekümmert, heute besteht ein Studiengang „Philosophy and Economics“. Wir kommen nun wieder in eine Beziehung zu allen Fächern. Das sind intellektuelle Gewinne.

Natürlich müssen wir auch über die Kosten reden. Eine Gefahr sehe ich in einer gewissen Schmalspurigkeit des Bachelor-Studiengangs. Dieser stark verschulte und kanonisierte Studiengang führt in seiner ganzen Anlage hinter die Humboldtsche Studienreform zurück. Das ist der Preis für die gestuften Abschlüsse. Was ein Philosoph wissenschaftlich treibt, ist nicht direkt durch seine Lehraufgaben determiniert. Aber wenn ein neuer Typ von Lehrenden aufkommt, beispielsweise Lecturer mit einem Pensum von 18 Stunden, dann sehe ich Probleme, weil für die Forschung dann keine Kräfte mehr übrig bleiben. Dies sind die Tendenzen, gegen die wir Widerstandskräfte entwickeln müssen.

Abel: Ich möchte ein anderes Beispiel nennen. Die Mathematiker, die Informatiker ebenso wie die Physiker kommen jetzt auf uns zu und stellen von sich aus die Frage, wie innerhalb der Master-Studiengänge ihrer Fächer die Philosophie so wie bislang eingebaut werden kann. Bislang konnte Philosophie z.B. an der TU Berlin in den Diplomstudiengängen als Nebenfach im Umfang von 16-20 Wochenstunden studiert werden. Solche Quervernetzungen müssen wir auch für die neuen Studiengänge erreichen.

Dadurch, dass die Philosophie mit anderen Studiengängen zusammenarbeiten muss, entstehen verschiedenartige Kombinationen. Wird dadurch nicht die Einheit des Faches gefährdet?

Gethmann: Wir sprechen hier nur von der Lehre. Wenn eine medizinische Fakultät sich einen Philosophen holt, so wie die Juristen sich einen Rechtsphilosophen holen – das wäre problematisch. Aber wenn sozusagen die Medizinethik von der Philosophie aus lehrmäßig bedient wird, dann heißt das nicht, dass der, der das macht, gewissermaßen verarmt – er kann ja weiterhin seine philosophische Ethik betreiben, wie er es immer gemacht hat. Die Serviceleistung, die man in der Lehre bringt, muss nicht unmittelbar auf die Forschungsarbeit durchschlagen.

Abel: Wir müssen aufmerksam verfolgen, was an den Universitäten geschieht. Wenn jemand im Akademischen Senat einer Universität vorschlägt, Ethik bei den Medizinern einzuführen, dann müssen wir sofort reagieren und das Feld aus der Philosophie heraus besetzen. Eine andere Frage ist die nach der Einheit der Philosophie. Die sehe ich nicht gefährdet. Sie kann nur gefährdet werden, wenn unsere Fachvertreter und Fachvertreterinnen in den Institutionen die Entwicklungen, die in den Universitäten laufen, verschlafen. Auch die komplementäre Gefahr der Zersplitterung in Generalisten und Spezialisten innerhalb des Faches, die ja auch oft ins Feld geführt wird, sehe ich nicht als konkrete Gefahr.

Esser: Diese Gefahr lässt sich gerade im Fall der von Ihnen eben angesprochenen „Angewandten Ethik“ deutlich aufzeigen: Kooperation mit anderen Fächern ist schnell möglich auf der Grundlage eines rein pragmatischen, unreflektierten Ethikverständnisses, das mit einem Poutpourri von Ansätzen und Problemlösungen nach dem Baukastensystem verfährt. Dagegen zu zeigen, wie eine methodisch geleitete moralische Reflexion aussehen kann, ist wesentlich aufwendiger und mit der Bereitstellung nur eines Moduls nicht zu machen. Ich habe da konkrete Beispiele vor Augen: Sowohl an der Hochschule für Gestaltung in Pforzheim als auch an der Technischen Hochschule Aachen hat man versucht, eine Verzahnung zwischen der Philosophie und praktischen Fächern der Gestaltung oder technischen Fächern herzustellen – wobei die Initiative durchaus von der Philosophie ausging. Es war aber vor allem geplant, solche Verbindungen in der Betreuung von Abschlussarbeiten herzustellen. Allerdings ist zu diesem Zeitpunkt eine tiefergehende Auseinandersersetzung mit den oft ja grundverschiedenen Methoden und Bearbeitungsweisen für die Studierenden meistens nicht mehr möglich. Man müsste deshalb mit der Verzahnung viel früher anfangen und bereits im Grundstudium Pflichtkurse einrichten, in denen die verschiedenen Arbeitsformen der jeweiligen Wissenschaften erarbeitet werden.

Abel: Aus Berliner Erfahrung sehe ich durchaus eine Offenheit dafür, philosophische Anteile in den anderen Wissenschaften und Künsten nicht erst post festum, sondern von Anfang an in das Studium einzubringen. So sollte beispielsweise Ethik (etwa die Frage „Was unterscheidet eine moralische Argumentation von anderen Typen von Argumentationen?“ von Beginn an in die Studiengänge implementiert werden. Wenn die Philosophie auch nur 5 Prozent eines Wochenstudienkontingentes für derartige philosophische Grundlagen in anderen Disziplinen verankern könnte, wäre dies hervorragend. Es macht wenig Sinn, mit der Ethik zu kommen, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist.

Gethmann: Die Frage ist, was das für andere Fächer sind. Wenn ich beispielsweise ein medizinethisches Problem in einem Modul zusammen mit einem Chirurgen diskutiere, halte ich das durchaus für hilfreich. Was Aachen betrifft, hatte ich den Eindruck, alle gefährdeten Fächer suchten gewissermaßen nach dem Motto „Wir sind alle im sinkenden Schiff“ zusammenzuarbeiten und dann musste man mit einem Germanisten oder einem Byzantinisten in irgendein Modul gehen. Das ist die gefährliche Kopplung, die ich als „Vergeisteswissenschaflichung“ der Deutschen Philosophie bezeichne. Es ist nicht nur der „hermeneuticus philosophicus“, d.h. dass wir die eigene Tradition pflegen (was Herbert Schnädelbach schon vor zwanzig Jahren zurecht kritisiert hat), sondern das wir uns sozusagen in das Magnetfeld anderer ziehen lassen. Es hat ja an den Technischen Universitäten schon Philosophie gegeben als die noch gar nichts mit Lehrerausbildung zu tun hatten. Deswegen sollte man jetzt nicht nach dem Motto „Die Lehrerausbildung muss bleiben, damit die Philosophie bleibt“ handeln. Es kann durchaus sein, dass in Aachen die Lehrerausbildung wegfällt und die Philosophie doch bleibt. Also: Vorsicht mit den Allianzen!

Esser: Sie meinen damit Isolationsallianzen?

Gethmann: Gewissermaßen die Solidarität der Gescheiterten.

Abel: An der TU Berlin haben wir auf die Lehrerausbildung verzichtet, um einen forschungsorientierten Masterstudiengang mit Fokus auf Wissen und Wissenschaften kapazitär aufbauen zu können. Von dem Moment an haben wir übrigens keine hochschulpolitischen Probleme mehr gehabt in Bezug auf die Frage von Mehrfachangeboten an den drei Berliner Universitäten

Gethmann: Die Bonner haben aus Elitebewusstsein, vielleicht sogar aus Arroganz, die Lehrämter ohne Widerstand nach Köln weggehen lassen und die Philosophie dort gibt sich nun ein ganz anderes Profil – die Lehramtsbezogenheit und die Vergeisteswissenschaftlichung waren ja auch eine Fessel. Diese brachte zwar nicht nur, aber doch sehr viele Nachteile mit sich. Ich sehe also vor allem Chancen. In zwanzig Jahren wird man beurteilen können, ob unsere Generation diese Chancen auch ergriffen hat.

Abel: Ja, die Allianzen: es gibt gute und schlechte. Bei den guten geht es gewissermaßen darum, die Philosophie aus ihrem Schmollwinkel heraus an die Schnittstellen zu den Wissenschaften und Künsten zu bringen. Das halte ich für eine von Grund auf wichtige Strategie. Sich aber von den Wissenschaften einfangen zu lassen und nur nachträglich noch einmal zu reflektieren, was die Wissenschaften in ihren Praktiken ohnehin besser tun als wir, das wäre für die genuinen Fragestellungen des Faches Philosophie sehr gefährlich, keine gute Allianz. Worum es an diesen Schnittstellen geht, sind Fragestellungen genuin philosophischer Art, die beispielsweise in den Naturwissenschaften so nicht explizit zum Thema gemacht werden können und auch nicht sollen. Wenn der Physiker mit einem Experiment und einer Messung anfängt und sich gleichzeitig philosophische Fragen stellt, dann ist er weder ein guter Physiker noch wird er dadurch zum Philosophen. Wir hingegen können die Philosophie als Reflexionswissenschaft par excellence und durchaus auch als Handwerk einbringen – das finde ich persönlich sehr spannend.
Die Situation der Philosophie ist heute offen, unsere Schiffe können wieder in einer Weise auslaufen, wie dies lange nicht mehr der Fall war. Diese Chance müssen wir ergreifen, insbesondere in der Grundlagenforschung, aber auch in der universitären Lehre.

Esser: Wunderbar optimistisch. Aber man muss sich, wie gesagt, klar machen, dass man sich vorher lange mit den Methoden der jeweils anderen Disziplin beschäftigt haben muss, um mit einer solchen Reflexion überhaupt erst beginnen zu können. Oftmals wird aber zu einem bestimmten Projekt einfach eine Vertreterin oder ein Vertreter aus der Philosophie hinzugezogen, damit diese dann noch etwas dazu aus ihrem Fach zum Projekt beitragen. Dabei hat man sich zuvor weder weder über die Methode und Verfahren der anderen noch über die eigenen verständigt.

Gethmann: Die Philosophie bildet dann sozusagen noch das Ornament.

Esser: Ganz genau. So zu verfahren ist aber auch für die Philosophie schädlich und wirkt irgendwann sogar auf das Selbstverständnis des Fachs zurück. Denn suggeriert wird ja auf diese Weise auch, dass von der Philosophie schnell eine Antwort auf allerlei Fragen zu erwarten sei. Die Philosophie als Reflexionswissenschaft aber kann dies nicht, oder wenigstens nicht seriös leisten. Unterstellt man den philosophischen Beitrag dem Anspruch schneller Patentlösungen, dann produziert man damit eher Enttäuschungen.

Gethmann: Die Physiker beispielsweise sehen es als ihre höchste Mission an, Physik für Mediziner und Physik für Bauingenieure zu liefern. Darüber hinaus muss es aber auch noch Physik geben. Entsprechend müssen wir als Philosophen unser Proprium bestehen und vor allen Dingen auch in der Forschung über das Verwalten des Tresors der Argumente hinaus genuine Argumentationsformen liefern und nicht immer nur Kommentare zu dem, was andere machen, geben. Gelingt uns dies, dann werden uns die anderen Wissenschaften heranziehen. Wir müssen also ein gesundes Autonomiebewusstsein und eine gewisse Servicementalität in ein gesundes Gleichgewicht bringen. Dies ist gegenwärtig unsere Aufgabe.

Abel: Sicher müssen wir uns davor hüten, gewissermaßen als Pausenclowns oder als nachträglich Reflektierende aufzutreten – das kann nicht unsere Aufgabe sein. Auch die anderen Wissenschaften (aus der TU Berlin weiß ich dies von der Mathematik und der Physik) wollen das nicht. Sie wollen wissen, was die Philosophie konkret zu Forschungen beitragen kann, was ein Argument ist und was Argumentationsformen sind. Keinesfalls wollen sie eine Dublette von dem hören, was sie innerhalb ihrer Wissenschaften selber machen. Ich sehe keine grundsätzlichen Schwierigkeiten, als Philosoph mit den eigenen Forschungsaktivitäten in diesen Dialog einzutreten. Ganz im Gegenteil: der Sache nach werden wir verlangt und wir sind gefordert. Keine schlechte Situation, oder?!

Gethmann: Was Stufenabschnitte betrifft (Stichwort Bologna), ist die Situation gegenwärtig unübersichtlich. Es ist noch nicht festgelegt, welches Profil die Abschlüsse haben. Im angelsächsischen Bereich heißt ja BA alles mögliche – vom nachgeholtem Abitur bis hin zum hochnotablem Abschluss, der bei großen Firmen und im staatlichen Bereich anerkannt ist. Eine große Gefahr sehe ich in dem Popanz „Praxisbezug“. Im angelsächsischen Bereich wird nicht gefordert, dass der BA unmittelbar praxisrelevant sein muss. Denn das unterstellt, dass der kurze Abschluss der praxisrelevante und der lange Abschluss der theorierelevante ist. Angemessener wäre die Umkehrung. In den ersten sechs Semestern erlernt man ja erst die Grundlagen und wird nicht sofort mit dem Thema „Wie leite ich eine Bank?“ vertraut gemacht.

Den Beruf eines Philosophen gibt es ja gar nicht..

Gethmann: Wir haben nie zum Beruf des Philosophen ausgebildet. Wir haben immer nur versucht, intelligente Leute auszubilden, die alles Mögliche können. Die Sache mit den Lehrämtern ist eine Verlegenheitslösung. Zwar gehen die meisten Philosophen ins Lehramt, bereits an zweiter Stelle steht die Unternehmensberatung. Aber wir bilden doch keine Unternehmensberater aus. Ich halte es auch im Hinblick auf andere Fächer für falsch, unmittelbar auf Berufsprofile hinzuführen. Das wäre ein Fehlverständnis von Praxisrelevanz. Diese veralten sehr schnell, akademisches Wissen soll vielmehr ein prozedurales Wissen derart sein, dass der Absolvent ständig in der Lage ist, sich auf neue Verhältnisse einzustellen. Ich vermeide das Wort „anpassen“, „sich einstellen“ kann auch ein reaktives, sogar ein protestierendes Sich- Einstellen sein, aber diese Flexibilität hat Dauer, während ein unmittelbares Berufsprofil im Handumdrehen veraltet ist.

Abel: Die Halbwertszeit unserer Wissensform ist erstaunlich lang.

Gethmann: Auch das System der Elemente hat sich seit hundert Jahren nicht verändert.

Abel: Aber ich wiederhole es: die Antwort auf die Frage, was eine Argumentation ist und worin sich zum Beispiel eine moralische Argumentation von anderen unterscheidet, hat nicht die gleiche Halbwertszeit wie die Frage, ob die Katalysatorchemie nächste Woche noch von der gleichen Art ist wie heute.

Gethmann: Ein zweiter Punkt ist: Wir dürfen nicht soweit gehen, dass alle Bausteine für sich auch praxisrelevant sein müssen. D.h. wenn ich jetzt ein Seminar über Modallogik anbiete, muss ich nicht noch beweisen müssen, dass Modallogik für sich genommen praxisrelevant ist. Sondern es muss so etwas wie curriculare Konsekutionen geben, Module die aufeinander aufbauen – das haben wir in der Vergangenheit als Philosophen nicht erreicht und das müssen wir heute und das finde ich auch gut so. Natürlich gibt es dabei Alternativen, es gibt nicht den einen Weg - die eine Universität kann dies so, die andere anders machen: in dieser Pluralität liegt auch eine große Chance. Aber wir müssen auf jeden Fall das Recht haben, auch gewisse curriculare Bausteine zu vermitteln, die relevant sind für andere. Das sind alles Probleme, die jetzt gerade in den akademischen Gremien diskutiert werden und da müssen eigentlich alle Kollegen, die heute Professoren sind, aufpassen, dass auch Regeln gefunden werden, die für die Philosophie passen und nicht kurzatmige BWL-Ausbildungen jetzt die Modelle abgeben.

Günter Abel ist Professor für Theoretische Philosophie an der Technischen Universität Berlin, Andrea Esser ist Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Marburg und Carl Friedrich Gethmann ist Professor für Philosophie an der Universität Duisburg-Essen, Direktor der Europäischen Akademie GmbH sowie Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie.