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FORSCHUNG

Metaphysik: Was sind komplexe Substanzen?

METAPHYSIK

 Was sind komplexe Substanzen?

 Die Frage, was es heißt, dass verschiedene materielle Gegenstände ein Ganzes, eine Substanz bilden und unter welchen Bedingungen sie dies tun, ist das Thema der Habilitationsschrift von Johannes Hübner:

Hübner, Johannes: Komplexe Substanzen. 390 S., Ln., € 49.95, 2007, Ideen & Argumente, de Gruyter, Berlin.

Dabei wird deutlich, dass das Thema sehr komplex ist: für verschiedene Arten von komplexen Substanzen gelten verschiedene Bedingungen der Zusammensetzung.

 Für Hübner sind alle Substanzen entweder mereologische Atome oder komplex. Mereologische Atome sind etwa die Atomteilchen, die für die Zusammensetzung komplexer Substanzen besonders wichtig sind: Elektronen, Quarks und Gluonen. Für komplexe Substanzen gibt es seit Aristoteles vier Kandidaten: Massen, Körper, Artefakte und Lebewesen.

 

Massen

 Was unter Massen zu verstehen ist, darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen. Nach der einen ist die Existenz und Fortdauer einer Masse nicht daran gebunden, dass ihre Teile in irgendwelchen Relationen der Verbindung zueinander stehen, nach der anderen dagegen schon. Nach der ersten Auffassung können Massen nahezu beliebig zerstreut sein, im zweiten Sinn (in einem Sinn von Körper) dagegen nicht. Hübner sieht Masse in Kontrast einerseits zu einem zählbaren Ding, andererseits zu vielen Dingen. Siginifikant ist dabei Dreierlei:

 

n Massen gelten als amorph: Eine Masse besitzt keine Struktur, die eine Portion räumlich abgrenzt von einer anderen Portion derselben Masse; sie toleriert Variationen, die sie zu einem bestimmten Zeitpunkt hat. Um sich auf eine Portion einer Masse im Unterschied zu einer anderen zu beziehen, muss man entsprechend auf Behältnisse zurückgreifen, in die einzelne Portionen gefüllt sind oder auf Dinge, durch die sie konstituiert werden.

 

n Massen sind räumlich zerstreubar und zerlegbar. Wenn man eine Gießkanne Wasser über einem Gemüsebeet verteilt, bleibt es dasselbe Wasser.

 

n Massen lassen die zur räumlichen Verteilung umgekehrte Operation der Akkumulation zu. Wenn man Wasser in eine schon halbvoll gefüllte Wanne gießt, dann ist in der Wanne mehr Wasser als zuvor und das beigefügte Wasser ist in der vergrößerten Por­tion enthalten.

 

 

 

 

Hübner vertritt die These, auf Masse als Substanzbegriff sei zu verzichten. Ein Massenterm, argumentiert er, ist im Unterschied zu einem Zählwort  nicht in der Lage, Fälle voneinander abzugrenzen, er stellt kein Identitätskriterium für das zur Verfügung, was unter ihn fällt. Für Hübner sind Massenterme genau die allgemeinen substantivischen Ausdrücke, die keine Zählwörter sind. Massenterme haben lediglich die Rolle von Indizien, die zudem nicht einmal in jedem Fall zuverlässig sind. Und nicht einmal alle Massenterme sind Bezeichnungen für Massen. So scheiden abstrakte Massenterme wie „Taktgefühl“ aus, weil man Personen zählen kann, die Taktgefühl besitzen. Zudem können Massenterme objekt-involvierend sein: sie treffen auf dieselben Dinge  zu wie Zählwörter: „Franzens Kleidung“ trifft auf dasselbe zu wie Franzens „Kleider“, wobei der erste Ausdruck ein Massenterm, der zweite ein Zählwort ist. Auch Massenterme wie „Licht“ oder „Schatten“ bezeichnen keine Massen, weil Licht und Schatten nicht in dem Sinne Raum einnehmen, dass sie anderes verdrängen. So bleiben einzig stoffliche Massenterme wie „Milch“ oder „Wein“ übrig. Aber selbst die allgemeine Aussage: „Wenn ein stofflicher Massenterm nicht leer ist, trifft er auf eine Masse zu“, ist laut Hübner falsch. Man sollte nicht allgemein anzugeben versuchen, worauf ein stofflicher Massenterm zutrifft, sondern die Frage von Fall zu Fall entscheiden. So trifft „Gold“ bei Äußerungen von „das ist Gold“ auf Unterschiedliches zu, je nachdem, worauf gezeigt wird: auf ein einzelnes Goldatom, auf einen Goldring oder auf eine Sammlung von Goldmünzen. Hübner plädiert aus diesen Gründen für eine ontologisch neutrale Semantik für Massenterme, die Ontologie sollte von der unterschiedlichen Semantik für Massenterme und Zählwörter unberührt bleiben,

 

Aber nicht nur, was die Semantik von Massentermen angeht, ist es überflüssig, Massen anzunehmen, dies gilt auch für die ontologische Ebene. Denn für Massen lässt sich keine Bedingung der Zusammensetzung annehmen. Ein einzelnes Goldatom ist Gold, das Gold in einem Tresor voller Goldbarren und Goldmünzen ist Gold, und alles Gold dieser Welt ist Gold. Die Frage, wann irgendwelche Dinge Gold zusammensetzen, ist zu unbestimmt, als dass sie beantwortet werden könnte.

 

Körper

 

Mit Körper als komplexe Substanz ist ein anorganischer Körper gemeint. Für seine Fortdauer kommt es darauf an, dass die Verbindungsrelationen zwischen seinen Teilen erhalten bleiben. Die interessante Frage ist hier, ob ein Körper den Verlust oder den Ge­winn von Teilen überdauern kann. Locke hat dies verneint: Wenn nur ein Atom entfernt oder hinzugefügt werde, sei es nicht mehr derselbe Körper. Dem steht allerdings unsere gewöhnliche Auffassung entgegen: Man nimmt an, dass ein faustgroßer Stein den Verlust eines Teils von der Größe eines Sandkorns übersteht. Die Urteile darüber, wie groß der Teil eines Körpers sein kann, dessen Verlust der Körper übersteht, variiert mit der Größe des Körpers: Je größer der Körper, desto größer können die Teile sein, deren Abtrennung die Existenz des Körpers nicht bedroht und umgekehrt. Allerdings lässt der common sense nicht zu, dass ein Körper den Verlust eines Teils übersteht, der die Hälfte seiner Masse ausmacht.

 


Für Hübner gilt: Verschiedene Dinge sind miteinander verbunden, wenn dank eines zwischen ihnen herrschenden Gleichgewichts von Kräften eines unter ihnen durch ein anderes bewegt werden kann; und was durch Fortdauer verknüpft ist, setzt einen Körper zusammen. Für die Fortdauer eines Körpers kommt es ausschließlich darauf an, dass genau die Dinge, die ihn dank ihrer Verbindung zu einer Zeit zusammensetzen, zu anderen Zeiten in Verbindungsrelationen zueinander stehen.

 

Artefakte

 

Strittig ist die Existenz von Artefakten. Dabei handelt es sich um materielle Gegenstände wie Tische oder Stühle. Die Existenz von Artefakten impliziert die Existenz von rationalen Wesen, die gewisse Ziele verfolgen, oder, in der Terminologie von Searle, ein Artefakt ist beobachterrelativ (womit Eigenschaften gemeint sind, deren Existenz von der Intentionalität von Beobachtern abhängt und die selber nicht intentional sind). An diesem Punkt hat sich denn auch der Streit um die Existenz von Artefakten entzündet. Befürworter wie Lynne Baker argumentieren: Weil es Artefakte gibt, sind manche Arten (materieller) Objekte beobachterrelativ. Die Gegner, deren Exponent P. van Inwagen ist, erwidern: Wenn es Artefakte gäbe, wären sie eine beobachterrelative Art (materieller) Objekte, und weil es keine beobachter-relativen (materiellen) Objekte, gibt, gibt es keine Artefakte.

 

In der Diskussion sind des weiteren Fragen, ob eine technische Herstellung (im Unterschied zu einer natürlichen Genese) für Artefakte essentiell ist und ob diese einer Funk­tion zu dienen haben.

 

Organismen

 

Als Paradigmata von integrierten Ganzheiten gelten Organismen. Die Analyse ihrer Zusammensetzung legt offen zutage: Verantwortlich für die Zusammensetzung eines Organismus ist das Leben, im biologischen Sinn verstanden als die Gesamtheit der organischen Prozesse, die das individuelle Leben eines einzelnen Organismus ausmachen. Für Locke vereint die Teilnahme an einem gemeinsamen Leben, die durch eine geeignete Organisation ermöglicht wird, verschiedene Dinge zu einem einzigen Organismus. Für das Beharren von Organismen ist die Kontinuität des individuellen Lebens verantwortlich. Wenn wir zwei Lebensphasen beobachten, dann handelt es sich nur dann um die Lebensphasen desselben Organismus, wenn die beiden Lebensphasen Teile desselben kontinuierlichen Lebens sind.

 

Hübners Vierdimensionalismus

 

Die These des Vierdimensionalismus hinsichtlich der komplexen Substanzen besagt, dass alle konkreten Objekte zeitliche Teile haben. Dabei gibt es zwei Formen von Vierdimensionalismus:

 

¢ Der Präsentalismus behauptet: Alles, was existiert, ist gegenwärtig. Damit wird die Gegenwart „metaphysisch privilegiert“.

 

¢ Der Äternalismus behauptet, der Präsentalismus sei falsch, denn es gebe auch vergangene und künftige Objekte. Sokrates ist zwar nicht mehr gegenwärtig, aber er existiert und ist deshalb ein geeignetes Bezugsobjekt von singulären Termen.

 

Die Gegenposition des Vierdimensionalismus, der Dreidimensionalismus, behauptet, kein materielles Objekt habe zu irgendeinem Zeitpunkt in seiner Existenz echte instante zeitliche Teile.  Der Streit geht darüber, wie konkrete, insbesondere materielle Dinge in der Zeit beharren. Etwas beharrt genau dann, wenn es ein konkretes Objekt ist, das zu verschiedenen Zeiten existiert. Wie geht das? Eine Antwort ist: indem er perduriert. So nehme ich verschiedene Orte zugleich ein, etwa meine linke Stuhlhälfte und meine rechte Stuhlhälfte, weil ich verschiedene Körperteile habe, die verschiedene Orte einnehmen. Ebenso: Ich existiere deshalb zu verschiedenen Zeiten, etwa um 9 und um 10 Uhr morgens, weil ich zu verschiedenen Zeiten verschiedene zeitliche Teile habe, den 9-Uhr-Teil und den 10-Uhr-Teil.  Allgemein: x perduriert genau dann, wenn x beharrt, und zwar dadurch, dass x zu jedem Zeitpunkt, x dem x beharrt, einen instanten zeitlichen Teil hat. Der Perdurantismus besagt nun: Alle beharrenden  konkreten Objekte perdurieren. Der Vierdimensionalismus impliziert nun den Perdurantismus, aber nicht umgekehrt.

 

Für das Alltagsverständnis ist der Vierdimensionalismus abwegig, es ist auf die Annahme festgelegt, dass materielle Substanzen im Unterschied zu Ereignissen und Zuständen keine echten zeitlichen Teile haben. Man sagt nicht von materiellen Substanzen, etwa von Katzen, sondern von ihrem Leben, dass sie eine Dauer haben. Ereignisse fangen an und hören auf, Substanzen dagegen entstehen und vergehen. Man kann nur von Ereignissen, nicht von Substanzen sagen, dass sie mehr oder weniger schnell ablaufen. Hübner lehnt deshalb den Vierdimensionalismus ab, da zudem unklar ist, was zeitliche Dinge sind. Van Inwagen hat sogar behauptet, niemand verstünde, was zeitliche Dinge von materiellen Objekten sein sollten. David Lewis hat dem widersprochen und versucht, am Beispiel von Personenstadien zu erklären, was echte zeitliche Teile von materiellen Gegenständen sein können und behauptet, dass es sie gibt. Ein Personenstadium, so Lewis, ist einer Person sehr ähnlich: Es ist ein physikalisches Objekt, das spazieren geht, spricht und denkt. Der einzige Zustand ist, dass ein Stadium nicht sehr lange exi­stiert und deshalb nicht die Dinge tun kann, mit denen eine Person längere Zeit beschäftigt ist. Ein Personenstadium tritt mit einem Mal in Erscheinung, existiert eine Weile und vergeht dann. Unmittelbar nachdem das erste Stadium vergangen ist, tritt ein zweites auf, dessen Qualitäten und Lokalisierung exakt zu denen des ersten passt, so auf, dass das Vergehen des ersten Stadiums und der Auftritt des zweiten zeitlich nicht getrennt sind.

 

Das Standardargument gegen den Vierdimensionalismus geht dahin, dass genuine Veränderungen den Dreidimensionalismus voraussetzen. McTaggart hat das Beispiel gebracht, wonach ein Schürhaken nur dann seine Temperatur verändert, wenn der Sachverhalt, dass der Schürhaken eine bestimmte Temperatur hat, nicht immer wahr oder falsch ist. Genuine Veränderung gibt es demnach nur unter der metaphysischen Voraussetzung, dass es Sachverhalte gibt, die ihre Wahrheitswerte nicht ewig haben. Wenn der Vierdimensionalismus und damit der Perdurantismus aber gelten würde, dann müsste Substanzveränderung auf der gleichen Ebene wie Substanzverschiedenheit gesehen werden und genuine Veränderungen wären nicht möglich. Hübners Fazit: Weil der Vierdimensionalismus dem gewöhnlichen Denken fremd und schwer verständlich ist und nur unter Schwierigkeiten mit dem Umstand in Einklang zu bringen ist, dass Substanzen nicht notwendig genau so lange existieren, wie sie existieren, sollte man ihn ablehnen – aber nicht wegen des Problems der Veränderung.

 

Koinzidenz

 

Zwei verschiedene Objekte x und y koindizieren räumlich zu einer Zeit t genau dann, wenn sie zu t dieselbe örtliche Region exakt einnehmen. Materielle Koinzidenz wird für materielle Objekte angenommen, von denen das eine das andere konstituiert, wie z.B. der Goldklumpen die Goldstatue.

 

Gegen die Annahme von materieller Koinzidenz und Konstitution spricht, dass damit   eine überflüssige Vervielfältigung von Exi­stenzannahmen impliziert ist. Es riecht, wie es David Lewis formuliert hat, nach doppeltem Zählen, wenn man eine Plastikschüssel und das sie angeblich konstituierende Pla­stikstück als zwei verschiedene Dinge auffasst. Das gewichtigste Argument stammt von Eric Olson und wird als das „Problem der Ununterscheidbarkeit“ bezeichnet: Wie können sich zwei Objekte, die durch exakt dieselben Teile zusammengefasst werden, qualitativ unterscheiden?

 

Hübner plädiert dafür, die Annahme einer eins-zu-eins Beziehung zwischen konstituierenden und konstituiertem Objekt zugunsten einer Eines-Vieles-Beziehung zwischen zusammensetzenden Teilen und zusammengesetztem Objekt fallenzulassen.

 

Uneingeschränkte Summenbildung

 

Das Prinzip der uneingeschränkten Summenbildung lautet, dass beliebige Dinge genau eine Summe bilden. Beliebige diskrete materielle Dinge setzen notwendig genau dann eine Substanz zusammen, wenn die Dinge wenigstens zwei sind. Vertreten wird das Prinzip u. a. von David Armstrong und David Lewis.

Das Prinzip ist umstritten, da es zur Folge hat, dass es unzählige räumlich zerstreute Dinge gibt, deren Existenz wir gewöhnlich nicht annehmen, etwa die Summe von Franz und seinem Dackel: das Prinzip ist ontologisch sehr verschwenderisch.

David Lewis hat dagegen argumentiert, dass die Tatsache, dass wir solche Objekte gewöhnlich ignorieren, nicht gegen ihre Exi­stenz spreche, sondern lediglich anzeige, dass der Quantifikationsbereich gewöhnlicher Aussagen mehr oder weniger eingeschränkt sei. Aber wenn das Prinzip falsch wäre, so Lewis’ Gegenargument, wäre die Existenz manchmal vage, und weil dies unmöglich ist, ist das Prinzip wahr.

 

Vagheit

 

Charakteristisch für ein vages Prädikat ist, dass es manchmal unklar ist, ob ein gegebenes Objekt darunter fällt oder nicht. Vage Ausdrücke ziehen keine klare Grenze zwischen ihren positiven und negativen Fällen. Franz mit seinem schütteren Haarkranz ist weder klarerweise ein Kahlkopf noch kein Kahlkopf.  Die Klarheit der Anwendung     eines vagen Prädikats kann zusätzlich durch Mehrdeutigkeit, Kontextabhängigkeit und Relativität beeinträchtigt sein.

Kleine Veränderungen sind für die Erfüllung eines vagen Terms nicht offensichtlich relevant, aber viele kleine Veränderungen können sich zu einem offensichtlich relevanten Unterschied addieren. Hier besteht das Problem des Sorites:

 

(1) Ein Getreidekorn bildet keinen Haufen.

(2) Wenn ein Getreidekorn keinen Haufen bildet, dann bilden auch zwei Getreidekörner keinen Haufen, egal wie die Körner angeordnet sind.

(3) Wenn zwei Getreidekörner keinen Haufen bilden, dann auch nicht drei Getreidekörner, egal wie die Körner angeordnet sind.

 

Das lässt sich fortfahren bis zu (999). Wenn 999 Getreidekörner keinen Haufen bilden, dann auch nicht 1000 Getreidekörner usw.

 

Eine Lösung dieses Problems hat Peter Unger mit der These geliefert, dass beliebige materielle Subjekte unter keinen Umständen eine komplexe Substanz zusammensetzen: Es gibt keine Haufen, es handelt sich dabei nur um Fiktionen. Allerdings wird allgemein bezweifelt, dass diese eliminative Lösung eine gute Lösung des Problems ist.