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Leib: Andreas Brenner will den Leib zur Sprache bringen

Andreas Brenner will den Leib zur Sprache bringen

Die gegenwärtige Bioethik ist zu sehr auf die Ebene des Körpers ausgerichtet, die LeibPerspektive wird vernachlässigt. Das ist die These im Zentrum der Habilitationsschrift des in Basel lehrenden Andreas Brenner:

Brenner, Andreas: Bioethik und Biophänomen. Den Leib zur Sprache bringen. 304 S., kt. 2006, Königshausen und Neumann, Würzburg.

In seiner Wiedererinnerung an den in Vergessenheit geratenen Leib schließt sich Brenner an die Phänomenologie von Hermann Schmitz an. Im Unterschied zu MerleauPonty, für den der Leib ebenfalls von Bedeutung ist, zeichnet sich die „Neue Phänomenologie“ von Hermann Schmitz durch eine besonders reichhaltige Beschreibungsdichte aus. Brenner will den Leib als eine substantielle Größe im BioethikDiskurs etablieren: „Am so wiedergewonnenen Leib führt hernach kein Weg mehr vorbei.“

Für Brenner steht im Zentrum der Bioethik der Bios, das Leben, steht. Der Leib erweist sich darin als eine Instanz, die die Sorge um das Leben sowohl zu artikulieren wie auch in ihrem Grund erst erkennen vermag. Bei biotechnologischen Projekten, wie sie häufig unter dem Schirm der politischen Institutionen der Gesundheitsfürsorge geplant werden, steht dagegen der Körper und nicht der Leib im Zentrum. So sieht Brenner Organtransplantationen oder Klonierungen als Ausdruck der Herrschaft über Körper. Sprachlich wird dies ausgedrückt durch die Vermeidung der ErstePersonPerspektive. Er sind darin ein größerer reduktionistischen Sprachspiels ist: das Subjekt wird außerhalb des Körpers im Nirgendwo angesiedelt, von wo ihm gleichwohl die Möglichkeit der InBesitznahme des Körpers zukommen soll. Auf diese Weise wird ein zutiefst unbefriedigendes Menschenbild generiert.

Brenner sieht die Angewandte Ethik durch diese Verkürzung und der daraus folgenden Gefahr eines technokratischen Verständnisses bedroht. Für ihn hat die Bioethik vielmehr zu einer Biopolitik zu führen, die unter der Perspektive der Sorge um den Bios und nicht der der Macht über den Bios handelt.













Andreas Brenner

Insbesondere sind es die Begriffe „Phänomen“ und „Situation“, die Brenner aus der LeibPhänomenologie von Schmitz übernimmt und für seinen eigenen bioethischen Ansatz verwendet. Phänomene sind „Sachverhalte, die man jeweils als Tatsachen anerkennen muss, weil man sie nicht im Ernst bestreiten kann“. (Schmitz) Und als Situation begreift Schmitz ein Ensemble von Sachverhalten, in die ein Selbst sich gestellt sieht und die ihm entsprechende Phänomene darbieten, wobei eben diese Situation und nicht allein Sinnesdaten wahrgenommen werden. Phänomen und Situation werden durch den Leib erfasst, wir erleben sie im eigenleiblichen Spüren. (Es ist dies eine Position, die Schmitz gerade auch von der Phänomenologie, insbesondere von Bernhard Waldenfels, viel Kritik eingetragen hat. Die Kritik lautet, Schmitz habe sich mit dem SpürenBegriff auf eine Rede eingelassen, die immer schon einen Außenbezug enthalte und mithin die angestrebte Innendimension bereits verlassen habe, bevor sie zur intendierten Innenaussage gelange).

Die Grenze des Leibes – Brenner schließt sich hier Schmitz an – ist sein Eigenleiberleben. Der Leib ist ein Erkenntnisorgan sowohl der äußeren als auch der inneren Welt und kann daher als ein „Schlüssel zur Welt“ angesehen werden. Er ist, in den Worten Schopenhauers, „unmittelbares Objekt“. Leibliche Wahrnehmungsmöglichkeiten lassen sich jedoch erweitern, insbesondere im Bereich der atmosphärischen Wahrnehmung. Atmosphärische Wahrnehmungen sind raumfüllende Stimmungen, die sowohl von anderen Leibern ihren Ausgang nehmen können wie auch von der bloßen, unbelebten Raumkon¬stellation. Im ersten Fall ist es die responsive Leistungsfähigkeit von Leibern, die in der Lage sind, auf andere Leiber kommunizierend und antwortend zu reagieren. Die Leiblichkeit ermöglicht aber auch die Wahrnehmung einer (etwa gemüthaften) Raumatmosphäre, die sich der bloßen, organisch unbelebten Raumkonstellation verdankt.

Für Brenner legt die Artikulationsmöglichkeit der eigenen Leiblichkeit die Vermutung nahe, dass Leibhaben mit einer entsprechenden Leibartikulation einhergeht und diese sowohl die Basis des moralagentStatus wie auch jeder AlteritätsBeziehung bildet. Menschen haben ein Interesse daran, den Spielraum des eigenen Leibes auszuschöpfen, was bedeutet, die elementare Leiblichkeit in der Wahrnehmung anderer zu erweitern. Die „Elementarität“ der Leiblichkeit skizziert dabei eine Gemeinsamkeit aller Leibhaber. Alle Leibhaber verfügen über „elementares Selbstbewusstsein“, das sie als „affektives Betroffensein“ erleben. Der von der Affek¬tion Betroffene erlebt sich als identisch mit dem von der Affektion Betroffenen, mithin als ein Leibhaber, der diese Affektionen erlebt und mithin sich als Selbst. Subjektivität bildet sich elementar aus dem als mit sich selbst identischen Betroffenen.

Der LeibBegriff weist in den Raum hinein und damit in eine für die Bioethik grundlegende Kategorie. Er darf aber nicht mit der raumkonstituierenden Ontologie des Körpers verwechselt werden. Nimmt man in der Raumvorstellung den Ausgang bei den Körpern, so gelangt man zu der Vorstellung, dass Räume nicht abhängig von den sie „bewohnenden“ Körpern sind, wobei die Vorstellung des leeren Raumes als Beleg genommen wird. Den Unterschied von Körper und Leib in bezug auf den Raum hat Schmitz so formuliert: „Leiblichkeit ist das, dessen Örtlichkeit absolut ist. Körperlich ist das, dessen Örtlichkeit relativ ist.“ Die hier durch die Leiblichkeit grundgelegte Raumbeziehung ist maßgeblich für die Raumerkenntnis, welche subjektiv ist und der gegenüber die Vorstellung eines leeren vor aller subjektiven Geltung daseienden Raumes als eine Fiktion erkennbar wird, die von der Primärdimension des Leibes absieht.

Leib und Körper sind nicht nur im Innenweltverhältnis voneinander unterschieden, der Leib stellt sich auch in der Außenwelt als gegenüber nichtleiblichen Körpern anders dar und konstituiert erst als Leib das Außenverhältnis. Den Unterschied markiert die Bewegung beider im Raum: Während man bei den Körpern im eigentlichen Sinne gar nicht von einer Bewegung sprechen kann, da sie immer nur mittelbar sich bewegen, so gilt für Leiber, dass sie sich, wie Husserl es ausdrückt, „unmittelbar spontan (frei)“ bewegen. Denn Körper ist, anders als der Leib, eine Substanz, die über keine Selbstwahrnehmung verfügt und entsprechend auch nicht selbstbewegend sein kann, setzt dies doch ein Zentrum des Selbst voraus, das beim Körper geradezu ausgeschlossen wird. Bewegung bedeutet dabei sowohl die Veränderung im äußeren Raum wie auch die Aufmerksamkeitsveränderung in der Räumlichkeit des eigenen Leibes. Beide Bewegungen zusammen bilden die Bewegung des Leibes. Die Entdeckung fremder Leiblichkeit setzt wiederum das Vorhandensein des eigenen Leibes voraus, was durch kinästhetische Prozesse ermöglicht wird, welche unterschiedliche Empfindungen unterschiedlicher Leibregionen miteinander verbinden.

Die mit der durch die Herausbildung neuzeitlicher Rationalität einhergehende Verschüttung der Leiblichkeit hat parallel dazu auch die Zeitverhältnisse nur noch in ihrer objektivierbaren Form als denkbar zurückgelassen.

Eine LeibEthik ruht auf der Anerkennung der Selbsthaltigkeit des Leibes, anerkennt deren Primat und ordnet alle anderen Bezüge dieser nach. Die Leiblichkeit kann als die conditio humana schlechthin gelten. Wichtig ist dabei die Unterscheidung zwischen eigenleiblichen Handlungen und dem eigenen Leib. Dies markiert der Begriff der Authentizität: Nur Handlungen vermögen hier einen Beitrag zu leisten, wohingegen die erlebte Leiblichkeit als Leiblichkeit keine authentischen Akte, wohl aber Authentizität im primären Sinn stiftet. Handlungen sind primär leiblich und als solche authentisch. Das Selbst, das von einer Außenperspektive betrachtet eine Handlung ausführt, ist diese Handlung. Die Konstitution des Selbst durch die Handlung ist identisch mit der Authentizität, welche die Handlung als körperlichleiblicher Akt stiftet. Die Leiblichkeit begründet weder noch stiftet sie Selbstsein, sondern sie ist dieses.

Man kann deshalb den Begriff der Authentizität des Leibes auch als Subjektivität bezeichnen. Der Gedanke der leiblichen Authentizität kehrt die Richtung des NeminemLaede, des NichtSchadensImperativs um: Nicht das Individuum wird in seiner potentiellen Verletzbarkeit vorgestellt, vielmehr gilt es Entfaltungsbedingungen zu gewähren, innerhalb derer leibliche Authentizität gelebt werden kann. Die leibliche Authentizität vermag sich dann zu entfalten, wenn die naturalen Bedingungen als „authentisch“ bezeichnet werden können.

Das NichtSchadensPrinzip verlangt mit Blick auf den Leib mithin ein Denken in der Perspektive des Leibes, und dies verlangt auch ein Mitbedenken von Gefühl und Intuition. Emotionale Wahrnehmung unterscheidet sich von der rationalen darin, dass sie einen ergreift und man sich nicht auf reflexivem Abstand zu ihr halten kann. Emotionen entstehen nicht vollends in der Innenwelt, sie enthalten auch Außenanteile. Dies wird in der leiborientierten Gefühlstheorie von Schmitz berücksichtigt. Menschen spüren auch atmosphärische Zustände, die zwischen ihnen bestehen, sie können Verstimmungen, Hochstimmung und eine gedrückte Stimmung, die in einem Raum herrscht, unterscheiden. Aus diesem Grund behauptet Schmitz, dass Gefühle „räumlich ausgedehnt“ seien. Auch die Intuition stellt wie jede Emotion eine körperlichleibliche Artikulation dar, die wiederum eine Besonderheit des jeweiligen Leibhabers ist.


Die Möglichkeit der Betroffenheit durch Gefühle und Intuitionen als Potenzen der Wahrnehmung gibt Gelegenheit, derart Wahrgenommenes auch ethisch zu berücksichtigen. Der Unmittelbarkeit der Wahrnehmung wie auch der affektiven Betroffenheit durch Einfühlung kommt kognitive Bedeutung zu. Ein Medium dieser Bedeutungsvermittlung sind Erzählungen, Reportagen und Geschichten. Die durch den Universalitätsanspruch geprägte Theoriesprache der Aufklärungsphilosophie schmälert jedoch deren handlungspraktische Relevanz erheblich. Für Brenner liegt die überragende Bedeutung der erzählten Geschichte in ihrer Angefülltheit mit Lebenswirklichkeit, welche eine Theoriesprache ihres Allgemeinheitsanspruchs wegen nur in eingeschränktem Maße zum Ausdruck bringen kann. Die Diskussion von ethisch bedeutsamen Gefühlen bleibt so lange missverständlich, wie Gefühle nicht als leiblich und damit nicht als authentischer Ausdruck des Leibes begriffen werden. Für Brenner stellt das Fühlen der Gefühle eine Artikulation der Leiblichkeit dar und setzt als solche die Leiblichkeit voraus.

Die Diskussion um die Bioethik und Biopolitik demonstriert die Notwendigkeit, den Leib zu bedenken. Dabei erweist sich der Leib als die Instanz, über die unstrittige Aussagen nur in der ersten Person gemacht werden können. Die Erfahrungen der Leibinhaber gelten nur für diese absolut, darüber hinaus gehende Aussagen stehen unter dieser Eingangsbedingung. Für Brenner folgt daraus, dass der moralische Relativismus nicht etwa den Ernst der Moral bedroht, sondern im Gegenteil seine Voraussetzung ist. Damit ist die Sache der Moral statt auf eine allgemeine unbedingte Autorität nur noch auf einen jeweils subjektrelativen Ernst verpflichtet. Mit diesem Verzicht auf einen objektiven Geltungsanspruch geht eine Befreiung von der Illusion einer Allmachtsvorstellung einer transzendentalen Moralbegründung einher. An deren Stelle tritt ein Freiraum zur Entfaltung des Selbst, das diesen Raum nutzt, indem es sich nicht länger in und aus der Außenperspektive bildet, sondern von sich selbst ausgehend zu sich selbst findet