PhilosophiePhilosophie

01 2013

Ernst, Gerhard: Fortschritt in der Philosophie?

aus Heft 1/2013

 Im Big Typescript schreibt Ludwig Wittgenstein:

Ich lese „…. philosophers are no nearer to the meaning of ‚Reality’ than Plato got, ….“. Welche seltsame Sachlage. Wie sonderbar, dass Plato dann überhaupt so weit kommen konnte! Oder, dass wir dann nicht weiter kommen konnten! War es, weil Plato s o gescheit war? (Wittgenstein, BT, S. 424.)

Wittgenstein wirft hier eine beunruhigende Frage auf: die Frage nach dem Fortschritt und damit letztlich nach der Natur der Philosophie. Was ist das für eine seltsame wissenschaftliche Disziplin, in der es anscheinend überhaupt keinen Fortschritt gibt? Was machen wir Philosophen denn dann überhaupt? Warum schreiben wir Aufsätze und Bücher, anstatt Platon zu lesen und die Sache damit als erledigt zu betrachten? Aber wie sollte es andererseits möglich sein, dass ein Mensch die Sache der Philosophie mehr oder minder erledigen konnte? So gescheit war Platon ja wohl auch wieder nicht.

Drei Argumente gegen einen Fortschritt in der Philosophie

Gibt es tatsächlich keinen Fortschritt in der Philosophie? Ich denke, mindestens drei Argumente sprechen für diese Ansicht.

Das Bescheidenheitsargument: Philosophen sind im Allgemeinen zurückhaltend, wenn es darum geht, die eigenen Leistungen an denen der großen Philosophen der Vergangenheit zu messen. Wer würde von sich behaupten, dass er die Natur des Menschen, das Wesen des Guten oder unser Verhältnis zur Welt besser versteht als Platon, Thomas oder Kant? Gäbe es Fortschritt in der Philosophie, so wäre diese Form der Bescheidenheit verfehlt. Sie ist jedoch, wie es scheint, angemessen; also gibt es hier keinen Fortschritt.

Das Ausbildungsargument: Es ist auffällig, dass die Tradition in der Ausbildung von Philosophen eine ganz andere Rolle spielt als in der Ausbildung anderer Wissenschaftler. Wer beispielsweise Physik studiert, muss nicht die Schriften Newtons lesen. Warum? Weil das, was Newton richtig erkannt hat, Bestandteil des Lehrbuchwissens geworden ist und weil das, was Newton nicht richtig erkannt hat, für den heutigen Physiker nicht von Interesse ist. Ganz anders in der Philosophie. Wer Philosophie studiert, muss nach wie vor die Schriften Platons lesen. Es scheint gerade nicht möglich zu sein, die richtigen Erkenntnisse von Platon einfach in Lehrbüchern festzuschreiben. Und es scheint auch nicht so zu sein, dass seine Irrtümer für uns irrelevant geworden sind. Gäbe es Fortschritt in der Philosophie, so müsste die Ausbildung anders aussehen als sie tatsächlich aussieht.

Das Forschungsargument: Die Vergangenheit spielt nicht nur in der Ausbildung, sondern auch in der philosophischen Forschung eine Rolle, die sie in Disziplinen, in denen es Fortschritt gibt, nicht spielt. Wenn man physikalische Forschung betreibt, setzt man sich nicht mit Newton auseinander, sondern mit den Kollegen. Viele Philosophen entwickeln ihre Vorstellungen dagegen auch oder sogar hauptsächlich in der Auseinandersetzung mit klassischen Positionen. Man beschäftigt sich dabei beispielsweise mit Platon, als wäre er ein ernstzunehmender philosophischer Gesprächspartner, als wäre er ein Kollege, der nur schon etwas länger emeritiert ist. Nicht alle Philosophen arbeiten so, aber man kann in der Philosophie ein systematisches (und nicht nur ein rein historisches) Interesse an der Tradition haben. In Disziplinen, in denen es Fortschritt gibt, ist das nicht so.
Diese Überlegungen führen uns in ein Dilemma: Einerseits muss es doch Fortschritt in der Philosophie geben. Wie sonst wäre es verständlich, dass nach Platon überhaupt noch Philosophie betrieben wurde? Anderseits kann es doch keinen Fortschritt in der Philosophie geben. Das zeigen die drei Argumente.


Zwei Sichtweisen der Philosophie

Eine Auflösung des Dilemmas muss meines Erachtens von einer Antwort auf die Frage nach der Natur philosophischer Erkenntnis ausgehen. Aus der jüngeren Philosophiegeschichte kann man hier im Wesentlichen zwei Sichtweisen ablesen.

Der ersten Sichtweise zufolge ist philosophische Erkenntnis apriorische Erkenntnis, stammt also nicht aus der Erfahrung und ist somit von ganz anderer Art als die Erkenntnisweise der empirischen Wissenschaften. Apriorische Erkenntnis ist der ersten Auffassung zufolge möglich, weil es analytische Sätze und damit rein begriffliche Zusammenhänge gibt (wie beispielsweise den, dass Wissen Wahrheit impliziert). Philosophische Erkenntnis ist die Erkenntnis solcher Zusammenhänge, also begriffliche Erkenntnis.

Der zweiten, der naturalistischen Auffassung zufolge ist philosophische Erkenntnis grundsätzlich von der gleichen Art wie die Erkenntnis der empirischen Wissenschaften auch. Grundlage dieser Auffassung ist vor allem die Vorstellung, dass man nicht wirklich zwischen analytischen und synthetischen Sätzen unterscheiden kann. Dementsprechend wird auch die Unterscheidung zwischen rein apriorischer und rein aposteriorischer Erkenntnis hinfällig, jedenfalls dann, wenn man apriorische Erkenntnis mit rein begrifflicher Erkenntnis identifiziert. Auch wenn philosophische Erkenntnis nicht von grundsätzlich anderer Art ist als wissenschaftliche Erkenntnis, kann es natürlich Unterschiede geben, etwa im unterschiedlichen Abstraktionsgrad. Während es in der Philosophie vielleicht um sehr allgemeine, umfassende Wahrheiten geht, beschäftigen sich die Einzelwissenschaften mit bestimmten Teilbereichen des Wissens. Prinzipiell gibt es aber einen kontinuierlichen Übergang zwischen den Einzelwissenschaften und der Philosophie. Unterschiedlich ist nur der Gegenstand, nicht die Methode.

Ist die vor allem mit dem Namen Quine verbundene Kritik an der analytisch-synthetisch-Unterscheidung berechtigt? Immer wieder hört man die Äußerung „Seit Quine wissen wir ja, dass es keine strikte Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Zusammenhängen gibt.“ Meiner Ansicht nach ist in Wahrheit keines seiner Argumente überzeugend. Die analytisch-synthetisch-Unterscheidung kann durchaus verteidigt werden – allerdings nicht in diesem Rahmen, weshalb ich nur darauf verweise: „Seit Strawson und Grice wissen wir ja, dass Quine unrecht hatte.“

Was ist damit gewonnen? Zunächst einmal ist der Weg frei für eine Erläuterung der Natur der Philosophie im Sinne der Aprioristen, also im Sinne der Philosophen, die philosophische Erkenntnis als die Erkenntnis begrifflicher Zusammenhänge charakterisieren möchten – eine Sichtweise, die ich für im Wesentlichen richtig halte. Das heißt jedoch nicht, dass ich die Sichtweise des Naturalisten völlig ablehne. Nur die Begründung dieser Sichtweise mit der Zurückweisung der analytisch-synthetisch-Unterscheidung halte ich für verfehlt. Wenn man die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Wahrheiten akzeptiert, ist es zwar verlockend, zu glauben, dass es die Philosophie mit einem Teilbereich der Ersteren zu tun hat und deshalb eine apriorische Disziplin ist, während sich die empirischen Wissenschaften mit einem Teilbereich der Letzteren beschäftigen und gerade deshalb als empirisch gelten können. Das ist aber meines Erachtens falsch, weil es der Philosophie nicht nur um begriffliche und der Wissenschaft nicht nur um empirische Wahrheiten geht.

Ist beispielsweise die (quasi-) wissenschaftliche Erkenntnis, dass Wale keine Fische sind, eine empirische Wahrheit? Ja und nein. Nachdem man zu einer bestimmten biologischen Definition des Begriffs eines Fisches gekommen war, konnte man rein empirisch feststellen, dass Wale keine Fische sind, indem man ihre Anatomie untersuchte. Das war aber gerade nicht, wie man zu dieser Erkenntnis kam. Vielmehr hat man zuerst die Anatomie verschiedener Meeresbewohner untersucht, um dann zu einer Definition des Fischbegriffs zu kommen, die Wale – entgegen dem vorherigen Sprachgebrauch – ausschließt. Empirische Befunde führen zu einem bestimmten Sprachgebrauch, der es dann wiederum erlaubt, bestimmte biologische Einsichten zu formulieren. Die eigentlich wissenschaftliche Erkenntnis liegt also weniger in der Entdeckung, dass Wale keine Fische sind, sondern in der Entdeckung, dass der Begriff des Fisches in bestimmter Weise definiert werden muss, wenn er für die Zwecke der Biologie nützlich sein soll, also eine übersichtliche und theoretisch interessante Klassifikation des Tierreichs erlauben soll. Dass eine Einteilung übersichtlich, eine Klassifikation interessant oder ein Begriff nützlich ist, ist aber weder eine begriffliche Einsicht noch eine empirische.

Was für eine Erkenntnis ist es dann? Die Antwort lautet: Wir haben es hier mit einer normativen Erkenntnis zu tun. Dass es in der Wissenschaft im Kern um normative Erkenntnisse geht, sollte uns eigentlich nicht überraschen, denn der Wissenschaft geht es schließlich um Erklärungen und um Vorhersagen. Es gibt aber eine analytische Beziehung zwischen den Begriffen der Erklärung und Vorhersage einerseits und dem Begriff der Bestätigung, und damit dem Begriff eines Grundes andererseits. Die Wissenschaft kann nur Erklärungen finden und Vorhersagen ermöglichen, indem sie Gründe als solche, also Ansprüche an unsere Vernunft, erkennt. Und genau das nennt man normative Erkenntnis.

Die doppelte Beziehung zwischen Philosophie und Wissenschaft

Daraus ergibt sich eine doppelte Beziehung zwischen der Philosophie und der Wissenschaft. Zum einen besteht eine wesentliche Analogie zwischen der empirischen Wissenschaft und wichtigen Teilbereichen der Philosophie, nämlich der normativen Ethik und der normativen Ästhetik. Deren Erkenntnisweisen gleichen der Erkenntnisweise der Wissenschaft, eben weil es in beiden Bereichen um normative Erkenntnis geht, so dass sich viele Einsichten der Wissenschaftstheorie auf die Metaethik und Metaästhetik übertragen lassen. Insbesondere in Bezug auf die Frage nach der Objektivität moralischer und ästhetischer Erkenntnis ist die Analogie mit der Wissenschaft instruktiv.

Zum anderen gibt es aber tatsächlich die Kontinuität zwischen Philosophie und Wissenschaft, die dem Naturalisten so wichtig ist, denn die Philosophie beteiligt sich an dem normativen Erkenntnisprojekt der Wissenschaften und hat das schon immer getan. Wenn man Philosophie der Physik, der Biologie oder der Neurowissenschaften betreibt, dann muss man – im Sinne des Aprioristen – zunächst den relevanten wissenschaftlichen Sprachgebrauch klären. (Man denke beispielsweise an Peter Hackers Auseinandersetzung mit den Neurowissenschaften.) Das ist aber nur ein Teil des umfassenderen Projekts, den wissenschaftlichen Sprachgebrauch zu ändern, und zwar nach den Maßgaben der relevanten empirischen Erkenntnisse. Die Philosophie der Physik, Biologie oder der Neurowissenschaft geht damit tatsächlich kontinuierlich in die entsprechenden empirischen Disziplinen über, und vielleicht gilt das sogar für die philosophischen Kerndisziplinen, die Philosophie des Geistes und Erkenntnistheorie (hin zur Psychologie und den Kognitionswissenschaften), die Sprachphilosophie (hin zur Linguistik) und die Metaphysik und Naturphilosophie (hin zu den Naturwissenschaften). Es ist kein allzu großer Schritt von der Begriffsklärung zur Begriffsgestaltung, von der deskriptiven zur zur revisionistischen Metaphysik.

Insoweit der Naturalist mit seiner Charakterisierung der Philosophie recht hat, ist unser Ausgangsdilemma einfach aufzulösen, denn in den relevanten Bereichen der Philosophie greifen die drei Argumente gegen den Fortschritt der Philosophie nicht. Philosophen der Biologie können problemlos beanspruchen, Aristoteles überflügelt zu haben. Alles andere wäre falsche Bescheidenheit. Die Ausbildung zum Philosophen der Physik verlangt eher ein Physikstudium als ein Studium Platons. Und Forschung in der Philosophie der Neurowissenschaften kann kaum in der Auseinandersetzung mit Thomas von Aquin betrieben werden. Weder das Bescheidenheitsargument noch das Ausbildungs- oder Forschungsargument können hier also angesetzt werden. Das gilt umso stärker, je näher man sich an den entsprechenden empirischen Disziplinen befindet; es gilt umso weniger, je weiter man sich von ihnen entfernt. Denn der Fortschritt in der Philosophie ist hier schlicht eine Folge beziehungsweise ein Teil des Fortschritts in den relevanten empirischen Wissenschaften. Die Frage nach der Natur philosophischen Fortschritts in diesem Bereich kann darum so einfach oder so schwierig beantwortet werden, wie die Frage nach der Natur wissenschaftlichen Fortschritts. Bekanntlich gibt es hier nicht nur kumulative Vorstellungen, sondern auch stark relativistisch geprägte, wie die von Kuhn und Feyerabend, aber auch vermittelnde, wie die von Lakatos.

Philosophie als Rätsellösen

Unser Ausgangsdilemma ist damit allerdings nur teilweise und vermutlich sogar zum geringeren Teil gelöst, denn es bleibt noch die Sichtweise des Aprioristen zu untersuchen. Auch unter den Aprioristen gibt es wissenschaftlich gesinnte Philosophen, die im Sinne einer deskriptiven Metaphysik eine möglichst übersichtliche Ordnung über unser System von Begriffen liefern wollen. Unser Begriffssystem ändert sich aber mit dem Fortschritt der Wissenschaften (unter Einschluss der Philosophie selbst). Insofern können wir hier auf die bereits genannte Auflösung des Dilemmas verweisen. Damit ist das Problem des Fortschritts für den Aprioristen jedoch noch keineswegs gelöst. Es gibt nämlich eine ganze Reihe von philosophischen Problemen – und das sind, wie ich glaube, sogar die genuin philosophischen Probleme – welche die Form von Rätseln beziehungsweise die Form von Dilemmata annehmen, die uns, wie es scheint, durch die ganze Philosophiegeschichte begleiten. Betrachten wir als Beispiel kurz die skeptische Herausforderung.

Einerseits nehmen wir alle an, eine ganze Menge zu wissen. Ich weiß, dass ich Gerhard Ernst heiße, und vieles mehr. Andererseits gibt es ganz einfache Argumente, die, wie es scheint, zwingend zeigen, dass wir nichts wissen können. So lautet das Agrippa-Trilemma: Wissen setzt eine Begründung voraus, denn wer eine nur zufällig wahre Überzeugung hat, besitzt kein Wissen. Die Begründung besteht aber selbst wieder aus Wissen, nämlich aus Wissen um Gründe. Damit führt aber jeder Begründungsversuch unweigerlich in einen infiniten Regress, einen Begründungszirkel oder in einen dogmatischen Abbruch. In allen drei Fällen scheitert die Begründung. Also kann es keine begründete Überzeugungen und somit erst recht kein Wissen geben.

Wir sind hier in einer Situation, die Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen (§ 112) so beschreibt:

„Es ist doch nicht so!“ – sagen wir. „Aber es muss doch so sein!“

Es ist doch nicht so, dass Wissen unmöglich ist. Davon sind alle fest überzeugt. Aber es muss doch so sein. Das zeigen die skeptischen Argumente. Nach Wittgenstein ist diese Situation ganz typisch für die Philosophie. Und tatsächlich kann man leicht weitere Beispiele anführen, die uns jeweils ins Zentrum einer philosophischen Disziplin führen: Es ist doch nicht so, dass wir frei sind! (Denn im kausalen Geflecht der Natur hat der freie Wille keinen Platz.) Aber es muss doch so sein, dass wir frei sind! (Wie sonst könnten wir für unser Tun verantwortlich sein?) Es ist doch nicht so, dass die Moral Objektivität beanspruchen kann. (Denn was sollte beispielsweise eine moralische Tatsache sein?) Aber es muss doch so sein. (Wie sonst ließe sich unsere moralische Praxis verstehen?) Es ist doch nicht so, dass sich über Geschmack nicht streiten lässt. (Denn wir streiten doch ständig darüber.) Aber es muss doch so sein, dass sich über Geschmack nicht streiten lässt. (Sind ästhetischer Urteile denn nicht wesentlich subjektiv?) Es ist doch nicht so, dass Identitätsaussagen informativ sind. (Denn sie sagen ja nur, dass ein Ding mit sich selbst identisch ist.) Aber es muss doch so sein, dass sie informativ sind. (Wie sonst könnte es für jemanden eine Neuigkeit sein, dass Muhammad Ali Cassius Clay ist?) Und so weiter. Die Philosophie ist voll von solchen Problemen, im Großen wie in den argumentativen Details.

Ich teile Wittgensteins Ansicht, dass Rätsel dieser Art dadurch zustande kommen, dass es uns an Übersicht über unsere Begriffe und damit letztlich über unseren Sprachgebrauch fehlt. Es geht hier nicht um empirische Fragen. Dementsprechend kann man solche Rätsel nur auflösen, indem man begriffliche Beziehungen analysiert – ganz so, wie es der Apriorist fordert. Damit zeigt sich die Philosophie als eine Wissenschaft, die nicht nur genuin eigene Fragen, sondern auch eine eigene Methode hat, welche sie sowohl von den Natur-, als auch von den Geisteswissenschaften unterscheidet: Philosophische Rätsel werden dadurch gelöst, dass man sich – rein apriorisch – einen Überblick über Begriffsbeziehungen verschafft.

Das kann man allerdings auf sehr unterschiedliche Art und Weise tun. Man kann nach der Wesensdefinition eines Begriffs, also nach einer Analyse mittels einzeln notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen suchen; manchmal genügt es, nur notwendige oder nur hinreichende Bedingungen für die Anwendung eines Begriffs zu finden; man kann auch Beispiele für die Verwendung relevanter Wörter in übersichtlicher Weise zusammenzustellen oder nach einem geeigneten Vergleichsobjekt suchen; oder man liefert eine rationale Rekonstruktion der Begriffsverhältnisse mit den Mitteln der formalen Logik. Welche Methode anzuwenden ist, hängt zum einen natürlich von der Art des zu lösenden Rätsels ab. Zum anderen hat es aber auch mit den Bedürfnissen desjenigen zu tun, der das Rätsel lösen möchte.
Philosophie und Kunst

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zeigt sich unser Ausgangsdilemma selbst als ein Problem, das die für die Philosophie typische Form aufweist: Es ist doch nicht so, dass es Fortschritt in der Philosophie gibt. Das zeigen das Bescheidenheits-, das Ausbildungs- und das Forschungsargument. Aber es muss doch so sein. Denn was tun Philosophen denn sonst überhaupt? Und dieses Problem stellt sich in besonderer Schärfe, wenn man glaubt, es gehe in der Philosophie vor allem darum, einige zentrale Rätsel zu lösen. Hat Platon diese Rätsel denn nun schon gelöst oder nicht? Beide Antworten scheinen unser Verhältnis zu Platon unverständlich zu machen.

Rätsel der beschriebenen Form löst man, in dem man sich Übersicht verschafft. Und das kann man manchmal dadurch erreichen, dass man sich die richtigen Vergleichsobjekte vor Augen führt. Wer im Sinne unserer Ausgangsüberlegung die Philosophie als rätselhaft empfindet, ist, wie ich glaube, auf den falschen Vergleich fixiert. Er versucht die Philosophie in ihrer Gesamtheit nach dem Modell der Naturwissenschaft zu verstehen. Das Bescheidenheitsargument, das Ausbildungs- und das Forschungsargument zeigen ja in erster Linie Unterschiede zwischen Philosophie und den Naturwissenschaften auf. Gibt es aber nicht ein Vergleichsobjekt, das in Bezug auf diese Argumente der Philosophie gleicht, ohne deshalb selbst unverständlich zu werden?

Ein solches ist nicht schwer zu finden, denn in Bezug auf die drei genannten Argumente gleicht die Kunst der Philosophie. Betrachten wir das kurz: Über die tatsächliche Bescheidenheit der Künstler kann ich mir kein Urteil erlauben. Aber es ist klar, dass Unbescheidenheit nicht akzeptabel erscheint. Wer behauptet, bessere Bilder als da Vinci zu malen, wird belächelt. Wer glaubt, mit seiner Komposition Mozart überflügelt zu haben, leidet an Größenwahn. Auch was die Ausbildung angeht, gleicht die Kunst eher als die Wissenschaft der Philosophie. Wer eine künstlerische Ausbildung anstrebt, wird in der Regel dazu angehalten, sich mit den großen Leistungen der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Der Maler lernt unter anderem, indem er Kunstwerke kopiert, der Komponist studiert die Harmonielehre anhand der Werke von Bach und Beethoven. Natürlich erfährt nicht jeder Künstler eine Ausbildung. Aber auch das ist in der Philosophie nicht anders. Das Autodidaktentum ist hier wie dort verbreitet. Schließlich findet man in der aktiven künstlerischen Arbeit ebenso wie in der philosophischen Forschung den systematischen, nicht nur den historischen Bezug auf die Tradition. Das gilt natürlich in großem Umfang für klassizistische Zeiten. Man kann aber auch an solche Phänomene denken wie an Stravinskys Auseinandersetzung mit Bach oder Picassos Auseinandersetzung mit Velázquez.

Wie man sieht, kann man ein Bescheidenheits-, ein Ausbildungs- und ein Forschungsargument für die Kunst ebenso ansetzen wie für die Philosophie. Das heißt wohl, dass es auch in der Kunst keinen Fortschritt gibt, jedenfalls nicht von der Art wissenschaftlichen Fortschritts. Aber macht das die Kunst unverständlich? Kaum, denn wer käme auf die Idee, zu fragen, ob es wohl daran liege, dass Sophokles so gescheit war, wenn wir doch in der Literatur immer noch keinen Schritt weiter sind als er?

In Bezug auf den Teil der Philosophie, den ich als das Lösen von immer denselben Rätseln charakterisiert habe, lautet mein Vorschlag zur Auflösung des Dilemmas, mit dem wir begonnen haben, folglich so: Dass es in Teilen der Philosophie keinen Fortschritt gibt, macht diese nur dann unverständlich, wenn man sie nach dem Modell der Naturwissenschaften zu verstehen versucht. Das ist jedoch das falsche Vergleichsobjekt. Tatsächlich muss man diese Teile nach dem Modell der Kunst deuten. Damit ist natürlich eher ein Forschungsprogramm benannt als eine Lösung der Schwierigkeit gegeben, denn die Entwicklung der Kunst ist selbst alles andere als einfach zu verstehen. Ich möchte abschließend immerhin vier Hinweise geben, die mir für den Vergleich von Kunst und Philosophie relevant zu sein scheinen.

Erstens ist die Kunst wie die Philosophie immer auch eine Auseinandersetzung mit ihrer jeweiligen Gegenwart und damit historisch bedingt. Das hat zum einen zur Folge, dass sich gleichbleibende Probleme in neuer Form stellen. Die Darstellung idealer Schönheit etwa verlangt vom antiken Künstler anderes als vom christlichen; das Problem menschlicher Freiheit stellt sich im Mittelalter vor dem Hintergrund der theologischen Vorstellung eines allwissenden Gottes anders als in der Gegenwart, wo es hauptsächlich die Ergebnisse der Neurowissenschaften sind, die das Problem beunruhigend machen. Zum anderen verschieben sich mit der Zeit die Interessensschwerpunkte. Die Vermittlung von religiösen Inhalten ist für die Kunst des Mittelalters zentral, für die heutige Kunst eher nebensächlich; das skeptische Problem stellt sich, nachdem es über Jahrhunderte eher randständig war, zu Beginn der Neuzeit mit besonderer Schärfe usw.

Zweitens gibt es in der Kunst wie in der Philosophie lokalen Fortschritt in der Handhabung von Mitteln. So schreibt etwa Ernst Gombrich, die fortschrittsorientierte Kunstgeschichtsdeutung Vasaris verteidigend:

Der Eindruck der Körperhaftigkeit, die Beherrschung der Perspektive oder des Lichts, die Fähigkeit, übernatürliche Schönheit zur Anschauung zu bringen, sind nicht Selbstzweck, sie stehen im Dienste der Funktion, die die Kultur der Malerei und Plastik zugewiesen hat. Sobald man diese Voraussetzung annimmt, ist es nicht mehr naiv zu sagen, dass Raffaels Veranschaulichung der Predigt des Hl. Paulus in Athen […] diesem Zweck vollkommener entspricht als die Darstellung der Predigt des Hl. Johannes vom Gewölbemosaik des Florentiner Baptisteriums […]. (Gombrich, Kunst und Fortschritt, Köln 2002, S. 18.)

Ebenso könnte man beispielsweise eine Fortschrittsgeschichte der Anwendung logischer Mittel in der Philosophie des 20. Jahrhunderts schreiben. Künstler wie Philosophen sind dabei von ihren unmittelbaren Vorgängern abhängig und überbieten diese auch in gewisser Hinsicht. Raffael baut ebenso auf Perugino auf wie Russell auf Frege.

Drittens aber wird man solche Weiterentwicklung weder in der Kunst noch in der Philosophie einfach als Gewinn, sondern auch als Verlust beschreiben müssen. In der Kunst wie in der Philosophie gehen Errungenschaften, wie es scheint, immer wieder verloren und müssen neu errungen werden. Was deutlich erkannt war, gerät wieder aus dem Blick, der sich anderen Aspekten zuwendet. So ist verständlich, warum man in der Kunst die Rufe hört: „Zurück zur Antike!“ (in der Klassik), „Zurück vor Raffael!“ (bei den Präraffaeliten) etc., und warum es in der Philosophie heißt: „Zurück zu Platon!“ (in der Renaissance), „Zurück zu Kant!“ (im Neukantianismus) oder gar „Zurück zu den Vorsokratikern!“ (bei Heidegger). In all diesen Fällen geht es darum, Leistungen, die man bereits für erreicht hält, für eine neue Zeit wieder zugänglich zu machen. Und diese Aufnahme ist, wenn sie gelingt, immer auch eine echte Neuleistung.

Viertens schließlich kann man eine Parallele zwischen Kunst und Philosophie darin sehen, dass ihre Ziele anscheinend nie erreicht werden können, obwohl es doch zur Natur des Menschen gehört, sie zu verfolgen. Es gibt hervorragende Kunstwerke, und es gibt beeindruckende Lösungen der philosophischen Rätsel. Und gerade aufgrund der jeweiligen Qualitäten greifen wir in Kunst und Philosophie immer wieder auf die Tradition zurück – in der Lehre wie in der Forschung. Aber das perfekte Kunstwerk scheint für uns ebenso wenig erreichbar zu sein wie eine abschließende Lösung der philosophischen Rätsel. Dass wir beides trotzdem immer wieder anstreben, macht uns zu besseren Menschen. Das jedenfalls dachte, zumindest in Bezug auf die Philosophie, schon der gescheite Platon.

UNSER AUTOR:

Gerhard Ernst ist Professor für Philosophie an der Universität Erlangen-Nürnberg.