PhilosophiePhilosophie

STELLUNGNAHMEN

Was leistet interkulturelle Philosophie?

 
Antworten von Heinz Kimmerle, Hans Jörg Sandkühler und Georg Stenger

Wie lassen sich unterschiedliche philosophische Traditionen miteinander vergleichen? Ist das überhaupt möglich? Was ist das „tertium comparationis“?

Heinz Kimmerle: Vergleichen bedeutet hier, von der eigenen philosophischen Tradition aus Gleiches und Verwandtes sowie Verschiedenes und Fremdes in einer anderen philosophischen Tradition aufsuchen. Sofern sich jenes und dieses in der anderen Tradition finden lassen, ist der Vergleich bereits in Gang gesetzt. Das „tertium comparationis“ ist ein offenes Philosophieverständnis, das Philosophie nicht als etwas nur der eigenen Tradition Zugehöriges auffasst. Die interkulturell philosophische Praxis lehrt, dass Philosophen verschiedener Kulturen einander spontan als Philosophen erkennen. Der theoretische Rückgriff auf ein „tertium comparationis“ ist dann erst in zweiter Instanz nötig.

Der Bezug europäisch-westlicher auf andere philosophische Traditionen, der mit dem Vergleichen beginnt, ist nicht nur möglich, sondern notwendig. In einer Welt, in der Austausch im weltweiten Maßstab auf den Gebieten der Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Kunst und Kultur gang und gäbe ist, kann die Philosophie nicht abseits stehen und sich nur auf die eigene Tradition beschränken. Deshalb wird die Philosophie heute interkulturell sein, oder sie wird nichts anderes sein als eine akademische Beschäftigung ohne gesellschaftliche Relevanz.

Hans Jörg Sandkühler: ,Interkulturelle Philosophie’ ist ein inzwischen gängiger, aber problematischer Begriff. Ein ,Zwischen den Kulturen’ hat es in der Philosophie in zweifacher Bedeutung immer gegeben: in Form der Hybridisierung einer philosophischen Kultur durch Begegnung mit (geographisch gesehen) anderen Kulturen und symbolischen Formen, mit Mythen, Religionen und Künsten, und (seit Aristoteles) durch die Begegnung und wechselseitige Implementierung des Wissens der Philosophien und empirischen Wissenschaften. Das Konzept der Interkulturalität setzt etwas voraus, das es nicht gibt: starre Grenzen zwischen Kulturen, über die hinweg ,Dialoge’ zu stiften sind; Stifter sind in aller Regel hegemoniale Kulturen (vor allem des ,Westens’), die mit mehr oder weniger schlechtem Gewissen auf jene ,Anderen’ zugehen, die allzu oft nur die ,Anderen-ihrer-selbst’ sind. Die Antwort der ,Anderen’ ist dann die Forderung nach Entkolonialisierung ihrer Begriffe.

Es ist sinnvoller, das Philosophieren als eine transkulturelle Praxis in heterogenen Wissenskulturen zu verstehen, in denen man sich in Erkenntnis und sozialer Praxis bewegt, sobald man gelernt hat, natürliche und optionale Sprachen zu beherrschen. Man kann morgens Spinoza lesen und nachmittags über Neurokognition diskutieren, über Deutschen Idealismus und über Konfuzianismus und Menschenrechte debattieren. Mit anderen Worten: Der Vergleich zwischen philosophischen Traditionen findet alltäglich statt, weil es nicht ,die Philosophie’ gibt, sondern einen schützenswerten Pluralismus philosophischer Fragen und Argumente. Vergleichsmaßstab sind die jeweils als drängend begriffenen Probleme von Würde, Leben und Tod, Gleichheit und Ungleichheit, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit... zusammengefasst: Interkulturelle leistet oder leistet nicht, was Philosophie zu leisten hat. Wenn diese Bezeichnung suggeriert, es gehe um etwas anderes als eben um Philosophie, entsteht nur Schaden; wenn sie die Aufforderung zur lernenden Öffnung für noch Unbekanntes bedeutet, ist sie unverzichtbar.

 

 


Georg Stenger: Interkulturelles Denken war lange Zeit auf das Theorem des ‚Vergleichens’ eingeschworen. Nicht allein die Ansätze der ‚cultural studies’, der Kultur- und Sozialwissenschaften, auch die philosophischen Bestrebungen begnügten sich in ihrem methodischen und systematischen Zuschnitt zumeist damit, sowohl die Inhalte als auch die Denkformen fremder Kulturen ‚via Vergleich’ zu erarbeiten und zur Darstellung zu bringen. Nun unterstellen aber diese Zugänge in aller Regel den Primat der westlichen Zivilisation hinsichtlich ihres wissenschaftlichen und philosophischen, mithin grundbegrifflichen Selbstverständnisses, das immer schon zumindest die formale und begriffliche Folie bereit hält, auf der dann kulturelle Spezifika und Besonderheiten, Erfahrungsweisen und Lebenswelten auf ihre Unterschiede hin geprüft, d.h. verglichen werden können. Was nun für die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen durchaus sinn- und gehaltvolle Forschungsergebnisse zeitigt – man denke nur an die Entwicklungen ethnologischer Forschungen bis hin zur Integrationsforschung und diverser Menschenrechtsdebatten –, erweist sich in philosophischer Hinsicht durchaus als Problemtitel. Zwei Hinweise: 1) Hatte Kant mit dem „Komparieren“, „Reflektieren“ und „Abstrahieren“ das methodische Rüstzeug jedweder Begriffsbildung benannt, so bestärkte Hegel in seiner Unterscheidung von „äußerer“ und „innerer Reflexion“ diese konstitutive, intrinsische Angewiesenheit des Begriffes selbst auf Komparation. Arbeiten wir also in selbstreflexiver Weise mit Begriffen, so haben wir immer schon Vergleiche angestellt, noch bevor wir auf interkulturelle Vergleichsmotive zugehen.

Konsequent müsste man folgern: Der Philosophie im Sinne ihrer grundbegrifflichen Voraussetzungen und Geltungsbedingungen ist das inklusive Doppel abendländisch-westlicher Denkkultur und universaler, global gültiger Vernunft eingeschrieben. „Interkulturelle Philosophie“ vermag in dieser Hinsicht lediglich neue Inhalte und Besonderheiten zu Tage zu fördern, ja kann hier und da Ergänzungen beisteuern, genuin philosophisch trägt sie wenig bis nichts aus. Es mag den ein oder anderen etwas erstaunen, aber diese Einschätzung wird bis heute von vielen aus der philosophischen Zunft geteilt. Ein ‚Vergleich’ kommt da immer schon zu spät, und man kann unschwer gewisse Analogien zur intrakulturellen Konstellation zwischen den diversen philosophischen Traditionssträngen westlicher Philosophie konstatieren. 2) Dass es demgegenüber gleichwohl andere, außerwestliche Philosophien gibt, mit eigener philosophischer Ansprüchlichkeit und Geltungsinstanz, scheint zunehmend klarer zu werden. Gerade aufgrund der bis in die je eigene Begriffsbildung und darüber hinaus in die Tiefenstrukturen hineinreichenden Analysen werden Philosopheme ersichtlich, die als veritable Herausforderung für den klassischen westlich grundierten Philosophiebegriff auftreten.

Unter diesen Hinsichten erscheint eine ‚vergleichende Philosophie’ problematisch, ja widersprüchlich. Sie operiert gewissermaßen unwissentlich mit zwei völlig verschiedenen Ebenen des Vergleichens, einer formalen auf die Begriffsbildung selbst bezogenen und einer auf die jeweiligen Inhalte zugehenden Ebene, ohne die dabei vorgenommene Vermischung beider Ebenen und damit die Fragilität und Voraussetzungslastigkeit ihres Vorgehens zu bedenken.

Ein „tertium comparationis“ verlangt wiederum einen Einheitsgesichtspunkt jenseits von Differenz, unterstellt eine Einheit, vor deren Hintergrund Vergleiche erst möglich sind. Was aber hat es mit einer solchen ‚Einheit’ auf sich? Hat sich, zumal im interkulturellen Problemhorizont, nicht immer schon eine bestimmte Denkhemisphäre und -tradition diesen ‚view“ zueigen gemacht, von wo aus dann verglichen wird? Hier werden zwischen den Denkwelten Asymmetrien und Brüche aufsässig, die sich jedem Vergleich entziehen und verweigern. Jeder Vergleich hinkt, und er tut dies auf Kosten dessen, was er zu verstehen und zu erhellen bestrebt ist. Eine Art philosophisch gewandetes „trojanisches Pferd“.

Was hat man sich unter einem gleichberechtigten interphilosophischen Dialog zwischen den Philosophien der einzelnen Kulturen vorzustellen? Ist es eine Rezeption, ein Vergleich oder eine Annäherung?

Heinz Kimmerle: Es geht in der Tat nicht nur um ein Vergleichen, sondern um Dialoge zwischen den Philosophien verschiedener Kulturen. Sofern Philosophien auf einander bezogen werden, entstehen zwischen ihnen Dialoge. Gedanken und Motive der eigenen Philosophie werden verstärkt, wenn sich in der anderen Gleiches und Verwandtes findet. Sie werden in Frage gestellt und ihre eigne kritische Potenz kommt ins Spiel, wenn Verschiedenes und Fremdes ins Blickfeld treten. Richtiges und Überzeugendes aus dem Potential des Verschiedenen und Fremden der anderen Tradition sind zweifellos zu rezipieren. Was sich nach bisheriger Prüfung als falsch oder nicht überzeugend erweist, sollte vorläufig – bis eventuell ein besseres Verständnis entsteht – von der Rezeption ausgeschlossen bleiben. Nicht ohne Grund habe ich bereits in meinem ersten Afrika-Buch zur Vorsicht und zur Geduld aufgerufen, indem ich eine „Methodologie des Hörens“ vorgeschlagen habe. Aus den Dialogen geht gewiss eine Annäherung der betreffenden Traditionen hervor. Für beide Seiten ergibt sich ferner eine inhaltliche Bereicherung und eine methodische Sensibilisierung, die auch in der eigenen Tradition Vergessenes und Überlagertes hervortreten lässt.
Es gehört zur Offenheit interkulturell philosophischer Dialoge, dass diese andere Formen der philosophischen Kommunikation als angemessener anerkennen, wenn sich dies im Umgehen mit einander herausstellt. Das afrikanische „Palaver“ oder die Benutzung indischer Meditationstechniken kämen als mögliche Alternativen in Frage.

Georg Stenger: ‚Rezeption’ findet überall statt. Allein, es steht in Frage, wer was unter welcher Hinsicht wie rezipiert. Hier greift das hermeneutische Paradigma der horizonthaft gebundenen Vorurteilsstruktur, die gleichwohl auf Verstehenwollen und –können zielt. Philosophie erfährt sich zurückgebunden an sprachphilosophische Einsichten sowie an philologische Verifikation. Der auf eine Einheitsfolie zurückgehende ‚Vergleich’ sieht sich dahingehend gesprengt, dass es um eine jeweilige Rahmenfindung geht, der schließlich ein bestimmter ‚Weltbegriff’ korrespondiert. D.h., Einzelheiten und phänomenale Anhalte können kulturübergreifend miteinander verglichen werden, aber – sie machen nur Sinn, wenn sie in ihrer situativen, kulturellen und historischen Verschränkung und welthaften Eingebundenheit gesehen werden, die selber stetige Frage bleiben. Der lebens- und kulturweltliche Referenzrahmen unterfängt das Vergleichsparadigma. „Annäherung“ rechnet stärker mit Differenz, Kategorien der Nähe und Distanz beginnen zu zirkulieren, ohne je zur Ruhe kommen zu können. Es bleibt ein Fremdheitskoeffizient.

Alle drei methodologische Typen erweisen sich als notwendig, für eine interkulturelle Philosophie aber nicht als hinreichend. Dem mit ihnen einhergehenden, gewiss gut gemeinten Maßstab der Gleichberechtigung (der Kulturen) verbirgt sich die positive Kraft „fruchtbarer Differenz“, die im Aufschrei nach Gerechtigkeit die erlittene Ungerechtigkeit und die evozierten Gewaltpotentiale ernst nimmt, indem sie den Genesen des Widerstreits und den auf Wahrheitsansprüchen basierenden Auseinandersetzungen nachgeht.

Spätestens hier zeigt sich die methodische Qualität phänomenologischer Selbstreflexion, wenn es um Analysen der Fremderfahrung, der vorprädikativen und vorbegrifflichen Dimensionen, leiblicher Verankerungen, sinnlich-ethische Wahrnehmungsebenen und Erfahrungswege geht. Die Sichtung eines vielstrahligen und mehrdimensionalen „Zwischen“ erweist sich zunehmend als Lackmustest dialogischer Denk- und Gesprächskultur. Ein „gleichberechtigter interphilosophischer Dialog“ bleibt so lange ein Wunschdenken, als die Philosophien und Kulturen nicht in einen gegenseitigen Austausch treten, der sie nicht nur das Fremde und Andere näher kennenlernen lässt, sondern der darüber hinaus auf gegenseitige, bis in die philosophischen Grundlagen hineinreichende Prüfung und Herausforderung setzt. Der Rückwurf auf das sog. Eigene fordert auch dieses selbst heraus, eröffnet Kritikfähigkeit und Korrekturmöglichkeiten, für beide Seiten. Dialog in diesem Sinne meint nicht Austausch über Bestehendes, sondern Arbeit an der Selbstklärung und damit dem Aufgehen kultureller und philosophischer Welten. Weder ‚von außen’ noch ‚von innen’ kommend besteht hierüber Klarheit.

Hans Jörg Sandkühler: Die Gleichberechtigung der Partner/Gegner im interphilosophischen Gespräch ergibt sich zum einen aus der erkenntnis- und wahrheitstheoretischen Einsicht, dass es keine Philosophie mit einer besonderen ,Nähe zum Sein’ gibt, deren Wahrheitsansprüche zu privilegieren wären; sie ergibt sich zum anderen daraus, dass der Partner/Gegner menschenrechtlich und grundrechtlich garantierte Ansprüche auf die Freiheit seines Denkens, Argumentierens und Kommunizierens hat – und in diesen Grenzen auch die Freiheit, seine Freiheit kulturspezifisch zu interpretieren.
Das interphilosophische Gespräch hat im transkulturellen Feld keine anderen Formen als im eigenkulturellen Feld: Wenn ich nicht unwissend sein oder bleiben will, werde ,an deres’ Denken unter der Prämisse rezipieren, dass es nicht ,exotisch’ ist und nicht ,fremd’ bleiben muss; ich werde Problemstellungen. Argumente und Wahrheitsrechtfertigungen vergleichen und mich so dem noch Neuen nähern. Diese drei Formen sind um eine vierte zu ergänzen: die Kritik. Es geht um Kritik als Analyse der Möglichkeitsbedingungen von Philosophien oder Theoremen und um Kritik an Auffassungen, die gegen die Menschenwürdenorm und das positive Recht der Menschenrechte verstoßen. Das Schweigen im Namen einer gut gemeinten, aber herablassenden Toleranz ist der Tod des Philosophierens. Ich werde als Gesprächspartner in der arabischen Welt oder in Asien auch mit dem Argument offen sprechen, deutsche Philosophen hätten schon einmal zur Unzeit geschwiegen.
Der gleichberechtigte interphilosophische Dialog hat keine andere Voraussetzung als das philosophische Gespräch selbst: Lernen, Wissen, Respektieren. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für ein Gelingen ist, einzusehen, dass das Verstehen des ,Anderen’ Grenzen hat: Man muss nicht alle und alles verstehen, um andere zu respektieren, und sei es in der Form der Kritik.
Deshalb ist es zu bedauern, dass Philosophie im Vergleich der Kulturen nicht überall Pflichtbestandteil der Philosophiecurricula ist. An der Universität Bremen ist dieses Fachgebiet von Studierenden stark gefragt. Nicht wir reden über die anderen, sondern es ist eine Professur freigelassen für GastprofessorInnen aus anderen Kulturen, die kompetent über sich sprechen.

Wie lassen sich philosophische von anderen kulturellen Texten oder Debatten so abgrenzen, dass auch unterschiedliche nichteuropäische Traditionen berücksichtigt sind?

Hans Jörg Sandkühler: Eine derartige Abgrenzung ist teils unnötig, teils wirft sie lösbare hermeneutische Probleme auf. Sie ist unnötig, weil man jedem sein Eigenrecht lassen sollte, sich selbst zu definieren – etwa als Philosophie oder Weisheitslehre. Der argumentative, auf Wissen als gerechtfertigte wahre Überzeugung orientierte Text bzw. Diskurs unterscheidet sich offensichtlich vom Text bzw. Diskurs des Offenbarungsglaubens, für dessen Wahrheit Selbstevidenz in Anspruch genommen wird. Im Namen einer europäischen Philosophie als Wissenschaft nichteuropäischen Traditionen ihren Philosophie-Status zu bestreiten, ist weder sinnvoll noch erfolgversprechend; die Stimme der Europäer zählt nur noch als eine Stimme in der Vielfalt der Kulturen.

Georg Stenger: Ich möchte diese Frage so aufgreifen, dass ich die gängige Unterscheidung zwischen philosophischen und anderen kulturellen Texten und Debatten nur sehr eingeschränkt teile. Natürlich hat die philosophische Besinnung eine Grundlegungsfunktion, die überzeitlichen Charakters ist. Zugleich sind alle philosophischen Texte eingebunden in und entstanden aus kulturweltlichen und zeitkontingenten Hintergründen, auf die sie selber als Antwortversuch verstanden werden können. Das geht Aristoteles und Kant nicht anders als Rembrandt, Cézanne, Einstein oder Joyce. Lebensweltliche, soziale, politische, künstlerische, mediale Konstellationen gehen nicht in einem auf den ‚rationalen Begriff’ zu bringenden Hintergrundwissen auf, sie elaborieren selber schon Phänomene, die einen eigenständigen philosophischen Charakter haben, wodurch wiederum die Philosophie eine Veränderung, Erweiterung und Vertiefung erfährt. Altchinesischen Texten wie dem Yijing, dem Daodejing oder dem Zhuangzi deren nicht nur implikative Philosophie abzusprechen, wäre fahrlässig und restriktiv. Die Philosophie arbeitet längst nicht mehr allein mit ‚reinen Begriffen’, da sie um die Zeige- und Erhellungskraft von metaphorischer Sprache, narrativen und performativen Darstellungsformen wie von Bildern weiß. Ebenso steigt das analytische und interpretatorische Anspruchsprofil, wenn wir uns die gegenwärtige Diskussion um Religion und Vernunft im globalen, sprich interkulturellen und interreligiösen Maßstab vor Augen führen. So ließ etwa die Habermas-Ratzinger-Debatte gegenseitige Implikaturen von Religion und Vernunft deutlich werden, wenngleich sie noch von einer westlich-europäisch-christlichen Schlagseite gekennzeichnet ist. Schon diese wenigen Punkte weisen darauf hin, dass interkulturelle Philosophie konstitutiv interdisziplinär arbeiten muss, was nicht nur methodisch vor weitere Herausforderungen stellt.

Heinz Kimmerle: Philosophische Texte und Debatten, wobei die letzteren primär mündlich vollzogenes Philosophieren ausdrücklich mit einschließen sollen, sind im Blick auf nichteuropäische Traditionen einerseits so abzugrenzen, dass ihre mögliche Einbettung in religiöse, ästhetische oder politische Diskurse in Rechnung gestellt wird. Andererseits ist es wichtig, das spezifisch Philosophische klar zu bestimmen. Dieses sehe ich darin, dass sich das Denken nur auf sich selbst stellt und keine ihm selbst äußerliche Autorität anerkennt. Dann lassen sich auch im Kontext breiterer kultureller Texte oder Debatten philosophische Denkzusammenhänge und Argumentationsstränge hinreichend deutlich herausheben.

Eine wesentliche Errungenschaft der westlichen Moderne stellt die Konzeption des autonomen Subjekts dar. Kennen andere Kulturen dieses Konzept, wenn nein, sollen sie sich dieses aneignen oder muss die Sachlage in interkultureller Sicht ganz anders betrachtet werden?

Heinz Kimmerle: Mit dieser Frage wird ein Kernthema interkulturell philosophischer Dialoge zwischen der europäisch-westlichen und anderen philosophischen Traditionen angerührt. Die Konzeption des autonomen Subjekts ist zweifellos in der neuzeitlichen Philosophie gegenüber der Einbindung des Subjekts in die bestimmende kirchlich-theologische Instanz der Wahrheitsdefinition im europäischen Mittelalter „eine wesentliche Errungenschaft“. Diese Konzeption hat auch über diesen historischen europäischen Kontext hinaus eine ethische und politische Bedeutung, die nicht vernachlässigt werden darf.

Zugleich ist die Konzeption des autonomen Subjekts in der neuzeitlichen europäisch-westlichen Philosophie auch als einseitig zu betrachten. Schon vor meiner Beschäftigung mit nichteuropäischen Philosophien, insbesondere afrikanischer Philosophie, seit 1987 habe ich in meinem Entwurf einer Philosophie des Wir für eine Gegenbewegung gegen eine einseitige Konzeption des autonomren Subjekts plädiert. Und seit neuerer Zeit wird dieses Argument auf breiter Front vom Kommunitarismus vorgetragen.

Andere Kulturen kennen diese Konzeption so nicht, betonen häufig eher ein Übergewicht der Gemeinschaft gegenüber dem autonomen Subjekt. Es geht indessen nicht um einen abstrakten Gegensatz. Das zeigt wiederum die Praxis interkulturell philosophischer Arbeit.

In Dialogen über den afrikanischen Gemeinschaftssinn sowie über den Personbegriff im afrikanischen und im europäisch-westlichen Denken hat sich für mich ergeben, dass der erstere die selbständige und verantwortungsvolle Rolle des Einzelnen nicht ausschließt, die aber in der Auseinandersetzung mit westlicher Philosophie stärker hervorgehoben wird, und dass der Personbegriff in beiden Traditionen neu zu fassen ist. Das Ergebnis ist nicht eine Gleichheit der Positionen. Bestimmte Unterschiede bleiben bestehen. Man kann von einer gegenseitigen Annäherung sprechen. Dem Ich/Wir des europäisch-westlichen Denkens steht ein Wir/Ich in der subsaharisch afrikanischen Philosophie gegenüber.

Hans Jörg Sandkühler: Das autonome Subjekt als Zweck seiner selbst (Kant) und als Person, der Würde zukommt, scheint mir inzwischen nicht zuletzt im ,westlichen’ Denken ,postmodern’ und auf weitere riskante Weisen, z.B. in der Bioethik, in Frage gestellt zu werden. Wer dieses Konzept – nicht zuletzt aus Gründen Normativität des Rechts im Rechtstaat, für das die Idee der Autorschaft der Bürger unverzichtbar ist – in der eigenen Kultur verteidigt, wird auch gegenüber anderen Kulturen sensibel sein. Kulturrelativismus ghettoisiert die ,Anderen’, anstatt zu Aushandlungen zu führen. Die mit kulturellen Eigenrechten begründeten Verstöße gegen Freiheitsrechte, deren Schutz im ,zwingenden’ internationalen Recht (jus cogens) universell garantiert wird, muss nicht unter dem falschen Titel der ,Respektierung des Anderen’ hingenommen werden; dies gilt etwa für die massenhafte, mit religiösen Traditionen begründete Tötung weiblicher Föten in einigen asiatischen Ländern oder für eine Hintanstellung bürgerlicher Rechte gegenüber sozialen und politischen Rechten (und vice versa). Die Kritik daran wird in dem Maße glaubhaft, wie nicht nur außereuropäische Kulturen befragt und kritisiert werden, sondern etwa auch der Verfall des Rechtstaats in den USA.

Georg Stenger: Spätestens mit Kants transzendentalphilosophischer Grundierung wurde das autonome Subjekt erkenntnistheoretisch wie moralphilosophisch einer unabweislichen Begründung zugeführt. Diese für das westliche Denken fundierende Stellung des Subjektbegriffs sieht sich nun, zieht man etwa (ost)asiatsche Konzeptionen zu Rate, in seinen Grundfesten relativiert. Weder das japanische noch das chinesische Denken kennen von alters her einen solchen Subjektbegriff, was nicht nur bis in die grammatischen Sprachstrukturen hinein ersichtlich wird, sondern auch eminente Auswirkungen auf die in diesen Traditionen geltenden Grundbegriffe und Selbstverständnisse hat. Topoi wie „So-heit“ und „Leere“, deren Konnex auf ein über den Zen- und Chan-Buddhismus bis in das altindische Denken eines Nagarjuna zurückreichendes relational verfasstes Denken zielt, verweisen ebenso wie konfuzianisch geprägte Ansätze etwa eines Menzius, der auf ein werdendes, eher pragmatisch orientiertes, prozessual sich selbst generierendes und regulierendes, auf Wirksamkeit setzendes Erfahrungsdenken abhebt, auf anders gelagerte Denkformen und –stile, als es der für die westliche Tradition gültige autonome Subjektbegriff verlangt, dem, wie den Grundbegriffen der ‚Person’ und der ‚Freiheit’ ebenfalls, ein substanzialer Kern innewohnt.

Von alters her wäre zunächst also eine fundamentale Differenz zwischen östlichem und westlichem Denken zu konstatieren, die bis in die grundbegrifflichen Erfassungsformen hineinreicht. Andererseits hält seitens der asiatischen Seite ein seit ca. 150 Jahren stetig steigender Aneignungsprozess westlicher Philosophien an, der in seinen gelungenen Formen eine Eigentypik ausgeprägt hat, welche die (älteren) eigenen Denk- und Erfahrungstraditionen nicht nur transparent hält, sondern als konstitutive Größe für den philosophischen Diskurs fruchtbar macht. Hier hat eine Aneignung längst stattgefunden, während in umgekehrter Richtung lediglich erste Anfänge zu konstatieren sind. Der Westen hat hier enormen Nachholbedarf, will er der interkulturellen und damit globalen Herausforderung der Philosophie auf Augenhöhe begegnen. Längst hätten wir Abschied zu nehmen von philosophischen und wissenschaftlichen Eurozentrismen, was nur soviel heißen will, dass die westliche Philosophie im eigenen Interesse ihren über zweitausend Jahre anhaltenden alleingültigen Wahrheitsanspruch des Denkens aufgibt, was aber nur – und dies ist der crucial point – durch eine ernsthaft und seriös geführte Auseinandersetzung mit den außerwestlichen Denkkulturen, zu denen ja noch weit mehr als nur die asiatischen zu zählen sind, möglich sein wird. Es wird darum gehen, mit „Wahrheitsansprüchen im Plural“ umgehen zu lernen, ohne in die Fallstricke von Universalismus und Relativismus zu geraten. Interkulturelle Philosophie protegiert nicht nur eine dialogisch instruierte Denkhaltung, sie wird auch für einen zukünftigen Philosophiebegriff im globalen Maßstab unabdingbar sein.

Die Autoren der Stellungnahmen:

Heinz Kimmerle ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Rotterdam, Hans Jörg Sandkühler, Leiter der Deutschen Abteilung »Wissenskulturen, Transkulturalität, Menschenrechte« des europäischen UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie (Paris); und Georg Stenger ist Privatdozent am Institut für Philosophie der Universität Würzburg und Vorstandsmitglied der „Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie“.