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FORSCHUNG

Kulturen: Amartya Sen über den Krieg der Kulturen

Amartya Sen über den Krieg der Kulturen

Viele der Konflikte und Grausamkeiten in der Welt beruhen auf der Illusion einer einzigartigen Identität, sei es die einer Religion oder einer Kultur, zu der es keine Alternative gibt Diese Illusion kann, mit Hass verbunden, jedes menschliche Mitgefühl eliminieren, das wir normalerweise besitzen Das Resultat ist dann krude elementare oder aber heimtückische Gewalt und Terrorismus im globalen Maßstab

In seinem Buch

Sen, Amartya: Die Identitätsfalle Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt 208 S, Ln, € 1990,, 2007, CH Beck, München

zeigt der indische Nobelpreisträger, wie die Annahme, man könne Menschen ausschließlich aufgrund der Religion oder Kultur zuordnen, eine kaum zu unterschätzende Ursache potentieller Konflikte in der heutigen Welt ist Sen tadelt, die Welt werde aus
schließlich als eine Ansammlung von Religionen oder Kulturen betrachtet Man sehe ab von allen anderen Identitäten, welche die Menschen haben und schätzen, wie Klasse, Geschlecht, Beruf, Sprache, Wissenschaft, Moral oder Politik Dieser Reduktionismus der hohen Theorie kann oft, ungewollt, zur Gewalt der niederen Politik beitragen

Wenn man zwischenmenschliche Beziehungen nur unter dem Aspekt der Beziehungen zwischen Gruppen sieht, etwa der „Freundschaft“ oder des „Dialogs“ zwischen Religionsgemeinschaften und dabei andere Gruppen ignoriert, denen die betreffenden Menschen gleichzeitig angehören, dann geht Sen zufolge vieles, was im menschlichen Leben von Bedeutung ist, gänzlich unter Er verlangt eine Neuausrichtung des Denkens und dabei eine Überprüfung und Neubewertung etablierter Begriffe, darunter solcher wie ökonomische Globalisierung, politischer Multikulturalismus, historischer Postkolonialismus, sozialer Ethnizität, religiöser Fundamentalismus und globaler Terrorismus

Es wäre allerdings nicht sinnvoll, Identität insgesamt als ein Übel zu betrachten, denn Identität kann durchaus eine Quelle von Reichtum und Freundlichkeit, aber eben auch von Gewalt und Terror sein Aber die Stärke einer kriegerischen Identität kann durch die Macht konkurrierender Identitäten eingeschränkt werden So mag ein Hutu angestachelt werden, Tutsis zu töten, aber dennoch ist er nicht nur ein Hutu, sondern auch ein Einwohner Kigalis, er ist zudem Afrikaner, Arbeiter und Mensch
Sen kritisiert Huntingtons „Kampf der Kulturen“ Dessen Fehler beginne schon damit, dass er entlang den religiösen Trennlinien die Welt in unterschiedliche Kulturen einteilt Dass diese religiösen Unterschiede in letzter Zeit im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, bedeutet nicht, dass alle anderen Unterschiede bedeutungslos sind, und erst recht können sie nicht als einzig relevantes Kriterium zur Einteilung der Menschheit gelten Auch können viele Identitäten bzw Identitätsgruppen von flüchtiger Natur und kontingenter Exi¬stenz sein Und ob eine bestimmte Klassifikation plausibel ein Identitätsgefühl erzeugen kann oder nicht, hängt von den gesellschaftlichen Umständen ab Huntington beschreibt die Weltkulturen für Sens Geschmack viel zu schlicht und laut empirischen Untersuchungen auch als viel zu homogen und geschlossen So bezeichnet Huntington die Kultur Indiens als eine „hinduistische Kultur“ Die Manipulationen der Realität, wie sie von HinduPolitikern betrieben wird, scheinen ihm Recht zu geben Dennoch ist die Kultur Indiens viel komplexer als Huntington annimmt

Welche Bedeutung jemand welcher Identität beimisst, kann je nach Kontext variieren Sen hält es für schwer vorstellbar, dass es jemandem nicht möglich ist, alternative Identifikationen in Erwägung zu ziehen Falsch wäre es jedoch anzunehmen, man brauche seine Identitäten nur zu „entdecken“, als handle es sich um ein Naturphänomen In Wirklichkeit treffen wir alle – und sei es auch nur stillschweigend – permanent Entscheidungen über unsere verschiedenen Zugehörigkeiten und Verbindungen beizumessenden Prioritäten