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INTERVIEW

Keil: Der „fähigkeitsbasierte Libertarismus“.

aus Heft 1/2013

In der seit einigen Jahren andauernden Diskussion um die Willensfreiheit sind die meisten deutschsprachigen Philosophen dem „Klub der Kompatibilisten“ (Ansgar Beckermann) beigetreten. Sie selbst vertreten dagegen einen „fähigkeitsbasierten Libertarismus“. Was ist darunter zu verstehen?

„Libertarisch“ nennt man Freiheitsauffassungen, denen zufolge Willensfreiheit existiert und mit dem Determinismus unvereinbar ist. Ich verstehe die Annahme, dass der Mensch einen freien Willen habe, als eine nicht besonders glücklich formulierte anthropologische Aussage über menschliche Fähigkeiten der Willensbildung. Libertarisch ist eine solche fähigkeitsbasierte Freiheitsauffassung, wenn sie annimmt, dass die freiheitskonstitutiven Fähigkeiten „Zwei-Wege-Fähigkeiten“ sind, also solche, die in derselben Situation auf mehr als eine Weise ausgeübt werden können. Ein Beispiel dafür ist das Entscheidungsvermögen: Die Fähigkeit, sich zu entscheiden, ist keine andere als die, sich in einer gegebenen Situation so oder anders zu entscheiden.

Was hat dieser Ansatz für Vorteile gegenüber kompatibilistischen Positionen?

Kompatibilisten leugnen, dass Menschen überhaupt Zwei-Wege-Vermögen besitzen. Die entsprechenden Redeweisen müssen sie zu bloßen Façons de parler erklären und weganalysieren, denn aus dem Determinismus folgt, dass zu keinem Zeitpunkt etwas anderes als das geschehen kann, was tatsächlich geschieht. Wenn ich also anders entschieden hätte als ich tatsächlich entschieden habe, hätten unter Annahme des Determinismus entweder die Vorgeschichte oder die Naturgesetze anders sein müssen.

Auch unsere normative Praxis des Tadelns und Strafens scheint libertarisch imprägniert zu sein: Wenn wir zu anderen oder zu uns selbst sagen: „Das hättest du nicht tun sollen“, dann unterstellen wir, dass eine andere Entscheidung unter den gegebenen Bedingungen möglich gewesen wäre. Wenn die Person nicht anders handeln konnte, scheint jeder Vorwurf gegenstandslos zu sein. Libertarier können diese Redeweisen und Praxen für bare Münze nehmen, Kompatibilisten müssen sie in determinismusverträglicher Weise uminterpretieren.
Ein spezieller Vorteil eines fähigkeitsbasierten Libertarismus besteht darin, dass er eine plausible Sortierung der empirischen und der normativen Anteile der Freiheitsdebatte ermöglicht. Die Pointe eines moralischen Vorwurfs besteht häufig darin, dass die Person ihre vorhandenen Fähigkeiten nicht angemessen ausgeübt hat. Hier ist ein Seitenblick auf das Strafrecht hilfreich: Der deutsche Gesetzgeber verneint die Schuldfähigkeit eines Täters, wenn dieser bei Begehung der Tat „unfähig war, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln“. Es geht dem Gesetzgeber allein um den Besitz der Einsichts- und der Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt. Ob der Täter seine Fähigkeiten aktualisiert hat, ist für seine Schuldfähigkeit irrelevant, solange sie nur vorhanden waren. Wenn er sie nicht aktualisiert hat, richtet sich der Vorwurf darauf, dass er sie hätte aktualisieren sollen. Die faktische Ausübung der Einsichts- und der Steuerungsfähigkeit wird also nicht empirisch festgestellt, sondern normativ gefordert. Das ergibt auch moralphilosophisch und freiheitstheoretisch einen guten Sinn: Die entscheidende Frage ist, ob der Täter nicht anders konnte oder ob er nur nicht anders wollte.

Wie erklären Sie sich, dass libertarische Positionen außerhalb der christlich geprägten Philosophie wenig Vertreter haben? Was ist an dieser Diskussion falsch gelaufen?

Man kann darüber streiten, ob diese Einschätzung noch ganz zutreffend ist, aber zweifellos gibt es in der akademischen Philosophie der Gegenwart mehr Kompatibilisten als Libertarier. Den Hauptgrund sehe ich darin, dass eine Reihe von Mythen darüber in Umlauf sind, was Libertarier tatsächlich behaupten und was nicht. Der Kern des libertarischen Freiheitsbegriffs ist das So-oder-Anderskönnen unter gegebenen Bedingungen, also die Annahme von Zwei-Wege-Vermögen. Dieses definierende Merkmal wird in der jüngeren Freiheitsdebatte mit einer Reihe von Zusatzbehauptungen verknüpft, die dem Libertarier unterschoben werden, um die Unhaltbarkeit seiner Position zu erweisen.

 

 


Ich unterscheide vier dieser Mythen: Dem Mythos des Dualismus zufolge leugnen Libertarier, dass Personen und ihre Entscheidungen Teil der natürlichen Welt sind. Dem Mythos der Unbedingtheit zufolge nehmen sie an, dass ein freier Wille ein durch nichts bedingter Wille sei. Der Mythos des ersten Bewegers besagt, dass Akteure aus dem Nichts und unter Verletzung von Naturgesetzen Kausalketten in Gang setzen können. Dem Mythos der lokalen Kausallücke zufolge muss es für freie Entscheidungen eine spezielle Art von neuronaler Indeterminiertheit geben, also Lücken in einer ansonsten deterministischen Welt, die der freie Wille sich zunutze machen kann. – Um eine Freiheitsauffassung angemessen evaluieren zu können, muss man sie von allen Zusätzen befreien, auf die sie nicht verpflichtet ist. Ich habe in meinem Buch zu zeigen versucht, dass Libertarier keine dieser unplausiblen Thesen vertreten müssen.

Ein zentraler Angriffspunkt ist für Sie der Determinismus. Sie identifizieren diesen aber mit dem metaphysischen Laplace-Determinismus, der kaum mehr vertreten wird, und greifen damit die uninteressanteste Variante des Determinismus an. Üblicherweise verwenden wir den Begriff in dem weniger anspruchsvollen Sinne, dass jedes Ereignis auf eine Ursache zurückgeht, Naturgesetzen folgt und dass es in diesem Sinne „in der Welt deterministisch zugeht“ (Gerhard Ernst).

In der Tat wird die Bezeichnung „Determinismus“ häufig für schwächere Auffassungen verwendet, was ich für kritikwürdig halte. Ich stimme Ihnen zu, dass der Laplace-Determinismus – also die Auffassung, dass Naturgesetze und Anfangsbedingungen den gesamten Weltlauf alternativlos festlegen – im Alltag irrelevant und in der Physik nicht mehr weltbildprägend ist. Der Grund dafür, das Vereinbarkeitsproblem nach wie vor auf den universalen Determinismus zu beziehen, besteht darin, dass dieser das einzige klare Abgrenzungskriterium zwischen kompatibilistischen und inkompatibilistischen Positionen bildet. Die genannten schwächeren Annahmen – Ereignisse haben Ursachen und fallen unter Naturgesetze, es gibt keine Wunder, alles geht mit rechten Dingen zu – sind auch aus Sicht der meisten Libertarier mit dem So-oder-Anderskönnen vereinbar. Entscheidend ist, ob Naturgesetze und Anfangsbedingungen, wie der universale Determinismus behauptet, das Weltgeschehen vollständig und in jeder Einzelheit festlegen oder ob sie nur Restriktionen darstellen, die einige Möglichkeiten verschließen, andere aber offen lassen.

Der nachlässige Umgang mit dem Determinationsvokabular wirkt sich in der Freiheitsdebatte höchst nachteilig aus. Es gibt eine Rehe von ,weichen‘ Kausalverben, die Art und Umfang der Determination im Dunkeln lassen: Bestimmte Faktoren beeinflussen oder bedingen das Verhalten, Entscheidungen beruhen auf neuronalen Prozessen, Gene prägen die Persönlichkeit, Bereitschaftspotentiale führen zu Handlungen, etc.  Allen diesen Verben ist gemeinsam, dass sie weniger implizieren als strenge naturgesetzliche Determination, aber offen lassen, wie viel weniger. Dieses weiche Kausalidiom ist in Theorien der empirischen Humanwissenschaften allgegenwärtig. Das ist kein Makel; zu beanstanden ist nur, wenn diese weichen Kausalverben mit freiheitswiderlegender Konnotation eingesetzt werden. Diesen rhetorischen Effekt gilt es zu durchschauen: Es wird eine Unverträglichkeit mit der Willensfreiheit suggeriert, ohne dass ein echter Determinismus vertreten würde.
Für eine begründete Stellungnahme zum Vereinbarkeitsproblem kommt es entscheidend darauf an, womit genau die Freiheit vereinbar oder unvereinbar sein soll. Inkompatibilismus ist die Lehre der Unvereinbarkeit der Willensfreiheit mit dem Determinismus, nicht mehr und nicht weniger.

Sie unternehmen ein rhetorisches Manöver, indem Sie den Determinismus als typisches Philosophenkonstrukt denunzieren, ihre Ansicht dagegen mit dem Mantel des Alltagsverständnisses dekorieren. Es ist doch aber der genannte Determinismus, der unserer wissenschaftlich vorgeprägten Alltagserfahrung entspricht.

Sie spielen auf meine provokative Bemerkung an, dass niemand, der nicht über den Determinismus in Büchern gelesen hätte, auf die Idee käme, dass seit dem Urknall feststeht, welchen Wortlaut die Tageszeitung von morgen haben wird. Diese Bemerkung bezieht sich natürlich auf den Laplace-Determinismus, nicht auf die genannten schwächeren Alltagsauffassungen. Der „echte“ Determinismus ist weder ein Bestandteil unserer Alltagserfahrung noch ein Ergebnis oder eine Voraussetzung naturwissenschaftlicher Forschung. Er ist eine spekulative metaphysische Annahme.

Die Begriffe „Wille“ und „Freiheit“ sind notorisch unklar und man identifiziert damit Unterschiedliches. Wie verstehen Sie den Willen, „der die Fähigkeit hat, Hindernisse zu überwinden“?

Am Ausdruck „Willensfreiheit“ halte ich vornehmlich aus Traditionsgründen fest. Dürfte man noch einmal ganz von vorn anfangen, so sollte man sowohl den „Willen“ als auch seine „Freiheit“ auf sich beruhen lassen und stattdessen die einschlägigen Fähigkeiten und Hindernisse möglichst genau zu beschreiben suchen. Ein fähigkeitsbasierter Begriff der Willensfreiheit ist der Versuch, das Beste aus dieser Situation zu machen.

Mein Verständnis der Willensfreiheit als Vermögen der hindernisüberwindenden Willensbildung folgt dem Bestreben, den positiven und den negativen Aspekt des Freiheitsbegriffs miteinander zu kombinieren. Als negativer Aspekt wird allgemein die Abwesenheit von Hindernissen verstanden, als positiver das Vorhandensein von Vermögen. Es ist versucht worden, diese beiden Freiheitsaspekte zum Begriff der „hinderungsfreien Willlensbildung“ (Seebaß) zu kombinieren. Nun gibt es aber kein Vermögen, keinen Hinderungen ausgesetzt zu sein, da dies nicht in unserer Macht steht. Gesucht ist vielmehr ein Vermögen, das wir auch dann noch haben, wenn gewisse Hindernisse vorhanden sind. Wir besitzen kein Vermögen, nicht gehindert zu werden, wohl aber solche, die wir angesichts von Hindernissen ausüben können.

Was sind das für Fähigkeiten, die es braucht, um Hindernisse zu überwinden?

Menschen haben die Fähigkeit, ihre Willensbildung auch unter erschwerten Bedingungen zu kontrollieren. John Locke, der ebenfalls einen fähigkeitsbasierten Freiheitsbegriff vertritt, versteht unter Willensfreiheit das Vermögen, bestehende Wünsche zu „suspendieren“ und vernünftig zu prüfen, ob man sie in die Tat umsetzen sollte. Die vernünftige Willens- und Absichtsbildung beruht auf dem komplexen Vermögen, Gründe zu erwägen, gute Gründe zu erkennen und sich von ihnen leiten zu lassen – also um das, was im Recht „Einsichts- und Steuerungsfähigkeit“ heißt. Dass wir solche Fähigkeiten besitzen, nennt Locke eine empirische Tatsache. Ich stimme ihm zu: Menschen sind so beschaffen, dass sich ihre Wünsche, Neigungen und Affekte nicht gleichsam automatisch in Handlungen umsetzen, sondern überlegungszugänglich sind. Die meisten unserer Neigungen und Antriebe haben wir nicht selbst gewählt, doch die Willensbildung und -umsetzung steht bei uns, aristotelisch gesprochen (eph’hêmin).

Die genannten Fähigkeiten sind besonders dann gefordert, wenn ihre Ausübung schwer fällt, nämlich angesichts von Versuchungen, Leidenschaften, schlechten Gewohnheiten, Gruppendruck und Ähnlichem. Diese Faktoren „Hindernisse“ zu nennen ist insofern missverständlich, als sie keine zusätzlichen Erschwernisse sind, sondern zu den typischen Ausübungsbedingungen der freiheitskonstitutiven Vermögen gehören. Zuschreibungen von Fähigkeiten sind ja stets auf bestimmte Bedingungen bezogen. Beispielsweise zeigt sich die Fähigkeit der Selbstbeherrschung darin, dass sie unter widrigen Bedingungen ausgeübt wird − eben unter solchen, die Selbstbeherrschung erst erforderlich machen. Wer sich nur in der Gewalt hat, wenn die Versuchungen gering sind, den nennen wir gerade nicht selbstbeherrscht.

Diese Fähigkeit, Hindernisse zu überwinden, kann partiell, etwa im Falle geistiger Behinderung durch Hirnstörungen gestört sein – nicht ganz, aber teilweise. Etwa, dass man mit einer Überlegung beginnt, aber bei komplizierten Sachen plötzlich nicht mehr in der Lage ist, die Überlegung fortzuführen, und diese dann abbricht. Kann man Stufen von Freiheit unterscheiden, Stufen, die wir vielleicht in anderer Form auch bei Tieren finden können?

Ja, graduelle Abstufungen sind wie überall in der Philosophie auch in der Freiheitstheorie eine Herausforderung. Die freiheitskonstitutiven Fähigkeiten kommen zweifellos in Abstufungen vor. Sie werden allmählich erworben und können ganz oder teilweise wieder verloren gehen. In unserer moralischen und rechtlichen Zurechnungspraxis unterscheiden wir allerdings ziemlich deutlich zwischen pathologischen und nichtpathologischen Fällen. Dem Aggressiven mag es schwerer fallen als dem Sanftmütigen, keine Körperverletzungen zu begehen. Solange ihm aber kein krankhafter Fähigkeitsverlust attestiert wird, verlangt man von ihm schlicht, sich mehr anzustrengen. Unsere Gesellschaft macht die Pflicht zur Rechtstreue nicht davon abhängig, wie schwer es im Einzelfall fällt, ihr nachzukommen. Ungünstig disponierte Menschen müssen sich mehr anstrengen als andere, um irrationale, unmoralische oder strafbare Handlungen zu unterlassen.

Ob man die Abstufbarkeit der freiheitskonstitutiven Fähigkeiten zum Anlass nimmt, Grade von Freiheit anzunehmen, ist eine terminologische Frage. Mir erscheint es wichtiger, die anthropologische Tatsache festzuhalten, dass es für psychisch leidlich Gesunde keine unwiderstehlichen Versuchungen gibt. Anders als etwa für die Fähigkeit des Menschen, ohne Sauerstoff auszukommen, gibt es für seine Fähigkeit, Versuchungen zu widerstehen, keine biologisch vorgegebene Grenze. Wenn genug auf dem Spiel steht, lassen sich auch unterdurchschnittlich ausgeprägte Steuerungsfähigkeiten stets durch erhöhte Anstrengung kompensieren. Menschen sagen nicht selten „Ich konnte nicht anders“, wenn sie bloß nicht anders wollten. Darüber hat Kant sich geärgert und das rabiate Gedankenexperiment des Galgentests ersonnen: Wer unter Todesdrohung Versuchungen widerstehen kann, ist offenbar nicht schlechterdings unfähig dazu.

Solange wir es nicht mit pathologischen Fähigkeitsverlusten zu tun haben, genügt es deshalb, statt des Besitzes der Fähigkeit die für ihre Ausübung jeweils erforderliche Anstrengung abzustufen. Dafür spricht auch eine zweite Einsicht Kants: Wir können aus der Selbstkenntnis nicht sicher wissen, wie weit unsere Fähigkeiten reichen. Hingegen wissen wir sehr gut, dass wir normativen Ansprüchen unterliegen. Also können wir zumindest versuchen, ihnen nachzukommen.

Peter Bieri hat gegen den Libertarismus eingewendet, solch eine unbedingte Freiheit mache den Willen anonym, er sei gar nicht mehr der Wille einer einzelnen Person.

Ich stimme Bieri in der Sache zu, dass ein „anonymer“ Wille, also eine völlig grundlose, erratische Wahl, keine erstrebenswerte Form von Freiheit ist. Man kann Bieri aber den Vorwurf nicht ersparen, dass auch er sich an einem Mythos abarbeitet. Welcher libertarische Philosoph von Rang hat denn vertreten, dass Willensfreiheit darin besteht, völlig grundlos zu entscheiden? (Dass Freiheit diese Möglichkeit umfassen mag, steht auf einem anderen Blatt.) In Bieris Buch wird das Phantom der durch nichts bedingten Freiheit nur eloquent heraufbeschworen, nicht aus der philosophischen Freiheitsdebatte entwickelt. Am nächsten kommt der Idee der grundlosen Wahl noch der literarische Topos des acte gratuit im französischen Existentialismus. Diesen Topos halte ich für freiheitstheoretisch überschätzt und für motivationspsychologisch naiv.

Könnte es nicht sein, dass wir zwar der festen Meinung sind, wir hätten frei entschieden und wir auch die Fähigkeit haben, Hindernisse zu überwinden – der tatsächliche Grund für diese bestimmte Entscheidung uns aber nicht bewusst ist? Und ist dann eine solche Entscheidung immer noch eine freie Entscheidung?

Freilich können Menschen sich gelegentlich Illusionen darüber hingeben, aus welchen Gründen sie entschieden haben. Dieser Umstand ist aber für eine Auffassung ohne Belang, die Willensfreiheit nicht an ein Freiheitsgefühl bindet, geschweige denn an ein unfehlbares, sondern an vorhandene Fähigkeiten. Ein konsequent fähigkeitsbasierter Begriff der Willensfreiheit ändert die freiheitstheoretische Agenda beträchtlich. Dazu gehört, dass Fragen der Psychologie einzelner Entscheidungsprozesse in den Hintergrund treten. Vernünftige Willensbildung besteht in den seltensten Fällen in einer Kette wohlgeformter praktischer Schlüsse. Psychologisch mag der Willensbildungsprozess unordentliche Assoziationsketten einschließen, über die die Philosophie mit eigenen Mitteln wenig sagen kann und über die wir voreinander auch keine Rechenschaft ablegen müssen. Rechtfertigen lassen müssen sich am Ende das Überlegungsergebnis und die handlungswirksame Entscheidung, nicht die einzelnen Stadien des faktischen Überlegungsprozesses.

Sie betonen, dass Freiheit auch darin liegt, dass es einer Person frei steht, jederzeit mit dem Nachdenken aufzuhören und den dann gebildeten Willen in eine Handlung umzusetzen. Wäre es aber nicht auch denkbar, dass eine Willensbildung dann aufhört, wenn ein Gleichgewicht erreicht ist, indem die Gedanken mit den Gefühlen, den Erfahrungen und den Werten der betreffenden Person übereinstimmen?

Menschen brechen Überlegungen an allen möglichen Stellen und aus allen möglichen und unmöglichen Gründen ab. Manchmal entscheidet man voreilig und bereut es später, manchmal zaudert man, bis die Gelegenheit zum Handeln vorbei ist, manchmal überlegt man, bis es sich „richtig anfühlt“. Genau dann zu entscheiden, wenn man mit sich selbst im Reinen ist, bietet leider keine Gewähr dafür, dass man richtig oder klug entscheidet.

Wenn wir von einer Person erwarten, eine Entscheidung überlegt zu treffen, geht es nicht darum, dass sie eine angemessene Zeit brüten soll. Vielmehr erwartet man von ihr, beim Überlegen zu einem prudentiell oder moralisch akzeptablen Ergebnis zu kommen. Wenn ihr dies nicht gelingt, hat sie Vorwürfe zu gewärtigen: Sie hätte besser oder gründlicher überlegen sollen. Sie hätte zum Beispiel einen Gesichtspunkt berücksichtigen sollen, den sie nicht berücksichtigt hat.

Die Rede vom „richtigen“ oder „akzeptablen“ Ergebnis ist nun unzweifelhaft eine normative. Nicht genügend überlegt zu haben wird dann vorgeworfen, wenn dadurch ein schlechtes Überlegungsergebnis unkorrigiert geblieben ist. Leider ist der Rat, eine Überlegung genau dann zu beenden, wenn man zum richtigen Ergebnis gekommen ist, nicht sonderlich hilfreich. Er erinnert an das Wort von Karl Kraus, in Zweifelsfällen möge man sich für das Richtige entscheiden. In diesem Wort steckt indes eine tiefe Weisheit, nämlich die Einsicht, dass das „richtige“ Ergebnis und der „richtige“ Zeitpunkt für den Abschluss einer Überlegung sich nicht durch das psychologische Kriterium der Ausräumung eines Zweifels bestimmen lassen. Für die Qualität von Überlegungsergebnissen und Entscheidungen gibt es keinen psychologischen Standard, sondern nur einen normativen.

Wenn wir nochmals auf die Debatte zurückblicken und insbesondere auch auf die Diskussionen zu Ihrem Buch „Willensfreiheit“: Was haben Sie davon gelernt?

Die Zeitschriftensymposien zu dem Buch waren für mich überaus lehrreich. Kollegen haben mich auf Unklarheiten und Argumentationslücken hingewiesen; ich habe mich bemüht, den vielen klugen Einwänden in der überarbeiteten zweiten Auflage Rechnung zu tragen. Sofern wir in der Universitätsphilosophie überhaupt dazu kommen, gegenseitig unsere Bücher zu rezipieren, was leider viel zu selten der Fall ist, finde ich die Debattenkultur in unserem Fach durchaus erfreulich.

Sorgen bereitet mir hingegen, wie wenig es gelingt, außerhalb der Philosophie den Respekt für die Komplexität philosophischer Probleme wachzuhalten. Im kognitions- und neurowissenschaftlich inspirierten Teil der Freiheitsdebatte wird ja seit Jahren öffentlichkeitswirksam behauptet, die Willensfreiheit sei empirisch als Illusion erwiesen. Dass die Illusionsentlarver sich in Unterschätzung der philosophischen Schwierigkeiten vorwiegend an Zerrbildern abgearbeitet haben, ist allen klar, die näher mit der Problemlage vertraut sind. Dagegen ist außerhalb der Philosophie und leider auch unter Wissenschaftsjournalisten die psychologisierende Einschätzung verbreitet, in der Freiheitsdebatte kämpften von Verlustängsten getriebene Philosophen um ihre Deutungshoheit.

Meine Diagnose ist eine andere: In der Freiheitsdebatte überlagern sich begriffliche, metaphysische, normative und empirische Fragen. Die Wortführer der neurobiologisch inspirierten Freiheitskritik haben in der Regel zu wenig darüber nachgedacht, wie sich die empirischen Fragen zu den nichtempirischen verhalten. Deshalb haben sie kurzschlüssige und zu weitreichende Behauptungen aufgestellt, zum Teil sogar rechtspolitische Forderungen daraus abgeleitet. Würden Philosophen vergleichbar kenntnisarm und lernunwillig mit den Ergebnissen anderer Wissenschaften umgehen, so würden sie zu Recht nicht ernst genommen.
Was die Rezeption der Debatte in der außerakademischen Öffentlichkeit betrifft, so sollte man sich keinen unrealistischen Erwartungen hingeben. Praktisch relevant ist das Freiheitsthema ja vornehmlich für die Zuschreibung moralischer und rechtlicher Verantwortung. Hier ist bislang nicht zu beobachten, dass Menschen sich in großer Zahl zu hilflosen Opfern ihrer Gehirne und deshalb für ihr Tun nicht verantwortlich erklären. Offenbar ist das lebensweltliche Wissen, dass man Verantwortung nicht auf ungeeignete Instanzen abwälzen kann, durch bunt bebilderte Propaganda nicht so leicht zu korrumpieren. Wir sollten darüber dankbar sein und nicht zusätzlich erwarten, dass jede Bürgerin in der Lage ist, ihre moralischen Praxen und Einstellungen mit guten Argumenten gegen jedwede vermeintlich wissenschaftsgestützte Angriffe zu verteidigen. Das mögen weiterhin die Philosophen übernehmen, die für solche Aufgaben schließlich ausgebildet sind.

Geert Keil ist Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von ihm ist zum Thema in zweiter, überarbeiteter Auflage erschienen: Willensfreiheit (276 S., kt., € 19.90, 2013, de Gruyter, Berlin).