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BERICHT

Wissenschaftsphilosophie: Philosophie der Lebenswissenschaften. Entwicklungen und Tendenzen

in Heft 4/2013, S. 14-27


Ob das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Biologie, der Medizin oder der Neurowissenschaften sein wird, ist noch nicht ausgemacht. Dass es ein Jahrhundert der Lebenswissenschaften sein wird, wird hingegen kaum zu bestreiten sein. Damit wird auch eine philosophische Auseinandersetzung mit diesen Wissenschaften zunehmend bedeutsam. Eine als Teilgebiet der Wissenschaftsphilosophie agierende Philosophie der Lebenswissenschaften setzt sich analytisch-kritisch mit den Lebenswissenschaften auseinander und baut maßgeblich auf der Tradition der Philosophie der Biologie auf, die seit den 1970er Jahren zumindest international als etablierter Forschungsbereich gelten kann. Im Verhältnis zur Biologie- und Medizinethik begreift sich die Philosophie der Lebenswissenschaften nicht als Konkurrenz, sondern als Komplement, das die theoretischen und forschungspraktischen Grundlagen derjenigen Deutungs- und Geltungsansprüche analysiert, die in ethische Reflexionen über die Lebenswissenschaften einfließen.

Von der Philosophie der Biologie zu einer Philosophie der Lebenswissenschaften

Vor etwa 40 Jahren gaben die Publikationen der Philosophen Michael Ruse (1973) und David Hull (1974) der wissenschaftsphilosophisch ausgerichteten Philosophie der Biologie ihren Namen. Als wichtigste Themen galten lange Zeit Fragen zum Status und zu zentralen Begriffen der Evolutionstheorie sowie die Problematik der Rückführung Mendelscher Genetik auf die Molekulargenetik. Rückblicke auf die Geschichte des Forschungsfelds (Grene & Depew 2004, Hull 2008) und neuere Einführungen (z. B. Sterelny & Griffiths 1999) bezeugen, dass der Anstoß zu einer wissenschaftsphilosophischen Auseinandersetzung mit der Biologie Früchte getragen hat. Auch im deutschsprachigen Raum beginnt sich der Forschungsbereich zu etablieren: Verfügbar sind unter anderem ein Sammelband, der zur Strukturierung des neuen Gebietes beigetragen hat (Krohs & Toepfer 2005), sowie verschiedene Einführungstexte (z. B. Köchy 2008).

In der aktuellen Debatte weicht die historisch bedingte Fokussierung des Feldes auf Evolutionstheorie und Genetik zunehmend einer breiteren Perspektive. In Anerkennung und unter Fortführung des Erreichten haben sich die Fragestellungen und Akzente in dreierlei Hinsicht verschoben.

Erstens werden klassische Themen auch der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie nun spezifisch in ihrem Bezug zu den Lebenswissenschaften zu den Lebenswissenschaften betrachtet: etwa die Frage, ob für Teilgebiete der Lebenswissenschaften spezielle Begriffe der Kausalität, der Erklärung oder des Modells erforderlich sind; oder welche Rolle gesetzartigen Aussagen in den Lebenswissenschaften zukommen kann, wenn die individuelle Variabilität in der biologischen Welt die Formulierung von strikten Naturgesetzen kaum möglich macht.

Zweitens ist eine ausgeprägte Hinwendung zur biologischen Praxis zu verzeichnen: Einerseits rücken tatsächliche Prozesse der Erkenntnisgewinnung (z. B. Theorie- oder Modellbildung) in den Fokus, nicht nur die idealisierende Rekonstruktion; andererseits interessiert sich die Philosophie der Lebenswissenschaften zunehmend für die handwerklichen, heutzutage massiv technisch unterstützten und von der Materialität der Forschungsgegenstände beeinflussten Tätigkeiten im Labor, im Feld, in der Klinik oder im Museum. Ausgangspunkt dieser Forschung ist die Annahme, dass weder der Prozess der Entstehung von wissenschaftlichen Theorien, Modellen oder Konzepten, noch die praktischen Tätigkeiten (und damit zusammenhängend die eingesetzten Materialien) allein auf der Grundlage von Publikationen rekonstruiert werden können. Vielmehr bedarf es hierfür eines engen Dialogs mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie mit der historischen und sozialwissenschaftlichen Wissenschafts- und Technikforschung.

Drittens wird nicht nur die Evolutionstheorie und die Genetik, sondern das gesamte Spektrum der lebenswissenschaftlichen Teildisziplinen zum Gegenstand philosophischer Reflexion gemacht. Hierzu gehören neue Forschungsfelder wie die Systembiologie und die Synthetische Biologie, aber auch klassische Gebiete wie die Physiologie, Immunologie, Neurologie, Psychiatrie, Epidemiologie, Ökologie, Medizin und Anthropologie, denen die Philosophie der Biologie in den vergangenen Jahrzehnten nur unzureichend Aufmerksamkeit geschenkt hat. Diese Teilgebiete werden derzeit verstärkt wissenschaftsphilosophisch in den Blick genommen. Damit ist eine grundsätzliche Erweiterung der Philosophie der Biologie zu einer inklusiveren Philosophie der Lebenswissenschaften angestoßen.


Im Folgenden wird diese Neuorientierung des Feldes entlang der genannten drei Dimensionen – neue Zugänge zu klassischen Themen, Hinwendung zur Praxis und Untersuchung neuer Forschungsgebiete – an einigen Beispielen vorgestellt: an der Debatte um biologische Arten und natural kinds, an der Diskussion um die Reduzierbarkeit biologischer Phänomene, an dem Forschungsfeld der Synthetischen Biologie und dem damit verknüpften Problem der Robustheit von Daten sowie am Forschungsfeld Anthropologie.

Biologische Arten und natural kinds

Die Frage danach, ob biologische Arten natürliche Arten (natural kinds) sind, ist eines derjenigen klassischen Themen der Philosophie der Biologie, die nun im erweiterten Rahmen eine neue Wendung nehmen. In der analytischen Philosophie werden natural kinds gewöhnlich verstanden als Klassen von Entitäten, die eine selbständige, von den Menschen und ihren klassifikatorischen Interessen unabhängige Existenz besitzen (vgl. Bird & Tobin 2012). Die Frage, wie dies genau zu verstehen ist, ist traditionell ein Thema der Metaphysik. Die metaphysischen Kernfragen sind: Was genau ist die Existenzweise bzw. die Natur von natural kinds, und was macht verschiedene Entitäten zu Mitgliedern eines natural kind? Eine klassische Antwort auf diese Fragen ist der Essentialismus, der besagt, dass alle Mitglieder eines natural kind eine bestimmte Eigenschaft bzw. einen bestimmten Satz von Eigenschaften gemeinsam haben, die Nicht-Mitglieder dieses natural kind nicht aufweisen. Der Besitz jeder dieser essentiellen Eigenschaften wird als notwendig und der Besitz des gesamten Satzes als hinreichend für die Zugehörigkeit zu einem natural kind angesehen.

Lange Zeit schienen (neben chemischen Elementen) biologische Arten offensichtliche Kandidaten für natural kinds in diesem herkömmlichen Sinne zu sein. In mehreren Aufsätzen wiesen jedoch der Biologe Michael Ghiselin (z. B. 1974) und der Philosoph David Hull (z. B. 1976; 1978) darauf hin, dass die zu diesem Zeitpunkt breit akzeptierte essentialistische Auffassung von natural kinds nicht auf biologische Arten anwendbar ist, denn es gebe keine Gruppe von Eigenschaften, die alle Organismen einer Art aufweisen, und nur diese. Ghiselin und Hull argumentierten vielmehr, für biologische Arten sei die zwischen ihren Mitgliedern auftretende Variation wesentlich, ohne die es keine Evolution geben kann. Diese Variation könne grundsätzlich jedes Merkmal eines Organismus betreffen. Eine Auffassung von biologischen Arten als natural kinds in einem essentialistischen Sinne würde dementsprechend nicht zu dem evolutionstheoretischen Bild biologischer Arten passen.

Ghiselin und Hull schlugen deshalb vor, biologische Arten nicht als natural kinds mit Organismen als deren Mitgliedern, sondern als Individuen mit Organismen als deren echten Teilen anzusehen. Biologische Arten wurden damit in einer anderen metaphysischen Kategorie verortet (Individuen statt Klassen). Dieser Vorschlag zur Klärung des metaphysischen Status biologischer Arten wurde in der Biologie wie auch der Philosophie der Biologie breit akzeptiert. Doch blieb die Tatsache, dass biologische Arten nach wie vor als Grundlage für Verallgemeinerungen in Erklärungen auftreten, ein ungelöstes Problem – denn diese Rolle wird klassischerweise nur natural kinds zugestanden. Die Arbeit an dieser Frage hat dazu geführt, dass in der Philosophie der Lebenswissenschaften das Thema natural kinds nicht mehr nur als metaphysisches, sondern in vielen Bereichen primär als epistemologisches Problem aufgefasst wird. Die Frage nach der Existenz und Existenzweise von natural kinds wird in diesem Sinne flankiert, wenn nicht sogar überlagert, durch die neu aufgeworfene Frage nach den epistemischen Funktionen von natural kinds, wie z. B. ihrer Rolle in Verallgemeinerungen oder als heuristische Werkzeuge in der Forschungspraxis. Hier sind sowohl der Versuch, einen neuen Zugang zu der Thematik der natural kinds zu finden, als auch eine Hinwendung zur Wissenschaftspraxis sichtbar, welche für die Neuorientierung der Philosophie der Lebenswissenschaften charakteristisch sind. Auch bezüglich anderer biologischer Gruppen, wie z. B. höherer Taxa, Zelltypen, Arten von Genen oder Arten psychischer Krankheiten, wird derzeit weniger deren metaphysischer Status diskutiert als vielmehr die Frage danach, wie solche Gruppen ihre jeweilige Rolle in biologischen Erklärungen, Vorhersagen und Verallgemeinerungen erfüllen können (siehe dazu z. B. Wilson, Barker & Brigandt 2007; Brigandt 2009; Reydon 2010).

Reduktion

Die Debatte über Reduktion, Reduzierbarkeit und Reduktionismus in der Biologie ist ein weiteres Beispiel für eine deutliche Akzentverschiebung innerhalb eines klassischen Feldes der Philosophie der Lebenswissenschaften, die in diesem Fall vor allem von einer stärkeren Hinwendung zur biologischen Forschungspraxis ausgelöst wurde. In den Anfängen der Philosophie der Biologie konzentrierten sich die Diskussionen auf die Frage, ob es in der Biologie Fälle von Theorienreduktion im Sinne Ernest Nagels (1961) gibt, z. B. von biologischen auf physikalische Theorien (Esfeld & Sachse 2011) oder von biologischen auf andere biologische Theorien. Als paradigmatisches Beispiel für letzteres wurde die Reduzierbarkeit der Mendelschen Genetik auf die Molekularbiologie diskutiert. Aufgrund der zahlreichen Probleme, die einer Anwendung des Nagelschen Modells im Wege stehen (z. B. der fehlenden strikten Gesetze in der Biologie und der Schwierigkeit, Brückenprinzipien zu formulieren; vgl. Rosenberg 2006), kam es in den 1980er und 90er Jahren in der Philosophie der Biologie zur Bildung eines antireduktionistischen Konsenses (Waters 1990). Die prinzipielle Adäquatheit von Nagels Modell wurde dabei lange Zeit innerhalb der Philosophie der Biologie kaum in Frage gestellt (eine Ausnahme ist z. B. Wimsatt 1976), obwohl bereits Paul Feyerabend (1962) gezeigt hatte, dass dieses Modell selbst im Bereich der Physik kaum jemals anwendbar ist, mit Ausnahme trivialer und somit uninteressanter Fälle (vgl. Nickles 1973, 188). Die Abkehr von dem überholten Reduktionsmodell erfolgte erst, als die Philosophie der Lebenswissenschaften ihren Blick stärker auf die Forschungspraxis der Biologie lenkte, in der die strengen Nagelschen Forderungen an Reduktion selten oder gar nicht erfüllt sind (vgl. Kaiser 2012). Neuere Ansätze betrachten die Lebenswissenschaften nicht mehr nur als Anwendungsgebiet, sondern auch als Quelle und Bewährung philosophischer Thesen über Reduktion. Sie konstruieren deshalb Reduktion nicht mehr als eine Idealform, die selten oder nie realisiert ist (Schaffner 1993), sondern versuchen zu verstehen, was diejenigen Fälle auszeichnet, die man in der Forschungspraxis tatsäch-lich vorfindet und die bestimmte Bereiche der Lebenswissenschaften geprägt haben und bis heute prägen.

Ein Typ von Reduktionen, die für bestimmte Bereiche der Lebenswissenschaften charakteristisch sind und daher einen wichtigen Gegenstand philosophischer Analyse darstellen, sind reduktive Erklärungen. Gegenwärtige philosophische Ansätze untersuchen, was genau eine biologische Erklärung reduktiv macht und sie von einer nicht-reduktiven Erklärung unterscheidet (vgl. Sarkar 1998, Hüttemann & Love 2011). Ein Vorschlag ist, dass sich reduktive Erklärungen biologischer Phänomene durch drei Hauptmerkmale auszeichnen (vgl. Kaiser 2011): Erstens erklären sie das Verhalten eines biologischen Systems ausschließlich durch Bezugnahme auf Faktoren, die auf einer niedrigeren Ebene (der Organisation) angesiedelt sind als das System selbst; sie konzentrieren sich zweitens auf interne Faktoren (d.h. genuine Teile) des Systems und vereinfachen systemexterne Faktoren; sie beschreiben drittens nur solche Eigenschaften und Interaktionen zwischen den Teilen des Systems, die „in Isolation“ erforscht werden können (d.h. in anderen Kontexten als in situ).

Einen alternativen Ansatz verfolgt William Wimsatt (2007), der den Schwerpunkt auf die Identifikation verschiedener reduktiver Methoden bzw. Heuristiken legt und ihre Stärken und Schwächen diskutiert. Paradigmatische Beispiele für reduktive Methoden sind die Zergliederung eines biologischen Systems in seine Teile (Dekomposition) und die Untersuchung der Eigenschaften der Teile „in Isolation“. Eine weitere reduktive Methode stellt die Isolierung eines Systems von seiner Umwelt dar, z. B. durch Vereinfachung derjenigen Umweltfaktoren, die einen Einfluss auf das System haben, oder durch ihre Kontrolle auf einem konstanten Niveau.

Philosophische Analysen realer Fälle von Reduktion können nicht nur verdeutlichen, was reduktive Methoden und reduktive Erklärungen auszeichnet, sondern auch, was ihre Vorzüge und Grenzen sind (vgl. Kaiser 2011, Hüttemann & Love 2011). Beispielsweise helfen sie dabei zu klären, warum die Anwendung reduktiver Methoden in der Molekularbiologie so erfolgreich war und unter welchen Bedingungen reduktive Erklärungen biologischer Phänomene inadäquat sind: Der ausschließliche Gebrauch reduktiver Methoden führt zu einem fehlerhaften Verständnis des untersuchten Phänomens, wenn z. B. der Kontext wesentlich für das Verhalten eines Systems ist und daher nicht ignoriert oder vereinfacht werden kann.

Synthetische Biologie

Auch die Synthetische Biologie ist bereits Gegenstand wissenschaftsphilosophischer Analysen. Charakteristisch für die Synthetische Biologie ist es, technische Methoden zu nutzen, um Teile von Organismen bzw. ganze Organismen im Labor herzustellen oder Organismen mit neuartigen Eigenschaften zu schaffen, wobei gentechnische Methoden bislang im Vordergrund stehen. Von einer „de novo“-Synthese von Lebewesen kann allerdings bisher trotz der Erfolge etwa des J. Craig Venter Institute noch nicht gesprochen werden. Venters Arbeitsgruppe setzte einem einfachen Bakterium ein chemisch synthetisiertes Genom ein, nämlich die fast unveränderte Sequenz eines Bakteriums einer anderen Art. Die künstlich zusammengebaute Zelle war imstande, das synthetische Genom abzulesen und erwies sich als lebensfähig. Nicht weniger spektakulär ist der gelungene Versuch der Gruppe um Michael Elowitz am Caltech, ein künstliches oszillierendes genregulatorisches Netzwerk in Bakterien der Art Escherichia coli einzubauen, den so genannten „Repressilator“. Dieses Netzwerk kann als einfaches Modell einer biologischen Uhr angesehen werden. Es ist exemplarisch für einen neuen „engineering approach“ in der Biologie, bei dem Organismen gezielt konstruiert werden sollen, um allgemeinen Designprinzipien auf die Spur zu kommen.

Welche epistemische Rollen können wir solchen Systemen zuerkennen? Zunächst liefern sie keine für die Theoriebildung relevanten Ergebnisse, sondern demonstrieren lediglich die Umsetzbarkeit eines biotechnologischen Plans, der auf längst bestätigtem biologischem Wissen beruht. Es wäre dennoch ein Fehler, diese Beispiele nur als technische Spielereien anzusehen. Vielmehr lassen sie sich als konkrete Modelle betrachten, die auf Grund ihres Status als beispielhafte (wenngleich sicher nicht repräsentative) Systeme auch allgemeine Aussagen über Systeme einer ganzen Klasse stützen. Im Gegensatz zur Systembiologie, die abstrakte, mathematische Modelle produziert, bringt die Synthetische Biologie also konkrete, materielle Systeme hervor. Neben anderen Zwecken, die solche synthetischen Systeme erfüllen können, spielen sie auch eine wichtige Rolle als materielles Modell. Ein bekanntes Beispiel für ein materielles Modell ist das Modell der DNA-Doppelhelix aus Karton und Draht, das James Watson und Francis Crick im Jahre 1953 zusammenbauten. Lebende Organismen können als so genannte Modellorganismen (siehe z. B. Huber & Keuck 2013) oder auch als direkte Modelle betrachtet werden (siehe z. B. Weber 2005, Kap. 6). Direkte Modelle haben eine klar definierte Funktion, die in vielerlei Hinsicht herkömmlichen theoretischen Modellen gleicht (z. B. dem Modell des harmonischen Oszillators in der Physik): Sie geben Aufschluss über den Raum des biologisch Möglichen. Der Repressilator ist ein solches direktes Modell im Gebiet der Synthetischen Biologie. Natürlich kann der Repressilator auch auf einem Rechner simuliert werden (dies wurde gemacht), jedoch ist das direkte synthetisch-biologische Modell aussagekräftiger, denn die Widerständigkeit der Materie kann im Computer immer nur in dem Maße nachgebildet werden, in dem sie bereits bekannt ist. Das direkte Modell bietet auf Grund seiner Materialität ein größeres Potenzial für epistemisch wertvolle Überraschungen.

Robustheit

Unter dem Schlagwort der Robustheit wird in der wissenschaftsphilosophischen Auseinandersetzung mit Experimenten insbesondere die Verlässlichkeit der Beziehung von Daten zu Phänomenen verhandelt (Bechtel 1994): Wie kann sichergestellt werden, dass im Experiment erhobene Daten tatsächlich Aussagen über das zu erklärende Phänomen zulassen? Damit sind Fragen der Stabilisierung empirischer Entitäten im experimentellen Kontext berührt: Daten können nach neueren Theorien streng genommen erst dann als robust gelten, wenn sie Zielphänomene störungsunanfällig (resilient) repräsentieren (Gnadenberger 2010) bzw. wenn sie die Zielphänomene instantiieren (Feest 2011). Im Zuge datenbasierter Forschungspraktiken („data mining“) erhalten klassische Fragen zur Stabilisierung, Resilienz bzw. Instantiierung unter dem Schlagwort der Robustheit neues Gewicht.

Dass die Robustheit von Daten überhaupt als epistemologisches Problem betrachtet wird, ist Ausdruck einer Hinwendung der Wissenschaftsphilosophie zur experimentellen Praxis seit den 1980er Jahren. James Bogen und James Woodward hinterfragten den in der klassischen Wissenschaftstheorie hervorgehobenen Status der Beobachtung (vgl. z. B. Hempel 1952) und verwiesen auf die bedeutende Rolle nicht-observationaler Verfahren der Datenanalyse (Bogen & Woodward 1988). Die Bedeutung solcher Verfahren wird insbesondere in den so genannten datengetriebenen Forschungsbereichen sichtbar: In den Lebenswissenschaften sind hier beispielsweise die „-omik“-Forschungsgebiete wie die Genomik oder die Proteomik zu nennen. Diese untersuchen nicht einzelne biologische Phänomene wie spezielle Gene oder Proteine, sondern die Gesamtheit der Gene oder Proteine eines Organismus oder gar wie im Falle der Metagenomik die Gesamtheit des Erbguts aller Organismen, gerade auch unterschiedlicher Arten, die z. B. in einer Wasser- oder Bodenprobe enthalten sind. Die Spezifik dieser Forschungsbereiche eröffnet sowohl Fragen der (sozialen) Epistemologie nach der Rolle von Arbeitsteilung, Vertrauen und Standardisierung in großen datengetriebenen Forschungsprojekten, als auch Fragen nach den Konsequenzen dieser veränderten Arbeitsweisen für das Verhältnis von Daten zu Modellen und Phänomenen.

In Bezug auf Fragen der sozialen Epistemologie lässt sich feststellen, dass nicht zuletzt der große Daten-Output der „-omik“-Forschung neue Zuständigkeiten der Datenverarbeitung und -strukturierung gezeitigt hat. Methoden der Bio- oder Neuroinformatik wurden zu einem festen Bestandteil lebenswissenschaftlicher Forschung. Des Weiteren hat die Integration von Datensätzen unterschiedlicher Provenienz mit dem Ziel der gemeinschaftlichen Nutzung veränderte Regime der Datenarchivierung und -auswertung hervorgebracht. Wie vor allem die historische und sozialwissenschaftliche Wissenschafts- und Technikforschung zeigte, spielen Strategien der inhärenten, d. h. datenbankspezifischen Standardisierung hier eine zentrale Rolle (Bowker 2005). Zu nennen sind die Aushandlung und Implementierung von Minimalstandards digitaler Formate sowie die formale Festlegung und fortlaufende Generierung von Metadaten zum Forschungsdesign, die zu den eigentlichen Datensätzen ergänzend gespeichert werden. Neuere Beiträge der Philosophie der Lebenswissenschaften erkennen in diesen Entwicklungen Minimalbedingungen für weiterführende Forschungsvorhaben, z. B. an bestimmten Modellorganismen wie der Fruchtfliege, und damit für die Sekundärnutzung von Daten, die ursprünglich für andere Fragestellungen erhoben wurden (vgl. Leonelli & Ankeny 2012).

Angesichts veränderter Arbeitsweisen im Rahmen datengetriebener Forschungsvorhaben stellt sich die Frage nach der Robustheit von Daten in verschärfter Form: Was bedeutet Robustheit, wenn es nicht mehr um die Stabilisierung biologischer Phänomene im konkreten experimentellen Setting geht, sondern die Daten auch sekundär, d. h. für weiterführende Forschungsvorhaben außerhalb des ursprünglichen Experimentalkontexts genutzt werden? Dies geschieht z. B. in der Systembiologie, in der die computergestützten Modelle Datensätze verwenden, die in anderen Forschungsbereichen erhoben wurden (etwa in diversen molekularbiologischen Laboren), oder in der theoretischen Biomedizin, in der das Modell des „Oncosimulators“ Datensätze aus unterschiedlichen Bereichen der biologischen und klinischen Forschung integriert, um weiterführende Erkenntnisse über die Entstehung von Tumoren zu gewinnen.

Der Wissenschaftsphilosoph Eric Winsberg weist angesichts computergestützter Simulationen darauf hin, dass deren Bewertung und Validierung verstärkt auf der Zuverlässigkeit der konkreten technischen Verfahren beruht, die bei der Konstruktion des Simulationsmodells Verwendung finden (Winsberg 2010). Wie schon in anderen Bereichen der big science zeigt sich auch in den Lebenswissenschaften, dass computergestützte Simulationen bzw. Modelle, die elementare biologische Prozesse in silico simulieren, dazu anregen, neue Strategien zu entwickeln, um die durch die Simulation erzeugten Daten im Hinblick auf die Forschungsziele zu bewerten: In silico-Modellierungen, wie etwa das virtuelle Modell des menschlichen Stoffwechsels „Recon 2“, das aus über 100.000 Einzelcomputermodellen besteht, machen es notwendig, die im Computermodell erzeugten Daten „rückwärts“ zu überprüfen: Als nachweislich robust gelten die im Computermodell simulierten Veränderungen von Stoffwechselmechanismen erst dann, wenn sie sich im zellbiologischen Labor (in vitro) bzw. im Tiermodell (in vivo) reproduzieren lassen. Solche veränderten Forschungspraktiken und adjustierten Validierungs- und Verifizierungsstrategien im Zeitalter von huge data und big science stellen das weitgehend unidirektionale Verhältnis von Datensatz zu Zielphänomenen mehr und mehr in Frage und laden damit auch zu einer weiterführenden Revision bestehender wissenschaftsphilosophischer Positionen zu Stabilität und Robustheit ein.

Anthropologie

Unter den bisherigen Ausführungen wirft insbesondere die Diskussion um biologische Arten und natural kinds neues Licht auf eine für die traditionelle Philosophie wichtige Disziplin, nämlich die Anthropologie. So führt etwa die oben diskutierte Thematik des Umgangs mit großen Datenmengen für die phylogenetische Einordnung einzelner Gruppen von Menschen oder für die (Re-) konstitution des Menschen als Forschungsgegenstand einer empirischen Anthropologie zu erheblichen Problemen (Kronfeldner, im Druck). Dabei verändert sich zunehmend auch die Debatte um die klassische Kernfrage der Anthropologie: die nach der Natur des Menschen. Belegt wird dies etwa durch einen neuen Sammelband zum Thema (Downes & Machery 2013) und durch neue Überblicksartikel (Stenmark 2012, Kronfeldner et al. (in Begutachtung)).

Noch bis vor kurzem wurde die Frage nach der phylogenetischen Einordnung des Menschen meist aus einer biologischen Perspektive beantwortet: Verwandtschaftsgrade werden in genetischen Distanzen gemessen, wobei die Abweichungen zwischen Schimpanse und Mensch relativ klein erscheinen. Auf diesen Reduktionismus kann die Philosophie der Lebenswissenschaften reagieren, denn auch hier kann Reduktion nicht vollständige Rückführung heißen, vielmehr stellt sie nur eine unter mehreren, sich wechselseitig ergänzenden Formen der Erklärung dar. Wie man in Bezug auf genetische Erklärungen menschlicher Eigenschaften zeigen kann, vermag eine reduktive Erklärung nur einen bestimmten Aspekt eines Phänomens (z. B. das Phänomen Aggression auf bestimmte Art und Weise definiert) in bestimmter Hinsicht (z. B. unter Absehung aller Unterschiede in der sozialen Umwelt) zu erfassen. Durch Klärung der unterschiedlichen Konstitution von Phänomenen lässt sich ein Dissens in der Erklärung der Phänomene pragmatisch-pluralistisch auflösen (Longino 2013, Kronfeldner, im Druck). Der philosophisch-anthropologische Blick wird also nicht zulassen, dass genetische Unterschiede zu wesentlichen Unterschieden stilisiert werden. Die genetischen Unterschiede können zwar Unterschiede zwischen Merkmalen von Organismen erklären, daraus folgt jedoch nicht, dass alle Unterschiede auf diese Weise erklärt werden können. Wenn wir z. B. die Voraussetzungen für Moralfähigkeit nicht in den Genen finden, bedeutet dies nicht, dass Moralität als Konstrukt erwiesen ist, das „in Wirklichkeit“ nicht existiert; es zeigt nur, dass der Blick auf die Gene keinen angemessenen Erklärungsansatz für Moralität bietet (Wild 2010). Auch die Philosophie der Systembiologie steuert zur Relativierung von Reduktionsansprüchen bei, und zwar, indem sie zeigt, dass die für weitere Analysen aufbereiteten Daten in erheblichem Maße von Theorien, experimentellen Abläufen sowie unvermeidbaren pragmatischen Entscheidungen abhängen.

Indem so die reduktionistischen Ansprüche im Rahmen der neuen Philosophie der Lebenswissenschaften überwunden sind, kann man in neuer Weise an den traditionellen Fragebestand anschließen. Ein Ansatzpunkt für die Debatte liegt dann in der Beobachtung, dass der Begriff des Menschen zweideutig verwendet wird. Einerseits dient er als natursystematischer Begriff, um die biologische Art Homo sapiens zu bezeichnen; andererseits setzt er als kontrastiver Begriff Menschsein dem Tiersein scharf entgegen und verweist dabei auf Eigenschaften, die sowohl kognitiv als auch moralisch relevant sein können. Hier schließen sich zwei aktuell vieldiskutierte Fragen an: (1) Gibt es überhaupt eine Natur des Menschen? (2) Besteht der kontrastive Begriff, der Menschen eine Sonderstellung gibt, zu Recht? Traditionell ging man davon aus, dass dem kontrastiven Begriff eine Vorrangstellung gegenüber dem inklusiven natursystematischen Begriff zukommt. Die Aufwertung kognitiver Fähigkeiten bei nicht-menschlichen Tieren sowie die biologische Behandlung spezifisch menschlicher Fähigkeiten in den Forschungen der letzten Jahrzehnte lassen indessen Zweifel an diesem Vorrang aufkommen (Wild 2012). Empirisch kann z. B. in Frage gestellt werden, ob wir den kontrastiven Begriff tatsächlich zuerst erlernen und als den dominanten verwenden; dies scheint von der Sozialisation abzuhängen (Herrmann et al. 2012). Auch ist unklar, worin der Kontrast genau besteht. Gibt es, wie die traditionelle Auffassung annimmt, einen entscheidenden Unterschied oder auch nur eine Gruppe von Unterschieden, die alle Menschen von allen anderen Lebewesen absetzt? Wenn es aber keine solchen Unterschiede geben sollte, die die Artzugehörigkeit festlegen, was bedeutet es dann noch, von „der Natur des Menschen“ zu reden? Einige Stimmen halten den Rückgriff auf die menschliche Natur für unsachgemäß, ja in einigen Kontexten sogar für irreführende Rhetorik, wie etwa in Diskussionen über die Zulässigkeit von Mitteln zum human enhancement (Lewens 2012).

Aus der Perspektive der Biologie besteht die Tendenz, dem natursystematischen Begriff den Vorrang zu geben. Hier gilt für ausgemacht, dass die Natur des Menschen – d.h. das, was allen Menschen gemeinsam ist, – eine exklusiv oder überwiegend biologische Basis hat. Der kontrastive Begriff wird demgegenüber als substanzlos zurückgewiesen, da der Mensch als eine Tierart unter anderen gesehen wird. Wie oben beschrieben, wurde die These, dass es eine Natur des Menschen gebe, von der klassischen Philosophie der Biologie aber in Frage gestellt, indem der Gedanke, dass biologische Arten – auch die Art Homo sapiens – ein natural kind bilden und somit eine essentialistische Natur haben könnten, scharf kritisiert wurde (vgl. Hull 1986). Aus dieser Perspektive steht ein essentialistischer Begriff des Menschen vor schier unüberwindbaren Problemen. Allerdings erscheint mit dem Verzicht auf ein Wesen des Menschen auch der kontrastive Begriff gefährdet.

Die jüngste Diskussion setzt hier mit neuen Vorschlägen an. So wird erstens bestritten, dass mit dem natursystematischen Begriff des Menschen notwendig auch der kontrastive Begriff wankt. Möglicherweise wird seine Definition jedoch (mit Verweis auf kulturell entstandene Eigenschaften) die Kapazität der empirischen Lebenswissenschaften überschreiten und muss philosophisch entwickelt werden; das konstatieren etwa gewisse neo-aristotelische Ansätze in der Moralphilosophie (Foot 2004). Darüber hinaus wird zweitens diskutiert, ob es nicht-essentialistische Varianten eines natursystematischen Begriffs gibt. Darunter fallen historische, kausale und nomologische Konzepte der menschlichen Natur, die in unterschiedlicher Weise von der traditionellen essentialistischen Auffassung abweichen (vgl. die Aufsätze in Wilson 1999 und den Überblick in Kronfeldner et al. (in Begutachtung)). Drittens – und hier schließt sich der Kreis zum oben diskutierten Beispiel der natural kinds-Debatte und zugleich zu der Debatte über die Robustheit von Daten – tritt neben die metaphysische Frage nach dem Wesen biologischer Arten zunehmend ein epistemologisches Problem: Über mindestens wie viele Mitglieder einer biologischen Art müssen Informationen vorliegen, um stabile Verallgemeinerungen und induktive Schlüsse über die Art als Ganzes rechtfertigen zu können? Und wie zuverlässig ist die klassifikatorische Praxis in der Biologie gemessen an diesem Kriterium? Ein interessanter, auf Quine zurückgehender Vorschlag lautet, dass Induktion nicht auf oberflächlichen Ähnlichkeiten beruhen darf, sondern auf strukturelle Eigenschaften zurückgreifen muss, die ontologisch relevant für die Zugehörigkeit zu einem natural kind sind. Schlüsse, die auf solchen Eigenschaften beruhen, sind zuverlässig und damit auch gerechtfertigt (Kornblith 1993) – könnten also den erkenntnistheoretischen Anspruch der wissenschaftlichen Praxis retten. Wie sich jedoch das Wesen einer biologischen Art, und insbesondere das Wesen des Menschen, im Sinne solcher basalen Eigenschaften fassen ließe, wird kontrovers diskutiert. Möglicherweise erweist sich hier der Rückgriff auf einen Begriff der menschlichen Natur als viel versprechend, der dem Menschen als Folge seiner biologischen Evolution charakteristische Eigenschaften zuschreibt, die zwar auf lange Sicht wandelbar sind, aber über evolutionär kurze Zeiträume von einigen zehn- bis hunderttausend Jahren stabil, und deshalb durchaus als Grundlage induktiver Schlüsse dienen können. Eine solche stabile Gruppe von strukturellen Eigenschaften wird im Anschluss an Richard Boyd auch als „homöostatisches Eigenschaftsbündel“ bezeichnet (vgl. Boyd in Wilson 1999). Solche Bündel spielen die Rolle von Essenzen. Eine weitere Option stellt die Idee einer historischen Essenz dar (vgl. Griffiths in Wilson 1999).

Zusammenfassung und Ausblick

An den hier genannten systematischen Fragen zur Anthropologie, zu biologischen Arten und natural kinds, zur Reduzierbarkeit biologischer Phänomene und zur Robustheit von Daten zeigt sich exemplarisch, dass die Philosophie der Lebenswissenschaften heute von einer Pluralität der untersuchten Disziplinen und Forschungsansätze geprägt ist wie auch von einem Pluralismus der philosophischen Zugänge. Die philosophische Auseinandersetzung mit den vielfältigen empirischen Forschungsbereichen setzt voraus, dass Philosophinnen und Philosophen der Lebenswissenschaften mit einem breiten Spektrum methodisch-technischer und konzeptuell-theoretischer Inhalte lebenswissenschaftlicher Forschung vertraut sind. Erst auf Basis der Vertrautheit mit dieser Pluralität ist es möglich, die verschiedenen empirischen Forschungsansätze unter systematisierenden Gesichtspunkten zu untersuchen.

Eine für die Systematisierung empirischer Forschungsansätze zentrale Frage ist die nach den Begriffen biologischer Individualität: Was sind in den verschiedenen Bereichen der Lebenswissenschaften jeweils die Kriterien biologischer Individualität? Hier ist zum einen die klassische Debatte um den Organismus-Begriff aufzunehmen: Was zeichnet lebensweltlich als paradigmatisch oder typisch angesehene Lebensformen aus, dass sie als Organismen charakterisiert werden, während andere biologische Entitäten, beispielsweise einzelne Körperzellen eines Mehrzellers, nicht unter diesen Begriff fallen? Zugleich gilt es, die Diskussion biologischer Individualität von der Engführung auf die Problematik des Organismusbegriffs zu befreien und mit Blick auf die unterschiedlichen Forschungsansätze, z. B. in der Evolutionstheorie und der Physiologie, zu fragen, welche Arten von Individuen und welche Bedingungen und Grade von Individualität es dort jeweils gibt. Was in der Physiologie als Individuum zählt, ist z. B. nicht notwendigerweise auch ein Individuum im Sinne der Evolutionstheorie. Dies liegt daran, dass in beiden Gebieten unterschiedliche Erklärungsinteressen verfolgt werden und in ihren Erklärungen unterschiedliche Begriffe eine zentrale Rolle einnehmen.

Säugetiere mögen paradigmatische Individuen sein sowohl im Sinne der Physiologie, da sie Organismen, d. h. funktional geschlossene Systeme sind, als auch im Sinne der Evolutionstheorie, da sie fortpflanzungsfähige und variable Einheiten sind. Eine einzelne Arbeiterin der Honigbiene dagegen wird zwar als ein physiologisch geschlossenes und damit individuelles System angesehen, gilt aber nicht als evolutionsbiologisches Individuum, weil sie sich nicht fortpflanzen kann; Gene oder Chromosomen werden dagegen umgekehrt aufgrund ihrer Replikabilität als evolutionsbiologische Individuen angesehen, gelten aber nicht als physiologische Individuen (im Sinne von Organismen). Säugetiere erfüllen neben diesen beiden Kriterien der Individualität – der funktionalen Geschlossenheit und Replikabilität – weitere Kriterien der Individualität, die andere Lebewesen nicht erfüllen. Dies sind z. B. die genetische Homogenität (die Chimären fehlt), die genetische Einmaligkeit (die Klonen fehlt) oder der entwicklungsbiologische Ursprung in einem Einzellstadium (der von Pflanzen abgespaltenen Ablegern fehlt) (vgl. Wilson 1999; Santelices 1999; Godfrey Smith 2013). Über einzelne Lebewesen hinaus können auch Verbünde vieler Organismen als Individuen angesehen werden, etwa die Kolonien staatenbildender Insekten oder der Staatsquallen, symbiontische Komplexe wie die Flechten oder Biozönosen und Ökosysteme, die aus Organismen verschiedener Arten zusammengesetzt sind. Brauchen wir mit Blick auf diese Lebensformen das Konzept des Kollektiv-Individuums? Ist Individualität und eventuell auch Organismizität graduierbar?

Das Erfassen der Vielfalt von biologischen Lebensformen und lebenswissenschaftlichen Forschungspraktiken erfordert eine Erweiterung des begrifflichen Instrumentariums um neue, differenzierte Begriffe biologischer Individuen. Diese Thematik gehört zu den Grundproblemen des Forschungsbereichs, der sich die Philosophie der Lebenswissenschaften künftig zu widmen hat.

Die thematische Breite der Philosophie der Lebenswissenschaften wird durch eine Vielfalt der eingesetzten philosophischen Methoden komplementiert. Ansätze der klassischen Philosophie der Biologie kommen beispielsweise mit denen der Technikphilosophie sowie der Medizintheorie zusammen.

Die zentrale Frage der Anthropologie nach der Natur des Menschen verbindet die Philosophie der Lebenswissenschaften mit der Philosophie der Sozial- und Geisteswissenschaften. Hier zeigt sich auch eine hohe Anschlussfähigkeit an systematische Fragen in der Bio- und Medizinethik. An der Schnittfläche von Wissenschaftsphilosophie und Medizinethik angesiedelte Forschungskooperationen befassen sich beispielsweise mit der Frage nach den Beziehungen zwischen den Begriffen biologischer Funktion und Dysfunktion einerseits und medizinischer Gesundheit und Krankheit andererseits.

Des Weiteren eröffnet der Diskurs um Werte in den Wissenschaften den Weg für eine Annäherung von Wissenschaftsphilosophie und politischer Philosophie. Hiervon profitiert die Analyse sozialer Besonderheiten lebenswissenschaftlicher Verbundforschung, zum Beispiel in der Systembiologie. Die Ausbildung und Erweiterung des konzeptuellen und methodischen Instrumentariums der Philosophie der Lebenswissenschaften wird das Ausloten dieser und anderer Schnittflächen zu Nachbargebieten erfordern und die Philosophie der Lebenswissenschaften auch weiterhin in Bewegung halten


Einführungsliteratur zum Thema:

Köchy, K. (2008): Biophilosophie zur Einführung. Hamburg: Junius.

Krohs, U. & Toepfer, G. (Hg.) (2005): Philosophie der Biologie: Eine Einführung, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Sterelny, K. & Griffiths, P.E. (1999): Sex and Death. An Introduction to Philosophy of Biology. Chicago: The University of Chicago Press.

Das Literaturverzeichnis mit 52 Referenzen findet sich auf der Website
www.information- philosophie.de

Eine umfassende Bibliographie findet sich auf der Website www.philbio.de
Dieser Artikel ist eine gemeinsame Publikation der Mitglieder des DFG-geförderten Netzwerks Philosophie der Lebenswissenschaften, das unter philbio.de weitere Informationen zum Forschungsbereich zur Verfügung stellt. Die Mitglieder des Netzwerks in alphabetischer Reihenfolge sind: Susanne Bauer (Frankfurt), Lara Huber (Hamburg), Marie I. Kaiser (Köln), Lara Keuck (Berlin), Ulrich Krohs (Münster), Maria Kronfeldner (Bielefeld), Peter McLaughlin (Heidelberg), Kärin Nickelsen (München), Thomas Reydon (Hannover), Neil Roughley (Essen), Christian Sachse (Lausanne), Marianne Schark (Berlin), Georg Toepfer (Berlin), Marcel Weber (Genf), Markus Wild (Basel).