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DISKUSSION

Petra Gehring:
Ethik, Medizinische: Von der Sterbehilfe zum assistierten Suizid

Eine Kritik sterbepolitischer Umbauversuche

„Der Tod, der anonym an der alltäglichen Existenz des Lebendigen nagt, ist derselbe wie der […], von dem ausgehend sich mir mein empirisches Leben ergibt.“
(Michel Foucault, Ordnung der Dinge, S. 381)

Tendenzen zweier Interventionen

Im Juli des Jahres 2006 veröffentlichte der Berliner Nationale Ethikrat eine Stellungnahme Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende. Kurz darauf, im September 2006 beschäftigte sich der Deutsche Juristentag in Stuttgart mit dem Thema Patientenautonomie und Sterbebegleitung; auch hier wurden – empfehlungsartig – Beschlüsse zur Strafrechtspolitik sowie zu vormundschaftsrechtlichen und zivilrechtlichen Aspekten der Sterbehilfe gefasst.

Die Stoßrichtung beider Interventionen ist durchaus vergleichbar: Die bisherige Rechtslage lasse zu wünschen übrig – und zwar in puncto „Patientenautonomie“ und einer den „Gesamtbereich (potentiell) lebensverkürzender Maßnahmen“ umfassenden Rechtssicherheit. Rund um das „Ende des Lebens“ und den „verantwortlichen Umgang mit dem Sterben“ sei die Selbstbestimmung des Einzelnen über seine Person bzw. „über seinen Körper“ zu stärken. In Fällen der Kollision von Fürsorgepflicht und Selbstbestimmung gebühre der Selbstbestimmung der Vorrang, und dieses schließe auch Behandlungsabbrüche aufgrund mutmaßlichen Willens mit ein – sowie Fälle, in denen ein Sterbeprozess im eigentlichen Sinne noch gar nicht begonnen hat. Neben der Etablierung der Patientenverfügung (als einem Instrument zur Dokumentation desjenigen Willens, den die ärztliche Entscheidung im Zweifel als maßgeblichen Patientenwillen zugrunde legen soll) laufen beide Papiere, das des Ethikrates und das der Juristen, jedoch vor allem auf eines hinaus: auf eine diskrete, aber deutliche Verschiebung in der rechtlichen Wertung des Handelns des Arztes.

Nicht nur das deutsche Strafrecht, sondern überhaupt die europäische Rechtskultur räumt dem Arztberuf ein besonderes Straflosigkeitsprivileg in Sachen Körperverletzung ein. Wenn ich in eine Körperverletzung einwillige, die ein Mediziner kunstgerecht vornimmt, so gilt – obwohl Blut fließt und vielleicht sogar ein Leben auf dem Spiel steht – die physische Friedenspflicht zwischen Bürgern als gewahrt. Das Gewaltmonopol des Staates, welches das Tötungsrecht regiert, wird ausnahmsweise nicht verletzt. Diesen Sachverhalt regeln unsere Strafgesetzbücher allerdings bis auf wenige Sondertatbestände implizit. Es gibt also keine explizite strafgesetzliche Erlaubnis zur Körperverletzung oder auch Beteiligung an lebensgefährlichen Eingriffen, die den Arzt zu solchen Handlungen ermächtigt, sondern die Rechtsfigur ist eine nachgeschaltete: Man geht – im Falle von Einwilligung und kunstgerechtem Charakter der Maßnahme – von einer strafausschließenden Gerechtfertigtheit der medizinischen Handlung aus. Mit anderen Worten: Eine Körperverletzung ist auch dem Mitbürger Arzt im Prinzip verboten. Die medizinische Situation trägt aber Züge einer rechtfertigenden Notwehrlage, welche die einvernehmliche physische Gewaltausübung in der beruflichen Rolle legitimiert.

In einer vom Strafrecht nicht explizierten Gerechtfertigtheitszone bestimmt das ärztliche Standesrecht, was als gute medizinische Praxis zu gelten hat – bis wohin der Arzt also als Arzt gerechtfertigt handelt und von wo an auch in der Person des Arztes die Grenze zum gewalttätigen Mitbürger beginnt. Das Strafrecht hält den zivilen Raum also grundsätzlich gewaltfrei. Mord, Totschlag, in Deutschland auch die Tötung auf Verlangen sind allen Bürgern verboten. Das kausale Handeln von Ärzten am Sterbebett untersteht jedoch zwei möglichen Rechtsfiguren. Denn was den Tod nach sich zieht, kann ja dennoch – man denke an eine riskante Rettungsoperation – eine gerechtfertigte medizinische Handlung sein.


Die deutsche Rechtsprechung der Nachkriegszeit hatte zum Zweck der Normierung des potentiell tödlichen Tuns der Medizin rund um das Handeln des Arztes eine durchaus unklare Terminologie von „aktiver“ und „passiver“ bzw. „indirekter“ Intervention am Lebensende entwickelt. Das Wort Euthanasie wurde – ein deutsches Sonderproblem – krampfhaft vermieden, das Verbot der „aktiven Sterbehilfe“ wurde betont, die Worte Tod und Tötung wurden umgangen. Im ärztlichen Standesrecht firmieren strafrechtsferne Termini wie „Maßnahmen am Lebensende“ oder (nach Schweizer Vorbild eingeführt) die Wendung von der „Änderung“ des Behandlungszieles in der terminalen Phase eines „irreversibel“ zum Tode führenden Krankheitsverlaufs.

2006 tut der deutsche Nationale Ethikrat nun drei bemerkenswerte Schritte. Zum einen schlägt er für die gesamte öffentliche Debatte eine Umbenennung der Bezeichnungen des in Rede stehenden Handelns vor. Statt „aktive“ von „passiven“ oder „indirekten“ Tötungshandlungen zu unterscheiden, solle man besser sprechen von (1) Sterbebegleitung, (2) Therapie am Lebensende, (3) Sterbenlassen, (4) Beihilfe zur Selbsttötung und (5) Tötung auf Verlangen. Auffallend an der neuen Terminologie ist die konsequente Verengung des Blicks auf eine quasi-medizinische Perspektive. Nur unter der Voraussetzung, dass es um das Handeln von Medizinern geht, haben die beiden Tatbestände „Therapie am Lebensende“ und „Sterbenlassen“ ihren Sinn, die der Ethikrat normieren will. Die Unterlassung einer lebenserhaltenden Maßnahme wird als Verzicht auf eine (bestimmte) Therapieleistung – also als eine rein fachmedizinische Entscheidung deklariert. Der Ethikrat konkretisiert: Es gebe die jeweils zu regelnden Varianten eines „Sterbenlassens auf Verlangen“ oder eines „Sterbenlassens in aussichtsloser Situation“. Beides solle dem Mediziner gesetzlich ebenso freigestellt werden wie die Änderung des Therapiezieles am Lebensende.

Die Verschiebung des Fokus

Der Fokus wird dabei von der Handlung zum subjektiven Zweck der Handlung verschoben. Die Frage der Legitimität einer medizinischen Maßnahme wird allein an das „Ziel“ gebunden, die sie verfolgt. Mit anderen Worten: Die bloße Tatbestandlichkeit einer Handlung mit Todesfolge, die Frage also, ob eine etwa tödliche Medikamentengabe Therapie oder Tötung „ist“, richtete sich nun nur noch danach, ob die ärztliche Handlung den Tod bezweckte. Nur wenn die Absicht der Tötung nachgewiesen wird, hat der Arzt am Lebensende noch getötet. Nimmt man das beim Wort, so wäre am Lebensende noch nicht einmal mehr der Behandlungsfehler eine deliktische Handlung – er wäre jedenfalls kein Fall für das Tötungsrecht. Das Strafrecht selbst will der Ethikrat nicht antasten. Die „Tötung auf Verlangen“ (§ 216 StGB) wie auch alle generellen Tötungstatbestände im deutschen Strafrecht sollen unverändert erhalten bleiben.

Was heißt das im Klartext? Die Bewertung des Handelns des Arztes am Bett des Schwerkranken wird noch grundlegender als bisher vom Handeln des Normalbürgers abgetrennt. Der Tatbestand der Tötung, der ja, wie jeder weiß, auch durch Unterlassung verwirklicht werden kann, bleibt ganz generell erhalten. Für die Medizin am Lebensende existiert er jedoch schlicht nicht mehr.

Assistierter Suizid

Der Ethikrat diskutiert außerdem, und das ist ein weiterer bemerkenswerter Schritt, ein
Thema, welches das deutsche Rechtssystem bisher gar nicht kennt: den assistierten Suizid. Durch die internationale Right-to-die-Debatte und durch die besondere Strafrechtsdogmatik der Schweiz, vor deren Hintergrund Sterbehilfe-Dienstleister wie Exit e. V. oder Dignitas e. V. inzwischen auch international aktiv sind, ist diese Figur einer „Assistenz“ gewissermaßen „zum“ Freitod inzwischen auch in Deutschland öffentlich präsent. Der Ethikrat diskutiert für Deutschland allein den medizinisch assistierten Suizid, also die Frage, ob im Falle eines Bilanzsuizids Ärzte sich beteiligen, etwa ein Gift bereitstellen sollen. Hier bestehe in seinen eigenen Reihen Uneinigkeit, teilt der Ethikrat mit, nach Auffassung eines Teils seiner Mitglieder „sollte es Ärzten möglich sein, einem Patienten bei der Durchführung eines Suizids behilflich zu sein, sofern ein unerträgliches und unheilbares Leiden des Patienten vorliegt, die Entscheidungsfähigkeit des Patienten gegeben ist und sein Wunsch zu sterben – nach Beratung und ausreichender Bedenkzeit – als endgültig anzusehen ist.“ (S. 56) Auch die organisierte Beihilfe zum Suizid möchten einige Mitglieder des Gremiums ermöglicht sehen. Die ärztliche Gabe des Todes nicht nur als Form der Krankenbehandlung, sondern als Beteiligung von Ärzten am Suizid oder womöglich organisierter Suizidhilfe: Diese für Deutschland neue Option zu erwägen, ist eine kleine Sensation.
Der Juristentag bezieht eine noch deutlichere Stellung. Zum einen wollen die anwesenden Juristen die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen als „straflose Behandlungsbegrenzung“ und – praktisch folgenreich! – überhaupt schon die Vornahme lebenserhaltender medizinischer Maßnahmen als ausdrücklich zustimmungsbedürftig geregelt sehen. Und zum anderen befürwortet der Juristentag die Aufhebung der standesrechtlichen Missbilligung des ärztlich assistierten Suizids – und zwar im Gegensatz zum Ethikrat sogar mit einer klaren Mehrheit.

Diese Vorschläge verlagern die Sterbehilfe-Problematik aus dem Themenkreis der Tötung heraus. Das Strafrecht und die berufsständische Sonderzone des Medizinrechts werden auseinander gerückt. Zugleich wird das Arztprivileg in Sachen Behandlung mit Todesfolge begrifflich gehärtet. Und schließlich finden wir das Berufsbild des Arztes radikal verändert: Eine der europäischen, hippokratisch geprägten Tradition vergleichsweise fremde Option – die Beteiligung von Medizinern am Suizid – steht erstmals zur Diskussion.

Sterbepolitik

Man kann hier von „Sterbepolitik“ sprechen. Dies Wort bedarf der Erklärung. Weder ist der Ruf nach expliziter Normierung legaler Tötungsstandards ein genuin medizinisches Anliegen, noch haben wir bei den aktuellen Veränderungen der national unterschiedlichen Institutionalisierungsformen der legalen Tötung lediglich einen umständebedingten, kontingenten Wandel vor uns. Vielmehr haben wir mit dem Sterbhilfe-Syndrom tatsächlich Politik, eine Art Lebenspolitik, eine gestaltende Sozialpolitik in Sachen Tod vor uns. Gleichzeitig ist eine bezeichnende Konvergenz der in Europa über lange Zeit divergenten Sterbehilfe-Pfade zu beobachten. Vielleicht nicht in ihrem inneren Sinn, aber doch in ihrem Wie gestaltete sich der Tod von dritter Hand in Europa bisher verschieden. In dem Maße, wie das Sterben zum Politikfeld wird, gleichen die Verfahren sich an. Tritt damit so etwas wie ein gemeinsamer innerer Sinn jener modernen bioethisch-medizinischen Figur des Sterbehilfe-Todes zutage? Zu fragen ist weiter: Stellt sich nach einem guten Jahrhundert gewichtiger nationaler Divergenzen und mit Abstand zu den biomedizinischen Menetekeln des Nationalsozialismus so etwas wie eine erste gemeinsame Normalität, ein Konsens über bestimmte Formen biopolitischen Tötungshandelns her?

Autonomie und „Lebenswert“

Die Entstehung des liberalen Sterbehilfe-Diskurses lässt sich erstaunlich genau datieren. Die Programmatik einer „Autonomie“ im Sterben, die genau darin bestehen soll, dass nicht etwa ich mich selbst umbringe, sondern mein Wille sich darin realisiert, dass jemand anderes, ein Dritter also, an mir die tödliche Handlung vollbringt – diese Programmatik entstammt dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Als Gewährstexte für diese neue Autonomiefigur lassen sich Georg Simmels Einleitung in die Moralwissenschaft (1893), Adolf Josts Das Recht auf den Tod (1895) sowie Ernst Haeckels Lebenswunder (1904) nennen. Entscheidend neu ist, dass alle drei Autoren die auf einer Bilanzierung eines objektiven „Wertes“ – bei Jost und Haeckel explizit: eines „Lebenswertes“ – beruhende freie individuelle Entscheidung gegen das eigene Weiterleben amalgamieren mit einer gesellschaftlichen Wertbilanz. Dieser allgemeinen Wertlogik zufolge sollte ein Individuum auch vom sozialen Standpunkt aus betrachtet ab einem bestimmten Punkt nicht mehr weiterleben. „Es kann […] keinem Zweifel unterliegen“, heißt es bei Jost, „daß es thatsächlich Fälle giebt, in welchen, mathematisch gesprochen, der Werth eines Menschenlebens negativ wird. In diesem Fall haben wir also thatsächlich ein Recht auf den Tod principiell anzuerkennen.“ In solchen Fällen liege es „nicht blos im Interesse des Staates oder der Allgemeinheit, sondern mindestens ebenso im Interesse des Individuums selbst, daß der Tod eintrete.“ (Jost, Das Recht auf den Tod, S. 18) Dieser Gedanke einer zum einen objektiven und zum zweiten sozialen, und zwar genauer: sozialstatistischen Wert-Bilanz bildet den gemeinsamen Kern einer Politik des Sterbens um 1900. Der Gedanke der Lebenswertermittlung kann dabei sowohl im Sinne eines paternalistischen (oder rassistischen) Gnadentodmotivs populär ausgemünzt werden als auch im Sinne einer Individualethik des zu einem objektivierbaren Zeitpunkt fälligen „autonomen“ Schrittes in ein Sterben, für dessen Institutionalisierung, durchaus konsequent, die Gesellschaft zu sorgen hat – weil sie diesen „Dienst“ dem eigenverantwortlichen Individuum geradezu schuldet.

Es wäre verkehrt zu sagen, dass Sterberechtsforderungen um 1900 die nationalsozialistische Politik der Vernichtung von „lebensunwertem Leben“ verursacht haben. Aber ich halte das Motiv der Tötung der biomedizinisch bzw. bioökonomisch Wertlosen und die autonome Sterbehilfe für zwei Seiten ein und derselben lebenspolitischen Medaille. An dem klaren Votum des sozialhygienischen Denkens für „Ethik“ als Mittel biologischer Politik lassen die einschlägigen reformmedizinischen Diskurse um 1900 keinen Zweifel. Alte Right-to-die-Gesellschaften wie etwa die US amerikanische Hemlock Society deklarierten in den 1930er Jahren ihre Forderung nach einem „Sterberecht“ durchaus offen auch als sozialhygienisch-eugenisch motiviert

Ist diese Verbindung von Freiwilligkeit und Gemeinnutzen aber wirklich modern, so mag man fragen. Gab es Ideologien des altruistischen Suizids nicht immer? Der spezifisch sozialtechnische Charakter der „liberalen“ Sterbehilfe ist an einem einzigen Merkmal sehr einfach erkennbar, nämlich exakt an jenem Punkt, mit dem das Projekt ihrer Institutionalisierung steht und fällt: an der Beteiligung der dritten Hand. Man muss sich klar machen, wie seltsam dieses Amalgam eigentlich ist – von pathetisch beschworener Autonomie und zugleich pathetisch beschworener Notwendigkeit zur Beteiligung eines Dritten, idealtypisch: des Arztes, an dem vermeintlich autonomen Akt.

Warum muss der „assistierte“ Suizid überhaupt assistiert sein? Die alte Tradition des Ehrensuizids gibt diese Idee einer „Assistenz“ nicht her. Allenfalls der Gnadenakt an der Front käme in Frage: der Feind kommt, und der sterbende Soldat bittet den Kameraden um Hilfe. Dies geschieht dann aber wohlgemerkt nicht, um Leiden zu verkürzen, sondern damit der eine fliehen kann und der andere nicht mehr lebend in die Hände des Gegners fällt. Bis heute sind es mehr oder weniger mühsam herbeikonstruierte Extremfallkonstellationen, mittels derer die Notwendigkeit der Beteiligung des Dritten an dem, was eigentlich ja immer eigenhändig machbar wäre, geradezu herbeigeredet werden muß. Jemand will sterben, aber vermag sich aus physischen Gründen nicht mehr selbst zu töten: Solche Situationen mit Hilfe von Betroffenen seltener Krankheiten medial zu inszenieren und auch für spektakuläre Gerichtsverfahren zu nutzen, gehört zu den Spezialitäten der globalen Right-to-die-Lobby.
Doch noch einmal die Frage: Wozu „Assistenz“ im dennoch so genannten Suizid? Ist der Dritte der Dienstleister, der alles angenehmer macht, wie Sterbehilfeorganisationen und serviceorientierte Gesundheitspolitiker ihn vorzustellen scheinen? Wird er benötigt, um dem Sterben eine kommunikative Realität oder ein Äquivalent für den fehlenden Freundeskreis zu geben? Verkörpert der Sterbehelfer das „Ja“ der Gesellschaft zu einem im Kern unsicheren Werturteil, weil es am „Ende des Lebens“ befürwortet, was man ansonsten bei jungen Leuten oder, sagen wir: bei einem Bilanzsuizid nach einer Firmenpleite missbilligen würde? Oder ähnelt der Dritte, der das Leben legal beendet, einem staatlich autorisierten Vollstrecker, wie es in den USA ja eigentümlicherweise auch die Mediziner sind, welche die staatlichen Todesurteile vollstrecken? In der modernen Figur des assistierten Suizids lädt namentlich die Arztbindung zum Spekulieren ein: Ist in Zeiten des Lebens die Medizin schlicht für jedes „Lebensende“ und also auch für den Freitod zuständig? Oder ist in Zeiten des Lebens noch der Suizid ein Objekt der biomedizinischen Regulierung und wird in diesem Sinne über die Medizin institutionalisiert, weil er nur so zu dem wird, was er sein soll – ein vergesellschafteter Akt?

Durch das moderne Autonomiemotiv werden Suizid und Gemeinnutzentod aufs engste aneinander gebunden. Der liberale Sterbehilfetod ist Weise gekoppelt an die Idee der Gabe des Todes von fremder Hand – er ist also gerade nicht im traditionellen Sinne ein Freitod, der Freiheit dokumentiert, indem man ihn selbst vollzieht. Der ökonomisch grundierte Lebenswert-Gedanke lässt die Kalküle, die die „dritte Hand“ autorisieren, verschwimmen. Eugenik und Sozialhygiene wurden denn auch von Anfang an nicht nur als Ausgrenzungs-, auch als Mitmach-Projekt realisiert. Die Fixierung auf die rassenideologisch überwölbten Massenmorde des 20. Jahrhunderts hat uns den Blick auf diesen Zusammenhang im Nachhinein verstellt. Auch die Tatsache, dass die Prägung des Begriffs vom „Lebenswert“ ganz wesentlich in einem von der Ethik überhaupt nicht klar getrennten Sinne ökonomisch gemünzt ist, Gilt es schärfer in den Blick zu nehmen. Der Wertgedanke tritt ja nicht erst in den 1930er Jahren zu einem Materialismus des biologischen Lebens im Wortsinne „wertend“ hinzu. Die beiden Größen „Leben“ und „Wert“ sind vielmehr schon für die menschenwissenschaftlichen Diskurse des 19. Jahrhunderts nahezu synonym – und dies nicht nur, weil „Leben“ seit Darwin den absoluten „Wert“ des Überlebens repräsentiert. Sondern vielmehr weil „Leben“ als Populationsleben einer statistischen Skalierung der relativen „Werte“ zugänglich ist.

Wohin bewegt sich die Sterbehilfe?

In Deutschland sind rechtspolitische Suchbewegungen im Gang, die auf eine aktiv gestaltbare Lebensbeendigungspolitik des modernen Tiers Mensch hin tendieren. Für die europäische Sterbepolitik generell dürfte dabei gelten: Ob „medizinische Maßnahme am Lebensende“ oder „assistierter Suizid“ – eine bestimmte, staatlich wohlkontrollierte und ethisch eingebettete Form der Tötung von fremder Hand ist aus dem allgemeinen Raum der verbotenen Fremdtötung ausgegliedert worden. Und eine rechtliche Fassung dieses neuen Raumes wird derzeit flächendeckend stabil institutionalisiert.

Die biopolitische Dynamik im Inneren der aktuellen Liberalisierungstendenzen wird überall dort besonders deutlich, wo der Dritte – die Arztbindung – und wo die Objektivierung der „Wertentscheidung“ – die Frage nach den Kriterien hinsichtlich der Vorbedingungen zur Inanspruchnahme von Sterbehilfe – in Rede stehen. Im Papier des Nationalen Ethikrats wird auch die Zielgruppe für ein Todesangebot genannt: Menschen im Sterbeprozess, Menschen mit irreversibel zum Tode führenden Krankheiten sowie Komapatienten, an denen Behandlungsaufwand erspart werden kann, und schließlich eine im Zeichen einer neuen „Volkskrankheit“ adressierte, besonders prekäre Gruppe: Menschen im Zustand der Demenz. Ganz pauschal geht es um Alte und Kranke – ab dem Punkt einer schlechten Prognose.

Wertentscheidungen in der Sterbepolitik werden ethisch und rechtspolitisch diskutiert, aber sie sind ökonomischen Bewertungsszenarien nicht fremd. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften stellt ihre Überlegungen zur „Behandlung und Betreuung von älteren pflegebedürftigen Menschen“ explizit in den Kontext der Bezahlbarkeit knapper medizinischer und pflegerischer Leistungen in Zeiten eines demographischen Wandels – man lese die diesbezügliche Präambel.

Der assistierte Suizid im Zeitalter des Lebens wird vermutlich nie ganz freigegeben werden. Zu offensichtlich ist das dubiose Geschäft einschlägiger Vereine, Allein die Sterbehilfe mit Arztbindung kommt dem Gewaltmonopol des Staates entgegen – und nur sie kann auch im Zweifel die biomedizinische und bioökonomische Governance für eine (im Kern gewollte) Freigabe ziviler Tötungsmacht sichern. Es geht dabei weder um das Bedienen von Todesgelüsten ganz allgemein noch um Selbstbestimmung „über den eigenen Körper“ (wie es im Ethikratpapier hieß) als Prinzip. Es geht vielmehr um das öffentliche Aushandeln von Bedingungen, unter denen eine Lebenswertentscheidung, die mit einer sozialen Wertentscheidung im Einklang steht, in eigenem Namen getroffen werden soll – wobei gerade die Kleinteiligkeit der einschlägigen Debatten zeigt, wie sehr Sterbe(hilfe)politik tatsächlich „Biopolitik“ ist: Lebensrationierungs-, Lebensoptimierungs- und Lebenskostenverteilungspolitik. Vieles deutet nun darauf hin, dass der deutsche Gesetzgeber zur Schaffung von Gestaltungsräumen inzwischen sogar den Preis zu zahlen bereit ist, die liberale Terminologie der Suizidbeihilfe zu wählen. Er wird allerdings den assistierten Suizid in die Hände von Ärzten geben. Genau dadurch wird dieser zweideutige Suizid regierbar – als Bewirtschaftung von Gesundheit und Leben.

UNSERE AUTORIN:

Petra Gehring ist Professorin für Philosophie an der Universität Darmstadt.
Der Beitrag ist die stark gekürzte Fassung eines Aufsatzes, der demnächst in dem Band Ambivalenzen des Todes“ (Darmstadt 2007) erscheint.




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