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FORSCHUNG

Nussbaum: Ist Martha Nussbaum eine Aristotelikerin?

Ist Martha Nussbaum wirklich eine Aristotelikerin?

An verschiedenen Stellen ihrer Schriften hat Martha Nussbaum immer wieder betont, ihr Ansatz beinhalte eine adäquate Interpretation der aristotelischen Tugendethik, und der aristotelische Gerechtigkeitsbegriff sei ein zentraler Punkt ihres Theoriegebäudes. Sie sei also gewissermaßen eine sozialdemokratische Aristotelikerin.
JohnStewart Gordon hat diese Behauptung in seiner Promotionsarbeit

Gordon, JohnStewart: Aristoteles über Gerechtigkeit. Das V. Buch der Nikomachischen Ethik. 383 S., kt., € 39.—, 2007, Alber Thesen, Karl Alber, Freiburg

untersucht und kommt zu dem Schluss: Nussbaums Theorie des guten Lebens ist keinesfalls aristotelisch, sondern höchstens „aristotelisch inspiriert“. Er zeigt dies an fünf Punkten.

 Nussbaum hält die These von A. MacIntyre und B. Williams, Aristoteles’ Konzeption des guten Menschen beinhalte einen „metaphysischen Biologismus“ bzw. eine „natürliche Teleologie“, für falsch. MacIntyre hatte argumentiert: „Menschliche Wesen besitzen, wie die Angehörigen aller anderen Spezies, eine spezifische Natur; und diese Natur beinhaltet bestimmte Absichten und Ziele, so dass sie sich von Natur aus auf ein bestimmtes telos zu bewegen. Das Gute ist im Sinne ihrer spezifischen Eigenschaften definiert. Folglich setzt die Ethik des Aristoteles – seinen Erläuterungen folgend – seine metaphysische Biologie voraus.“ Williams seinerseits hatte geschrieben, Aristoteles betrachte die menschliche Lage von einem Standpunkt, der „extraethical“ und „extrahuman“ sei. Nussbaum dagegen vertritt die Meinung, dass die Frage, ob eine bestimmte Tätigkeit wesentlich für die menschliche Natur sei oder nicht, eine „Bewertungsfrage“ sei und man sich grundsätzlich fragen muss, „ob diese Tätigkeit so wichtig ist, dass ein Wesen, dem sie fehlte, nicht als richtiger Mensch angesehen würde“. Sie sieht die Konzeption des Menschen als „das Ergebnis eines Prozesses der Selbstinterpretation und Selbstvergewisserung“.

Demgegenüber zeigt Gordon, dass Aristoteles in seiner Konzeption des Menschen sehr wohl auf das metaphysische Prinzip des natürlichen Teleologismus zurückgreift. Die Menschen haben als Dingklasse ein Eidos, das sie bestimmt. Jedes Eidos verfolgt einen immanenten Zweck. Das Telos des Menschen besteht bei Aristoteles in der Eudaimonia und dem guten menschlichen Leben. Die natürliche Teleologie, von der Aristoteles ausgeht, dient u. a. dazu, Sklaven und Frauen von der Staatsbürgerschaft auszuschließen und ihnen die Fähigkeit abzusprechen, jemals der Eudaimonia teilhaftig zu werden.

 Für Aristoteles ist die theoretische Beschäftigung die genussreichste und seligste Tätigkeit. Er geht davon aus, dass die Eudaimonia nicht in der Lust als Lust besteht, sondern als mit der Lust verbunden angesehen werden muss. Diesbezüglich ist das Studium der Weisheit lustvoll, doch der höchste Genuss besteht nach Aristoteles darin, nicht nach der Weisheit zu streben, sondern sie zu besitzen.
Nussbaum sieht das spezifische Ergon des Menschen nicht in der theoretischen Betrachtung. Die Eudaimonia enthält für sie verschiedene intrinsische Güter, die notwendig zu einem guten Leben dazugehören.

 Aristoteles ist weit davon entfernt, einen „Nussbaumschen Sozialdemokratismus“ zu vertreten. Ihm geht es vielmehr darum, mit Hilfe der bestmöglichen – aristokratischen – Verfassung, die im übrigen viele Menschen ausschließt, das gute Leben und Eudaimonia für die vollen Staatsbürger in der Polis zu gewährleisten. Nussbaum übersieht auch, dass die aristotelische Konzeption Implikationen hat, die sie nicht teilt. Bei Aristoteles ist der Kreis derjenigen, die in den Genuss der Verteilungsgerechtigkeit kommen, sehr klein, und darüber hinaus werden nur be

stimmte Verteilungsgüter und nicht, wie Nussbaum annimmt, Fähigkeiten, bzw. Mittel, um Fähigkeiten zu befördern und aufrechtzuerhalten, verteilt. Aristoteles betont, dass nur eine bestimmte Gruppe von Menschen in der Lage ist, ein gutes Leben und Eudaimonia zu erlangen. Nussbaums einzige Antwort darauf ist, dass Aristoteles „silly and unfounded judgments“ macht.

 Der Begriff „Sozialdemokratismus“ hat eine bestimmte Konnotation, die grundsätzlich nicht mit einer aristotelischen Konzeption vereinbar ist. Für Aristoteles können nur Männer Staatsbürger sein und wenn Nussbaum meint, für Aristoteles seien „für jeden Bürger“ im Zuge der Verteilungsgerechtigkeit „die Voraussetzungen zu schaffen, die es einem ermöglichen, ein gutes Leben zu wählen und zu führen“, ist das laut Gordon falsch.