PhilosophiePhilosophie

INTERVIEW

Primavesi, Oliver: Tausend Fäden rekonstruieren


Tausend Fäden rekonstruieren
A. Schriefl und M. Schwartz im Gespräch mit dem Leibniz-Preisträger Oliver Primavesi über seine Arbeit an Vorsokratiker-Texten


Herr Primavesi, Sie wurden dieses Jahr mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. In der Begründung heißt es, Sie hätten die klassische Philologie „erfolgreich mit der antiken Philosophie ins Gespräch gebracht“. Hat die Bedeutung Ihres Fachs innerhalb der Philosophie stark abgenommen?

Da bin ich mir nicht sicher. Was allgemein abnimmt, ist das Lesen als kulturelle Technik, auch in Studiengängen, die offiziell mit Texten befasst sind. Allerdings scheint mir, dass es darum in der Antiken Philosophie noch besser bestellt ist als in anderen Teilgebieten der Philosophie. Einige meiner Kollegen aus der Antiken Philosophie sind auch philologisch so kompetent, dass von einem generellen Rückgang philologischer Kenntnisse gegenüber der Vorgängergeneration keine Rede sein kann. Freilich: Einen Eduard Zeller gibt es zurzeit auf dem Feld der antiken Philosophie ebenso wenig, wie es in der heutigen Gräzistik einen Hermann Diels gibt.

Wie beurteilen Sie generell die Anerkennung der Klassischen Philologie in unserer Gesellschaft?

Die Gesellschaft hat bei jedem Fach, dessen universitäre Lehre und Forschung sie aus Steuermitteln ermöglicht, das Recht zu fragen, was sie dafür bekommt: Kein Fach sollte gegen diese Frage diplomatische Immunität beanspruchen. Der disziplinübergreifende Nutzen schwieriger Philologien besteht in ihrem Trainingseffekt; neben Altgriechisch ist dazu auch Hebräisch, Sanskrit oder Mandarin sehr gut geeignet. Beim Studium der betreffenden Literaturen ist nämlich neben einem fremden Sprachsystem auch eine erhebliche interkulturelle Differenz zu meistern. Hingegen bleibt bei Sprachen, die dem Deutschen grammatisch und pragmatisch nahe stehen, das sprachlich-analytische Potential des Umgangs mit ihnen allzu leicht verdeckt. Im englischen Bildungssystem wird die Anstrengung, die das Fremde und Komplexe vom Lernenden fordert, ja seit langem im Rahmen einer gewissermaßen vorrevolutionären Elitereproduktion gesellschaftlich sehr stark honoriert. Dies erscheint mir, wenn man es des Klassencharakters entkleidet, als vorbildlich. Sprach- und literaturwissenschaftliche Studiengänge aber, die auf die Dokumentation einer objektivierbaren Trainingsleistung keinen Wert legen, sind nicht ganz unschuldig daran, wenn man an ihrem gesellschaftlichen Nutzen zweifelt.

Wofür genau bräuchte man denn eine solche intellektuelle Elite?

Der Begriff „intellektuelle Elite“ trifft das Gemeinte nicht ganz. Ich würde lieber von einer „intelligenten Elite“ sprechen. Und die braucht man in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Übernahme von Funktionen in der Gesellschaft, so wie sie heute ist, bedeutet immer weniger, dass man die Inhalte, die einem begegnen, vorher gelernt hat und dann reproduziert. Es bedeutet immer mehr, dass man Fähigkeiten trainiert hat, die man transferieren und anwenden kann. Und da ist – neben der informationstechnologischen Alphabetisierung – ein intensives Studium der Mathematik einerseits und fremder Texte und Kulturen andererseits sehr nützlich.

Ihre Begründung ist im Grunde eine Reduktion auf den instrumentellen Nutzen. Wenn es nur um den instrumentellen Nutzen geht: Warum sollte man dann ausgerechnet Griechisch studieren, nicht Mathematik?

Was zunächst den instrumentellen Charakter des von mir angegebenen Nutzens betrifft, so habe ich ihn deshalb hervorgehoben, weil Sie mich nach gesellschaftlicher Anerkennung von Fächern gefragt hatten. Ich leugne selbstverständlich nicht, dass es ausgesprochen nicht-instrumentelle Gründe dafür geben kann, ein bestimmtes Fach zu studieren. Doch habe ich viel Verständnis dafür, dass die Gesellschaft instrumentelle Gründe dafür hören möchte, aus Steuermitteln einen Studiengang zu finanzieren. Zum anderen ist das mathematische Training natürlich ebenso wichtig wie das sprachliche; es wäre absurd, das eine gegen das andere auszuspielen. Wichtig ist in beiden Fällen, dass die betreffenden Fächer den Vorrang, den jeglicher Unterricht gerade im Hinblick auf die gesellschaftliche Praxis dem Können vor dem bloßen Kennen zuzugestehen hat, selbstbewusst zur Geltung bringen – in Abhebung von den bloß „kundlichen“ Fächern.

Sie haben zunächst Schulmusik mit Hauptfach Klavier studiert. Aus welchem Grund haben Sie entschieden, ganz zur Klassischen Philologie zu wechseln?

In meiner Schulzeit wurde mir in vielen Fächern nicht recht deutlich, welches Können dort jeweils eingeübt werden sollte. Es gab zwei Ausnahmen: Die eine war Mathematik, die andere war das Klavierüben. Als ich nach dem Abitur zum Studium der Schulmusik zugelassen wurde, wählte ich als wissenschaftliches Nebenfach das Lateinische, das ich auf der Schule nur flüchtig kennen gelernt hatte, da der Unterricht nach viereinhalb Jahren mangels einer genügenden Zahl von Interessenten nicht fortgesetzt worden war. Das Lateinstudium und insbesondere die damit verbundene Verpflichtung, Altgriechisch nachzulernen, zeigten mir dann, dass es auf sprachlich-literarischem Feld neben mancherlei Larifari auch ernsthaftes Üben gibt. Dieses Üben verlangte indessen meinen vollen Einsatz, so dass mein Klavierlehrer an der Musikhochschule mich nach einiger Zeit dankenswerterweise dazu aufforderte, mir rechtzeitig darüber klar zu werden, auf welchem Feld ich es zu einer gewissen Professionalität bringen wolle: Musik oder Alte Sprachen. Nach dem Graecum fiel dann die Entscheidung.

Worin genau besteht denn der Unterschied zwischen einer anspruchsvollen Beschäftigung und einer ‚Larifari-Beschäftigung‘?

Ein Gradmesser ist das jeweils geforderte Maß an Anstrengung. Damit hängt eng zusammen die Komplexität des Gegenstandes. Anspruchsvolle Gegenstände, wie z.B. die Streichquartette des späten Beethoven, bleiben völlig nichtssagend, solange man ihnen nicht mit einem Höchstmaß an Konzentration gegenübertritt, sie fordern den Hörer heraus. Wenn ihm diese Anstrengung erspart wird, wie in manch schwungvoll-populärem Symphoniesatz desselben Meisters, dann ist der Trainingseffekt der Beschäftigung gemindert.

Das klingt elitär: Die „Larifari-Welt“ ist die unernste ‚Höhle‘ der Scheinbeschäftigungen und leichten Zerstreuung, aber wenn man Griechisch lernt, dann geht es wirklich zur Sache.

Der Wunsch, dass die kulturelle Schulung einer kleinen Minderheit vorbehalten sein solle, die dann die nicht geschulten Vielen beherrschen, liegt mir völlig fern. Warum sollte irgendjemand von anspruchsvollem kulturellem Training ausgeschlossen bleiben? Dass unter dem Deckmantel demokratischer Partizipationsrechte in skandalöser Weise die Qualitäts-Standards gesenkt zu werden pflegen, steht freilich auf einem andern Blatt. Ich möchte meine Vorstellungen lieber mit dem Begriff des „Humanismus“ verbinden, füge aber vorsichtshalber gleich einen Warnhinweis auf die populäre, wohl auf Marx zurückgehende Vermengung des „Humanismus“ mit der (politisch gemeinten) „Humanität“ hinzu: Der Begriff des „Humanismus“ zielt von Hause aus einzig und allein darauf, dass der Mensch, um im Aristotelischen Sinne glücklich zu werden, die ihm eigentümlichen geistigen Fähigkeiten üben und betätigen muss. Begnügt er sich hierin mit einem Mittelmaß, dann ist er auch nur mittelmäßig glücklich.

Was ist denn, wenn jemand keine Lust auf das Training geistiger Fähigkeiten hat und lieber Eis isst als Beethovens Streichquartette zu hören? Dem müssten Sie ein gutes Leben eigentlich absprechen.

Die Freude am Eisbecher steht zum guten Leben im Aristotelischen Sinn nicht im Widerspruch; erst recht nicht der Wunsch nach Gesundheit, Geborgenheit, Freundschaft usw.; denn nach Aristoteles reichen die geistigen Fähigkeiten keineswegs schon alleine für die Eudaimonie aus. Es geht vielmehr darum, die Sorge für den Lebensunterhalt und die harmlosen Vergnügungen mit dem spezifisch Menschlichen nach Möglichkeit in ein Verhältnis zu bringen, das für Letzteres genügend Raum lässt.

Eines Ihrer zentralen Arbeitsgebiete ist die Vorsokratik. Hat tatsächlich erst Sokrates, wie Cicero und nach ihm die gängige Philosophiegeschichtsschreibung glaubhaft zu machen versuchten, die Wende von der Naturphilosophie zur Ethik eingeläutet?

Cicero ist auf die „Athenozentrische“ Verengung der Philosophiegeschichte hereingefallen. Das könnte den Athenern so passen, dass Sokrates auf der Agora aus dem Nichts die ethischen Fragen entdeckt, anschließend Platon dafür gewonnen hat und so fort. Ganz allgemein ist die ausschließliche Herleitung der platonischen Philosophie aus seinem Sokrates-Erlebnis eine Fiktion, die angesichts Platons manifester Bezüge zum Pythagoreismus und zum Eleatismus zerfällt. Das gilt auch für die Ethik. Schon im späten 6. und 5. Jahrhundert haben viele Griechen offenbar nicht mehr darauf vertraut, dass allein die (nach wie vor als unerlässlich betrachtete) Erfüllung der Pflichten des polis-Kults auch der Sorge des Einzelnen um sein Seelenheil Genüge tue. Parallel zur Entfaltung der vorsokratischen Philosophie wächst das Interesse an ‚privaten‘ Kulten, die Antworten auf Fragen geben, zu denen der polis-Kult nichts sagt. Das sind Fragen danach, ob er richtig lebt oder was nach dem Tod aus ihm wird – Fragen, deren Beziehung zur Ethik auf der Hand liegt. Eben diese Bestrebungen aber treten als „Orphik“ oder „Pythagoreismus“ auch in Verbindung zur gleichzeitigen Philosophie und bilden neben dem milesischen, naturphilosophischen Impuls eine zweite Quelle für Sokrates und Platon.

Gab es denn vorsokratische Philosophen, die exklusiv Naturphilosophie betrieben haben, bei denen Ethik also keine Rolle spielt?

Je früher, desto eher. Aber schon Anaximander formuliert in dem einzigen von ihm erhaltenen Spruch das Gesetz, dass man durch sein Werden eine Schuld auf sich lädt, die man durch seinen Untergang wieder abträgt. Anaximander kleidet also ‚proto-naturwissenschaftliche‘ Weltbeschreibung in eine rechtliche bzw. ethische Metapher. Es ist schwer, die ‚reine‘ Naturphilosophie zu finden, zumal noch der trümmerhafte Überlieferungszustand im Weg steht.

Olof Gigon sprach einmal von der „Faszination durch das Erhaltene“. Seiner Meinung nach werden in der Forschung häufig gut überlieferte Autoren für wichtiger gehalten als solche, deren Werke heute nur noch fragmentarisch vorliegen. Ist das so?

Übertreibungen gibt es in beide Richtungen: Immerhin übt das Fragment seit der Romantik einen besonderen Reiz aus, der es sogar zur eigenständigen Kunstform avancieren ließ. Im Allgemeinen ist das nicht-philologische Publikum auf die vollständig erhaltenen Texte fixiert, während für die philologische Forschung zu Zeiten das Gegenteil gilt: Dann stürzt man sich mit großer Begeisterung auf bestimmte Textneufunde zu bisher nur fragmentarisch überlieferten Autoren, während ebenso interessante, aber seit langem edierte Texte im Windschatten der Betrachtung bleiben. Ein Beispiel aus dem Bereich der hellenistischen Dichtung: Die Aufmerksamkeit, die in den sechziger und siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts den neu gefundenen Menander-Komödien zuteil wurde, steht in einem gewissen Missverhältnis zu dem Desinteresse, mit dem man lange Zeit an den hellenistischen Epigrammen vorüber ging, die in der Anthologia Palatina überliefert sind. Seitdem dann in den neunziger Jahren durch einen spektakulären Papyrusfund die Zahl der bekannten Poseidipp-Epigramme drastisch vermehrt wurde, blühen auch die Studien zum hellenistischen Epigramm.

Sie arbeiten nun zwangsläufig mit Fragmenten, weil wir von den Vorsokratikern kein einziges vollständig erhaltenes Werk besitzen. Ist das nicht manchmal frustrierend?

Keineswegs. Meine Arbeit gilt den seit 1992 in überraschender Folge immer wieder gemachten Neufunden von Fragmenten aus der philosophischen Dichtung des Empedokles: Weil von Empedokles schon vor den Neufunden der letzten Jahre vergleichsweise viele Fragmente aus Zitaten bekannten waren, können die neuen Texte in vielfacher Weise an die indirekte Zitat-Überlieferung angeschlossen und mit ihr konfrontiert werden. Der Reiz dieser Arbeit liegt darin, aus den tausend Fäden, die zwischen dem Neuen und dem schon Bekannten hin- und herführen, das originale Gewebe zu rekonstruieren. Dass zu einem der meistzitierten vorsokratischen Philosophen über den Zeitraum der letzten fünfzehn Jahre immer wieder neues Material hinzugekommen ist, hat der Rekonstruktion Chancen eröffnet, die beim isolierten Fragment eines Autors, von dem man sonst kaum etwas hat, nicht gegeben wären.

Den Straßburger Empedokles-Papyrus haben Sie dann gemeinsam mit Alain Martin herausgegeben. Die Identifizierung der insgesamt 52 Papyrusfragmente im Jahr 1992 glich einer Sensation, weil sich herausstellte, dass mit dem Papyrus erstmals ein vorsokratischer Text in direkter Überlieferung vorliegt. Wie kam es aufgrund dieser – doch eigentlich wenigen – neuen bzw. neu edierten Verszeilen zu einer Neuinterpretation des gesamten Empedokleischen Denkens? In welchen Punkten gab es zentrale Revisionen der traditionellen Interpretation?

Schon rein quantitativ ist der Zuwachs, den der Straßburger Papyrus gebracht hat, keineswegs unerheblich: Die Zahl der bekannten Verse ist durch ihn um ca. 10% vermehrt worden. Darüber hinaus hat die Eigenart des Fundes es möglich gemacht, der Klärung eines zentralen Problems der Empedoklesforschung einen großen Schritt näher zu kommen: Wie verhält sich im Werk des Empedokles die theologia naturalis, d.h. die als physikalische Theologie formulierte Lehre vom zyklischen Aufstieg und Fall der vier Elemente, zur theologia fabulosa, d.h. zum Mythos vom schuldigen, aus dem Olymp verbannten Gott? Die zitierenden Autoren, denen man alle bisher bekannten Fragmente verdankte, haben ihre Zitate je nach Interessenlage so abgegrenzt, dass sie entweder eindeutig zur Physik der vier Elemente oder eindeutig zum Mythos vom schuldigen Gott gehören; so gut wie kein Zitat setzt diese beiden Ebenen miteinander in Beziehung. Erst die Neufunde haben gezeigt, wie beide Ebenen miteinander interagieren.

Und wie funktioniert diese Interaktion?

Die physikalische Theologie ist gewissermaßen mitleidlos. Sie beschreibt die zyklisch wiederholte Alternation der Welt zwischen zwei Extremzuständen, die für sich betrachtet jeweils vollkommen und in diesem Sinne göttlich sind. Auf der einen Seite steht die vollendete Trennung der vier Elemente in vier chemisch reine göttliche Massen, die konzentrisch umeinander rotieren und zwischen denen keinerlei Verbindung stattfindet. Auf der anderen Seite steht der ebenso vollkommene Zustand der vollendeten, organischen Verbindung dieser vier Elemente zu einem einzigen, kugelförmigen Lebewesen, dem göttlichen Sphairos. Demgegenüber ist das, was wir euphemistisch „Leben“ nennen, nichts als ein Nebenprodukt des Übergangs von vollkommener Trennung zu vollkommener Verbindung und umgekehrt.

Der Mythos vom schuldigen Gott stellt nun den kosmischen Zyklus aus der Innenperspektive der ephemeren, in den Übergangsphasen entstehenden Lebewesen dar, die insbesondere in der Phase zunehmender Trennung einer furchtbaren Zukunft entgegengehen. Erst der Mythos ermöglicht eine wertende Unterscheidung zwischen den beiden göttlichen Vollkommenheitszuständen: Der kugelförmige Einheitsgott ist Ursprung und Ziel all der armen, im Laufe des Zyklus entstehenden Lebensfragmente, während der nicht minder göttliche Zustand der vollkommenen Elementen-Trennung als Triumph der lebensfeindlichen Mächte erscheint. Diese Beziehung der objektiven physikalischen Theologie auf den Erfahrungshorizont der fragmentierten Lebewesen ist die Leistung des philosophischen Mythos.

Neben texteditorischer und inhaltlicher Forschung haben Sie sich auch mit der literarischen Form der Texte beschäftigt. Mit Anaximander und Anaximenes etabliert sich im 6. Jh. v.Chr. die Prosaform als philosophische Ausdrucksform. Man könnte nun annehmen, dass es spezifisch philosophisch ist, eben nicht mehr – wie z.B. Homer – in Hexametern zu schreiben, sondern Traktate zu verfassen. Ausnahmen sind allerdings Vorsokratiker wie Xenophanes, Parmenides und Empedokles. Warum kehren diese wieder zur Poesie zurück?
Die im frühen 6. Jahrhundert entwickelte, am Lapidarstil der Inschriften geschulte Form der philosophischen Prosa machte der Dichtung ihr bis dahin geltendes Monopol für sprachliche Weltdeutung streitig. Gegen Ende des 6. Jahrhunderts wirkte der Erfolg der neuen Naturphilosophie auf das Homerverständnis zurück: Die Rhapsoden, die davon lebten, Homertexte zur Aufführung zu bringen, fühlten sich bald dazu bewogen, in Homer selbst Elemente jener neuen Naturphilosophie zu finden; hierzu entwickelten sie das Verfahren der allegorischen Deutung. Der durch diese Rezeption mit einer physikalischen Tiefenschicht aufgeladene Homer war dann für die Philosophie ein attraktiveres Medium als es der Homer des frühen 6. Jahrhunderts gewesen ist; insbesondere wegen der dem Epos nunmehr zugeschriebenen Koexistenz und Interaktion zweier Aussage-Ebenen. So erscheint die Rückkehr von Parmenides und Empedokles zur homerischen Form als eine produktionsästhetische Wendung der zunächst rezeptionsästhetischen physikalischen Homerallegorese. Es handelt sich um ein Geben und Nehmen, ein Hin- und Her zwischen philosophischer Prosaproduktion – Dichtungsrezeption – philosophischer Dichtungsproduktion. Der Homer, zu dem die Philosophie zurückkehrt, ist ein anderer als der, den sie verlassen hat.

Man kann also nicht sagen, dass es pädagogische Gründe hatte, wieder wie Homer zu schreiben, weil man etwas Ethisches vermitteln wollte?

Nein: Das Komplexitätspotential, das der epischen Form durch ihre allegorische Aufladung zugewachsen war, hatte – bis zur Entwicklung des Platonischen Dialogs – in keiner prosaischen Form eine Entsprechung. Deshalb geht die Funktion der epischen Form in der Philosophie des 5. Jahrhunderts v. Chr. über die der pädagogischen Brauchbarkeit oder des kulturellen Prestige weit hinaus.

Eine letzte Frage, Sie haben die Auflage, das Preisgeld innerhalb von sieben Jahren in wissenschaftliche Projekte zu investieren. Haben Sie konkrete Pläne?

Ich habe Pläne einerseits für philologisch-editorische Projekte auf dem Gebiet der antiken Philosophie und andererseits für ein interdisziplinäres philologisch-archäologisches Projekt. Zunächst würde ich gerne zusammen mit zwei Kollegen ein seit langem bewusstes Desiderat in der antiken Philosophieforschung einlösen, nämlich die Rekonstruktion des doxographischen Kompendiums des Aëtios, das die für uns maßgebliche Zusammenstellung naturphilosophischer Lehrmeinungen nach Sachthemen enthielt. Ein weiteres, darauf aufbauendes Projekt wird dann die Gesamtedition der schon immer bekannten sowie der neu hinzugekommenen Empedokles-Fragmente sein. Die philologisch-archäologische Kooperation soll der Frage gelten, welche archäologische Realität den Schriftzeugnissen zur Farbigkeit der antiken Skulptur und zur davon ausgehenden ästhetischen Wirkung gegenüber steht. Die neuerdings unternommenen Farbrekonstruktionen weisen noch den Mangel auf, dass man bisher aus konservatorischen Gründen im Regelfall nicht auf Abformungen derjenigen Skulpturen zurückgreifen konnte, deren antike Farbigkeit erhalten ist. Hier können neue, berührungsfreie Abformungsverfahren weiterhelfen.

Oliver Primavesi (geb. 1961) ist Professor für Gräzistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit griechischer Philosophie und epischer Dichtung. Sowohl in seiner Dissertation (über die Topik des Aristoteles) als auch in seiner Habilitationsschrift (über den Straßburger Empedokles-Papyrus) hat Primavesi sich mit einem Philosophen beschäftigt. Weitere Forschungen sind literarischen und philologischen Gebieten gewidmet (z.B. Homer, Papyrologie). 2007 wurde Primavesi mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. Der 1985 eingerichtete, höchstdotierte deutsche Förderpreis hat zum Ziel, die Arbeitsbedingungen herausragender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu verbessern. Die Preisträger erhalten 2007 erstmals eine Fördersumme von bis zu 2,5 Mio. Euro und können diese Mittel in einem Zeitraum von sieben Jahren für ihre Forschungsarbeiten einsetzen.

Anna Schriefl (Universität Bonn) und Maria Schwartz (Hochschule für Philosophie München) promovieren im Bereich der Antiken Philosophie.