PhilosophiePhilosophie

03 2013

Michael Esfeld:
Naturphilosophie: zwischen Empirismus und Rationalismus

aus Heft 3/2013, S. 18-25

Die Naturphilosophie versucht, eine Ontologie oder Metaphysik der Natur zu entwickeln – das heißt, eine philosophische Theorie dessen, wie die außermenschliche Natur beschaffen ist. Sie steht dabei im Spannungsfeld zwischen Empirismus und Rationalismus. Was den Empirismus betrifft, muss sich die Naturphilosophie einerseits auf empirische Daten stützen; andererseits lässt sich jedoch aus diesen Daten nicht einfach eine Ontologie der Natur ablesen. Was den Rationalismus betrifft, ist die Naturphilosophie einerseits auf die a priori Analyse ontologischer Kategorien angewiesen; andererseits lassen sich mit den Methoden einer a priori vorgehenden Metaphysik alleine aber keine Erkenntnisse über die Natur gewinnen. Im Folgenden möchte ich dieses Spannungsfeld zwischen Empirismus und Rationalismus, in dem sich die Naturphilosophie bewegt, anhand zweier Beispiele illustrieren: dem historischen Beispiel von Newtons Naturphilosophie und der klassischen Mechanik, und dem aktuellen Beispiel von analytischer vs. neo-empiristischer Metaphysik und der Ontologie der Quantenmechanik (siehe für eine ausführliche Einführung in die Naturphilosophie Esfeld 2011). Meine These lautet, dass die physikalische Theoriebildung und die Naturphilosophie aus einem Guss kommen, also keine Trennung zwischen beiden möglich ist.

Newtons Naturphilosophie und die klassische Mechanik

Newton schreibt am Ende der Optik (1704):

Nach allen diesen Betrachtungen ist es mir wahrscheinlich, dass Gott im Anfange der Dinge die Materie in massiven, festen, harten, undurchdringlichen und beweglichen Partikeln erschuf … keine Macht von gewöhnlicher Art würde im Stande sein, das zu zertheilen, was Gott selbst bei der ersten Schöpfung als Ganzes erschuf. … Damit also die Natur von beständiger Dauer sei, ist der Wandel der körperlichen Dinge ausschließlich in die verschiedenen Trennungen, neuen Vereinigungen und Bewegungen dieser permanenten Theilchen zu verlegen … (zitiert gemäß Newton 1898, Band 2, S. 143)

Newton postuliert eine atomistische Ontologie: Die Materie besteht aus kleinsten Teilchen, die an Punkten im absoluten Raum lokalisiert sind. Wenn ein Teilchen an einem Punkt lokalisiert ist, heißt das zunächst nur, dass der betreffende Punkt mit Materie besetzt ist, statt leer zu sein. Welche Punkte mit Materie besetzt sind, verändert sich in der absoluten Zeit. Mit anderen Worten: Die Teilchen bewegen sich, sie verändern ihren Ort in der Zeit. Durch seinen Ort zu jeder Zeit und die Bahn seiner Bewegung in der Zeit unterscheidet sich jedes Teilchen von allen anderen Teilchen.

Dass die Materie aus kleinsten Teilchen besteht, dass diese Teilchen in einem absoluten Raum lokalisiert sind und dass sie sich in einer absoluten Zeit bewegen, sind Axiome, die Newton nicht aus experimentellen Daten abliest. Es sind Axiome einer Ontologie der Natur, die am Anfang der physikalischen Theoriebildung stehen. Sie lassen sich nur dadurch rechtfertigen, dass man mit ihnen eine physikalische Theorie aufbauen kann, die empirisch erfolgreich in der Erklärung und Voraussage beobachtbarer Phänomene ist. Das ist der Anspruch, den Newton in dem Zitat oben dadurch ausdrückt, dass „der Wandel der körperlichen Dinge ausschließlich in die verschiedenen Trennungen, neuen Vereinigungen und Bewegungen dieser permanenten Theilchen zu verlegen“ ist. Das heißt: Die makroskopischen Objekte, mit denen wir im Alltag vertraut sind, bevor wir Naturwissenschaft betreiben, bestehen aus mikroskopischen Teilchen, und ihr Verhalten kann durch die Weise, wie die mikroskopischen Teilchen sich bewegen, erklärt werden.

Für eine solche Erklärung ist entscheidend, gemäß welchen Gesetzen sich die mikroskopischen Teilchen bewegen. In Bezug auf die Bewegungsgesetze geht Newton wiederum einen speziellen Weg, der aus keiner Erfahrung abgeleitet werden kann, sondern am Anfang der physikalischen Theoriebildung steht. Er postuliert, dass eine bestimmte Form von Bewegung der Teilchen keine Erklärung erfordert, sondern der natürliche Bewegungszustand ist, nämlich die geradlinige und gleichförmige Bewegung (Inertialbewegung) (1. Gesetz). Nur die Veränderung des Bewegungszustands der Teilchen muss erklärt werden. Newton tut dieses, indem er Kräfte einführt (2. Gesetz). Newtons Physik ist daher eine Theorie zweiter Ordnung: Sie befasst sich mit der zeitlichen Entwicklung der Geschwindigkeit der Teilchen, im Unterschied zu einer Theorie erster Ordnung, die sich mit der zeitlichen Entwicklung des Ortes der Teilchen befassen würde (Geschwindigkeit ist die erste zeitliche Ableitung des Ortes, Beschleunigung die zweite zeitliche Ableitung des Ortes). Wiederum gilt, dass die einzige Rechtfertigung für diese Wahl der physikalischen Theoriebildung – Theorie zweiter Ordnung, welche die Veränderung der Geschwindigkeit der Teilchen durch Kräfte erklärt – darin besteht, dass man auf diese Weise die beobachtbaren Phänomene erfolgreich erklären und voraussagen kann. Für diese Theoriebildung gibt es weder a priori Gründe, noch kann man sie aus Beobachtungen ablesen.


Die Kräfte führt Newton auf Eigenschaften der Teilchen zurück. So ziehen sich die Teilchen wechselseitig an (Gravitationskraft), weil sie die Eigenschaft der Masse besitzen. Es ist daher in einer sparsamen Ontologie der Natur nicht erforderlich, Kräfte zusätzlich zu Eigenschaften der Teilchen anzuerkennen: Wenn die Verteilung der Massen im Universum zu einer Zeit gegeben ist, dann ist damit festgelegt, wie sich der Bewegungszustand der Teilchen zu dieser Zeit verändert. Mit anderen Worten: Die gravitationelle Masse ist eine dispositionale Eigenschaft. Der einzige Grund, diese Eigenschaft anzuerkennen, besteht darin, dass sie eine bestimmte kausale Rolle ausübt, nämlich den Bewegungszustand der Teilchen in einer bestimmten Weise zu verändern.

Wir können diesen Punkt verallgemeinern: Oben habe ich gesagt, dass die Teilchen zunächst nur primitive Materie sind – dass ein Teilchen an einem Raumpunkt existiert, heißt zunächst nur, dass der Raumpunkt besetzt ist, statt leer zu sein. Wir sehen nun, weshalb wir darüber hinaus, dass es sich um primitive Materie handelt, den Teilchen Eigenschaften zusprechen müssen: Die Anerkennung von Eigenschaften ist erforderlich, um die zeitliche Entwicklung der Teilchen erklären zu können. Dieses, die zeitliche Entwicklung der Teilchen zu steuern, ist aber auch der einzige Grund dafür, physikalische Eigenschaften der Teilchen anzuerkennen. Es ist dann eine empirische Tatsache, dass wir dazu in der klassischen Physik mehr als eine Eigenschaft benötigen, nämlich zusätzlich zur Masse noch die Ladung der Teilchen (aus welcher die elektromagnetische Kraft folgt). Das ist dann alles: Masse und Ladung genügen in der klassischen Physik als Eigenschaften der Teilchen, um deren Zeitentwicklung zu verstehen. Dieses sind dispositionale Eigenschaften, weil es essentiell für sie ist, eine bestimmte kausale Rolle auszuüben. Die Kraftgesetze, die das Schema von Newtons zweitem Gesetz ausfüllen (wie Newtons Gravitationsgesetz und später die Maxwell-Lorentz Gleichungen des Elektromagnetismus), drücken die kausalen Rollen aus, welche die Eigenschaften der Masse und Ladung ausüben (siehe dazu ausführlich Esfeld 2008, Kap. 5).

Trotz aller naturphilosophischen und physikalischen Neuerungen können wir ganz allgemein sagen, dass Newtons Naturphilosophie dem Modell von Aristoteles’ Kategorien folgt: Es gibt Substanzen in Form von Teilchen, und jedes dieser Teilchen hat für sich genommen Eigenschaften, welche Dispositionen sind, indem sie die Form der Bewegung der Teilchen festlegen.

Auf der Suche nach einer Ontologie der Quantenphysik

Newtons Naturphilosophie steht insofern zwischen Empirismus und Rationalismus, als ihr Ausgangspunkt (Ontologie von Teilchen, Bewegungsgesetz zweiter Ordnung) weder a priori begründet noch aus Beobachtungen abgeleitet werden kann. Gegeben diesen Ausgangspunkt ist Newtons Naturphilosophie und Physik aus einem Guss: Die Naturphilosophie legt die Physik fest, ebenso wie die Physik die Naturphilosophie festlegt. Die Quantenphysik, wie sie in den Lehrbüchern dargestellt wird, wirft hingegen ein Interpretationsproblem auf, weil hier Naturphilosophie und Physik nicht mehr aus einem Guss sind. Die Lehrbücher bieten uns einen sehr erfolgreichen Formalismus zur Berechnung von Wahrscheinlichkeiten für Messergebnisse, aber dieser Formalismus führt nicht eine bestimmte Ontologie mit sich (wie es der Formalismus der Newtonschen Mechanik tut). Die entsprechenden Versuche, aus algebraischen Beziehungen zwischen Operatoren, die der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten für Messergebnisse dienen, eine Ontologie abzulesen, haben zu einer langen Liste absurder Behauptungen geführt, wie dass die Welt nicht mehr mit den Mitteln der klassischen Logik beschrieben werden kann, dass Mess-Interaktionen mit physikalischen Objekten nicht den allgemeinen Naturgesetzen unterliegen, dass es in der Welt Möglichkeiten (Potentialitäten) ohne faktisch Seiendes gibt usw.

Wir können uns das Interpretationsproblem der Lehrbuch-Quantenmechanik an folgendem einfachen Beispiel veranschaulichen, das Einstein auf der Solvay-Konferenz 1927 vorgestellt hat (meine Darstellung orientiert sich an Norsen 2005): Betrachten wir einen Kasten, der in Brüssel so präpariert wird, dass er genau ein Teilchen enthält. Wir spalten diesen Kasten in zwei gleiche Hälften auf und schicken die eine Kastenhälfte nach New York, die andere nach Tokio. Nehmen wir an, dass Alice in New York die Kastenhälfte, die sie erhält, öffnet und leer vorfindet. Damit steht fest, dass sich ein Teilchen in der Kastenhälfte befindet, die Bob in Tokio erhält.

Der Formalismus der Quantenmechanik repräsentiert das Teilchen im Kasten mittels einer Wellenfunktion. Wenn der Kasten aufgespalten wird und seine beiden Hälften nach New York und Tokio geschickt werden, stellt die Wellenfunktion das Teilchen so dar, dass sein Ort über beide Kastenhälften in gleicher Weise verteilt ist (Superposition). Die operationelle Bedeutung dieser Darstellung ist, dass die Wahrscheinlichkeit, das Teilchen in der Kastenhälfte in New York zu finden, und die Wahrscheinlichkeit, das Teilchen in der Kastenhälfte in Tokio zu finden, je 50% ist. Wenn Alice in New York ihre Kastenhälfte öffnet und leer vorfindet, verändert sich die Wellenfunktion so, dass sie nun das Teilchen so darstellt, dass es sich in der Kastenhälfte in Tokio befindet („Kollaps der Wellenfunktion“).

Man kann versuchen, die Wellenfunktion ontologisch als eine Darstellung der Zeitentwicklung des Zustands des Teilchens zu verstehen. Das würde zum einen bedeuten, dass ein Elementarteilchen beliebig teilbar ist, indem es über zwei (oder im allgemeinen Fall beliebig viele) Orte verteilt sein kann. Des Weiteren würde dieses bedeuten, dass Alices Handlung, in New York ihre Kastenhälfte zu öffnen, die Tatsache hervorbringt, dass das Teilchen sich in der Kastenhälfte in Tokio befindet. Mit anderen Worten: Ein ontologisches Verständnis des „Kollaps der Wellenfunktion“ in einer Messung legt uns darauf fest, das anzuerkennen, was Einstein „spukhafte Fernwirkung“ genannt hat.

Man mag daher geneigt sein, Einstein darin zu folgen, die Wellenfunktion rein epistemisch als Darstellung unseres Wissens über Quantenobjekte zu verstehen, statt ontologisch als Repräsentation von deren Zustand. Der „Kollaps der Wellenfunktion“ in einer Messung zeigt dann lediglich eine Änderung unseres Wissens an: Nachdem Alice ihre Kastenhälfte in New York geöffnet hat und leer vorgefunden hat, wissen wir, dass das Teilchen sich in der Kastenhälfte in Tokio befindet. Das heißt: Das Teilchen bewegt sich immer auf einer klassischen Bahn in einer der Kastenhälften, unbeeinflusst von Operationen, die weit entfernt im Raum an der anderen Kastenhälfte stattfinden.

Diese epistemische Sicht des Quantenformalismus wurde jedoch durch Bells Theorem 1964 widerlegt. Dazu muss man allerdings einen komplizierteren Fall betrachten als den eines Teilchens in einem Kasten, nämlich einen Fall mit mindestens zwei Teilchen, die sich in voneinander entgegengesetzte Richtungen entfernen und an denen mindestens zwei verschiedene Parameter gemessen werden können (so das Gedankenexperiment von Einstein, Poldolsky und Rosen (1935) und dessen Weiterentwicklung durch Bohm (1951)). Bells Theorem zeigt dann, dass man die Korrelationen zwischen den Messergebnissen an beiden Teilchen nicht auf der Grundlage dessen verstehen kann, dass die Teilchen sich auf klassischen Bahnen bewegen, so dass der Ausgangszustand an der Quelle des Experiments die gemeinsame Ursache für die korrelierten Messergebnisse darstellt. Ganz im Gegenteil, Bells Theorem beweist, dass die Festlegung des zu messenden Parameters und das Messergebnis in dem einen Flügel des Experiments die Wahrscheinlichkeiten für das Messergebnis in dem anderen Flügel des Experiments verändern, obwohl beide Flügel durch einen raumartigen Abstand voneinander getrennt sind (so dass sie durch kein Signal, das sich höchstens mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitet, miteinander verbunden werden können). Bells Theorem wird daher zu Recht weithin so verstanden, dass es zeigt, dass die Natur nicht-lokal ist. Mit anderen Worten: Die Zeitentwicklung eines Quantensystems kann nicht so angesehen werden, dass sie nur durch lokale Faktoren bestimmt ist (siehe die Aufsätze in Bell 2004, insbesondere Kap. 2 und 24, sowie Maudlin 2011, Kap. 1-6).

Im Unterschied zu den oben genannten algebraischen Beziehungen zwischen Operatoren zur Berechnung von Wahrscheinlichkeiten für Messergebnisse rechtfertigt Bells Theorem ontologische Schlussfolgerungen. Dieses Theorem macht eine Aussage über die Natur selbst, die allen physikalischen Theorien, wie auch immer sie beschaffen sein mögen oder in der Zukunft beschaffen sein werden, eine Einschränkung auferlegt: Diese Theorien müssen, wenn sie denn die experimentell bestätigten Voraussagen der Quantenmechanik reproduzieren wollen, die Zeitentwicklung der Objekte, von denen sie handeln, so ansehen, dass diese durch nicht-lokale Faktoren bestimmt ist. Deshalb begründet Bells Theorem einen naturphilosophischen Holismus, der in der heutigen Fachliteratur als ontischer Strukturenrealismus diskutiert wird: Statt nur je für sich intrinsische Eigenschaften zu haben (wie Masse und Ladung in der klassischen Physik), stehen die physikalischen Objekte in bestimmten Relationen zueinander (Strukturen), die deren Zeitentwicklung bestimmen (siehe dazu ausführlich z. B. Esfeld 2008, Kap. 4, und Esfeld und Sachse 2010, Kap. 2).

James Ladyman und Don Ross (2007, Kap. 2-4) sehen den Strukturenrealismus als Paradebeispiel für eine neo-empiristische, naturalisierte Metaphysik an: Ontologische oder metaphysische Aussagen sind gerechtfertigt, insofern sie direkt durch den Formalismus physikalischer Theorien begründet werden können. So folgt der Strukturenrealismus daraus, dass, was die Quantenmechanik betrifft, die von Bells Theorem aufgezeigte Nicht-Lokalität in deren Formalismus in der Nicht-Separabilität der Wellenfunktion mehrerer Quantensysteme verankert ist. Ladyman und Ross (2007, Kap. 1) grenzen diese neo-empiristische, naturalisierte Metaphysik scharf von dem Neo-Rationalismus ab, der die gegenwärtige analytische Metaphysik dominiert.

Ein prominentes Beispiel für letztere ist die Ontologie, die John Heil (2012) vertritt. Gemäß Heil besteht die Welt aus einfachen Substanzen, die fundamentale intrinsische Eigenschaften haben; Relationen (und damit Strukturen) gibt es nicht als etwas ontologisch Grundlegendes – diese sind durch die fundamentalen intrinsischen Eigenschaften der einfachen Substanzen festgelegt. Welches diese einfachen Substanzen und ihre fundamentalen intrinsischen Eigenschaften sind, sagt uns Heil zufolge die Physik (ohne dass er sich dazu näher äußert); aber dass die Welt aus einfachen Substanzen mit intrinsischen Eigenschaften besteht, wissen wir allein aus rationaler a priori Überlegung.

Niemand, der die Quantenphysik und Bells Theorem studiert hat, wird sich von dem Versuch beeindrucken lassen, die Existenz fundamentaler Relationen oder Strukturen neo-rationalistisch durch apriorische Überlegungen einer Metaphysik aus dem Lehnstuhl ausschließen zu wollen. Aber ebenso greift es zu kurz, die Metaphysik neo-empiristisch aus dem Formalismus physikalischer Theorien ableiten zu wollen. Ladyman und Ross übersehen, dass die Strukturen, die sie durch die Nicht-Separabilität quantenmechanischer Wellenfunktionen begründet sehen, von Objekten instantiiert werden müssen, um konkrete physikalische – statt rein mathematische – Strukturen zu sein. Und der Formalismus der Quantenmechanik sagt uns nicht, welches die Objekte sind, deren Zeitentwicklung durch nicht-separable Wellenfunktionen repräsentiert wird.

Kurz, die Situation heute ist dieselbe wie die oben am Beispiel von Newton erläuterte: Naturphilosophie kann nicht rein empiristisch sein, ebenso wenig wie sie rein rationalistisch sein könnte. Ferner: Wenn man die Physik methodisch klar als wissenschaftliche Theorie der Physis (der Natur) aufbaut, dann kommen Naturphilosophie und physikalischer Formalismus aus einem Guss. Die Physik wirft in diesem Falle keine Interpretationsfragen wie die oben am Beispiel von Einsteins Kasten erläuterten auf, zu deren Beantwortung dann Philosophen (professionelle wie auch selbst ernannte) aufgerufen werden. Mit anderen Worten: Die Frage, wie das Teilchen sich in Einsteins Kasten verhält, ist eine Frage, welche die Physik beantworten sollte – und indem sie diese Frage beantwortet, führt die Physik eine Naturphilosophie mit sich.

Diese Einschätzung kann man anhand des ältesten Vorschlags für eine Ontologie der Quantenphysik, der Theorie von David Bohm, verdeutlichen (ich orientiere mich im Folgenden an der heute dominanten Version dieser Theorie, die als Bohmsche Mechanik bekannt ist – siehe Dürr, Goldstein und Zanghì 2013). Bohm postuliert wie Newton, dass die Welt aus kleinsten Teilchen besteht, die an Punkten im Raum lokalisiert sind. Die Teilchen sind primitive Materie. Sie bauen makroskopische Objekte (einschließlich Messgeräten) auf und sind der Grund dafür, dass diese immer einen bestimmten Ort im Raum haben (und somit Messergebnisse anzeigen können). Die quantenmechanische Wellenfunktion und ihre Zeitentwicklung gemäß der Schrödinger-Gleichung haben in Bohms Theorie die Aufgabe, gegeben den Ort der Teilchen zu einer Zeit, die Geschwindigkeit der Teilchen zu der betreffenden Zeit festzulegen (indem die Wellenfunktion in die Bewegungsgleichung für die Teilchen, die Bohmsche Führungsgleichung, eingesetzt wird). Unter der Annahme, dass eine genaue Kenntnis der Anfangsbedingungen (das heißt der genauen Orte der Teilchen) unmöglich ist und dass diese Anfangsbedingungen in einem mathematisch präzisen Sinne typisch sind, kann man aus Bohms Theorie den Wahrscheinlichkeitskalkül für Messergebnisse der Lehrbuch-Quantenmechanik ableiten. Kurz, die Bohmsche Mechanik liefert eine Begründung für den Formalismus der Lehrbuch-Quantenmechanik, die zugleich naturphilosophisch und physikalisch-mathematisch ist. Infolgedessen treten die üblichen Interpretationsprobleme der Quantenmechanik in dieser Theorie nicht auf.

Obwohl Bohm wie Newton eine Ontologie von Teilchen postuliert, ist die Bohmsche Mechanik von der Newtonschen Mechanik wesentlich verschieden: Die Bewegung der Teilchen ist nicht durch Eigenschaften festgelegt, die jedem Teilchen für sich zukommen (wie Masse und Ladung in der klassischen Mechanik). Wie sich jedes Teilchen zu einer gegebenen Zeit bewegt, hängt vielmehr, streng genommen, von dem Ort jedes anderen Teilchens zu der betreffenden Zeit ab. Das ist die Weise, wie die Bohmsche Mechanik die Nicht-Lokalität erklärt, die Bells Theorem aufzeigt: Statt lokaler Ursachen hat die Bewegung der Teilchen eine nicht-lokale Ursache.

Dennoch kann die Form der Bewegung der physikalischen Objekte in der Bohmschen Mechanik in bestimmter Hinsicht in Analogie zur klassischen Mechanik verstanden werden: Wie in der klassischen Physik Kräfte auf intrinsische Eigenschaften der Teilchen zurückgehen, welche die Bewegung der Teilchen steuern, so repräsentiert die nicht-separable Wellenfunktion aller Teilchen im Universum in der Quantenphysik eine Eigenschaft, die eine holistische Eigenschaft aller Teilchen zusammen genommen ist und welche die Form von deren Bewegung bestimmt. Genau wie Masse und Ladung in der klassischen Physik Eigenschaften sind, die eingeführt werden, weil sie eine bestimmte kausale Rolle ausüben, so hat die Wellenfunktion in der Quantenphysik deshalb eine ontologische Bedeutung, weil sie eine Eigenschaft der Teilchenkonfiguration repräsentiert, die eine bestimmte kausale Rolle ausübt, nämlich, gegeben den Ort der Teilchen zu einer Zeit, die Geschwindigkeit (und damit die Bewegung) der Teilchen zu der betreffenden Zeit festzulegen (siehe dazu ausführlich Esfeld et al. 2013). Kurz, statt durch „spukhafte Fernwirkungen“ zwischen einzelnen Objekten im Raum erklärt die Bohmsche Mechanik die nicht-lokale Dynamik der Quantenphysik durch eine holistische Eigenschaft aller physikalischen Objekte zusammen genommen, deren kausale Rolle es ist, die Form der Bewegung dieser Objekte zu bestimmen.

Hierbei ist jedoch zu beachten, dass die Bohmsche Mechanik – im Unterschied zur klassischen Mechanik – eine Theorie erster Ordnung ist: Statt dass die Eigenschaften, welche die Zeitentwicklung der Objekte steuern, dieses so tun, dass sie die Geschwindigkeit der Objekte ändern (Beschleunigung durch Kräfte), legt die Eigenschaft, welche durch die quantenmechanische Wellenfunktion repräsentiert wird, die Geschwindigkeit der Objekte zu einer Zeit fest, wenn deren Ort gegeben ist (Geschwindigkeit als erste zeitliche Ableitung des Ortes). In gewisser Hinsicht ist daher die Quantenmechanik, verstanden als begründet durch die Bohmsche Mechanik, eine einfachere und elegantere Theorie als die klassische Mechanik: Statt eine natürliche Bewegung (die Inertialbewegung) zu postulieren und dann Kräfte einzuführen, um die Abweichung von dieser Bewegung zu erklären, und statt mehrere Eigenschaften einzuführen, die jedem Objekt für sich genommen zukommen (wie Masse und Ladung), gibt es eine Eigenschaft aller Objekte zusammen genommen, die mathematisch durch die Wellenfunktion repräsentiert wird und die, gegeben den Ort der Objekte, deren Bewegungsform (deren Geschwindigkeit) festlegt, beschrieben durch eine Bewegungsgleichung erster Ordnung.

Wie im Falle von Newtons Theorie, so sind im Falle der Bohmschen Mechanik die Ontologie von Teilchen und das Bewegungsgesetz für die Teilchen Postulate oder Axiome der physikalischen Theoriebildung, die allein dadurch gerechtfertigt werden können, dass sie sich als erfolgreich in der Erklärung und Voraussage beobachtbarer Phänomene erweisen – im letzteren Falle erfolgreich in der Ableitung des quantenmechanischen Wahrscheinlichkeitskalküls für Messergebnisse, ohne in die Interpretationsprobleme der Quantenmechanik hineinzulaufen. Das Beispiel der Bohmschen Mechanik veranschaulicht, wie in dieser Theoriebildung Naturphilosophie und mathematische Physik zusammengehen, ohne dass eine Trennung zwischen beiden möglich ist, und wie dabei sowohl die neo-empiristische, naturalisierte Metaphysik des Strukturenrealismus aufgenommen wird als auch die neo-rationalistische, apriorische Metaphysik von Objekten und Eigenschaften: Das, was die Bewegung der physikalischen Objekte bestimmt, ist eine Struktur, deren Relationsglieder alle physikalischen Objekte sind; aber diese Struktur wird von Objekten (Substanzen) instantiiert, die Eigenschaften haben, auch wenn es sich um genau eine holistische Eigenschaft aller dieser Objekte zusammen genommen handeln sollte.

Aristoteles’ Kategorien sind damit in gewisser Weise weiterhin bestätigt: Es gibt Substanzen – in Form von Teilchen zumindest in der Quantenmechanik –, und diese Substanzen haben Eigenschaften, welche Dispositionen sind, indem sie die Form der Zeitentwicklung dieser Substanzen festlegen, auch wenn diese Eigenschaften Relationen statt instrinsische Eigenschaften sind. Ebenso wie der Übergang von der klassischen Physik zur Quantenmechanik keine völlig neuen ontologischen Kategorien des Naturverständnisses erfordert, so gibt es auf dem gegenwärtigen Stand der Forschung keinerlei fundierte Argumente dafür, dass beim Übergang von der Quantenmechanik zur Quantenfeldtheorie und dann weiter zu einer Theorie der Quantengravitation eine Naturphilosophie mit völlig neuen ontologischen Kategorien erforderlich wäre. Was die Quantenfeldtheorie betrifft, gibt es empirisch fundierte Anhaltspunkte dafür, dass Teilchen erzeugt und vernichtet werden können; aber dem kann in einer Ontologie von Substanzen mit – holistischen – Eigenschaften Rechnung getragen werden (siehe z. B. Bell 2004, Kap. 19). Was die Quantengravitation betrifft, so erfordert ontologische wie auch physikalische Klarheit es in diesem Bereich ebenfalls, sich auf Objekte und ein Gesetz für deren Entwicklung zu beziehen (siehe z. B. Dürr, Goldstein und Zanghì 2013, Kap. 11).

Statt methodologisch haltlosen Spekulationen zu folgen, möchte ich daher dafür plädieren, sich in der Naturphilosophie ebenso wie in der physikalischen Forschung an der Suche nach Antworten auf die folgenden drei Fragen zu orientieren:

Was sind die physikalischen Objekte?

- Was ist das Gesetz für ihre Entwicklung (Zeitentwicklung, Bewegung)? Genauer: Welches sind die Eigenschaften dieser Objekte, so dass ein bestimmtes Gesetz ihre Entwicklung beschreibt?

- Wie erklären die postulierten Objekte und ihre Eigenschaften die beobachtbaren Phänomene?


UNSER AUTOR:

Michael Esfeld ist Professor für Philosophie an der Universität Lausanne.

Von ihm sind zum Thema u. a. erschienen:


Esfeld, Michael (2008): Naturphilosophie als Metaphysik der Natur. Frankfurt (Main): Suhrkamp.

Esfeld, Michael und Sachse, Christian (2010): Kausale Strukturen.
Berlin: Suhrkamp.

Esfeld, Michael (2011): Einführung in die Naturphilosophie.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Zweite Auflage. Erste Auflage 2002.

Esfeld, Michael, Lazarovici, Dustin, Hubert, Mario und Dürr, Detlef (2013): „The ontology of Bohmian mechanics“. British Journal for the Philosophy of Science 64.


Zitierte Literatur:

Bell, John S. (2004): Speakable and unspeakable in quantum mechanics.
Cambridge: Cambridge University Press. Zweite Auflage. Erste Auflage 1987.

Dürr, Detlef, Goldstein, Sheldon und Zanghì, Nino (2013): Quantum physics without quantum philosophy. Berlin: Springer.

Heil, John (2012): The universe as we find it.
Oxford: Oxford University Press.

Ladyman, James und Ross, Don (2007): Every thing must go. Metaphysics naturalised.
Oxford: Oxford University Press.

Maudlin, Tim (2011): Quantum non-locality and relativity.
Chichester: Wiley-Blackwell. Dritte Auflage. Erste Auflage 1994.

Newton, Isaac (1898): Optik oder Abhandlung über Spiegelungen, Brechungen, Beugungen und Farben des Lichts. Übersetzt von William Abendroth.
Leipzig: Engelmann.

Norsen, Travis (2005): „Einstein’s boxes“. American Journal of Physics 73, pp. 164-176.