PhilosophiePhilosophie

FORSCHUNG

Metaphysik: Das Absolute

Gunnar Hindrichs entdeckt das Absolute und rekonstruiert den ontologischen Gottesbeweis

 

Der Begriff des Absoluten spielt in der Philosophie der Gegenwart keine Rolle. Wer über das Absolute nachdenken will, muss sich dessen Begriff erst einmal wieder erarbeiten. Gunnar Hindrichs unternimmt dies in seiner Habilitationsschrift

Hindrichs, Gunnar: Das Absolute und das Subjekt. 346 S., kt., € 29.— 2008, Klostermann, Frankfurt

 

„Absolut“ heißt losgelöst. Die Verhältnisse, die ein Losgelöstes eingeht, müssen ausschließlich Verhältnisse seiner selbst sein. Daraus ergibt sich, dass das Losgelöste durch nichts anderes als sich selbst bedingt ist. Das Absolute ist das, was sich selbst bedingt. Das heißt, dass es außerhalb des Absoluten nichts geben kann. Denn gäbe es etwas, so stünde das Absolute in dem Verhältnis der Nichtbedingtheit zu diesem Außerhalb. Der Begriff des Absoluten bedeutet daher einen starkenAnspruch. Es ist der Begriff eines Seienden, das alles Sein für sich verlangt. Das Absolute vermag nur aus dem, was es enthält, begriffen werden. Und das heißt, dass es aus sich heraus verstanden wird. Etwas ist ein Absolutes genau dann, wenn es sich selbst bedingt und wenn es sich selbst erklärt.

 Das Absolute ist in diesem Sinne in sich selbst und wird durch sich selbst begriffen. Es ist, in Spinozas Terminologie, eine Substanz. Das, was sich selbst bestimmt, ist seinem Begriff gemäß zugleich auch etwas, das notwendigerweise existiert. Der Begriff des Absoluten hat die Existenz seines Gegenstandes als eines seiner Merkmale zu bestimmen: Sofern es einen stimmigen Begriff des Absoluten gibt, existiert dieses auch. Das führt Hindrichs zu dem Argument, das seit Kant der ontologische Gottesbeweis genannt wird und der als geschlossener Gedankengang erstmals von Anselm von Canterbury formuliert worden ist. Er hebt mit der Prämisse an:

 

Gott = Def. das, über dem nichts Größeres gedacht werden kann. Hinrichs rekonstruiert ihn nun mit den Gedankenschritten:

 

1.)  Jemand denkt, Gott existiert nicht.

2.)  Dieser jemand denkt: Das, worüber nichts Größeres gedacht werden kann, existiert nicht.

3.)  Was gedacht wird, ist im Verstand dessen, der es denkt.

4.)  Im Verstand dessen, der  denkt, dass das, worüber nichts Größeres gedacht werden kann, nicht existiert, ist das, worüber nichts Größeres gedacht werden kann.

5.)  Von dem, was man denkt, kann man auch denken, dass es in Wirklichkeit existiert.

6.)  Wer denkt, dass das, worüber nichts Größeres gedacht werden kann, nicht existiert, kann auch denken, dass was, worüber nichts Größeres gedacht werden kann, in Wirklichkeit existiert.

7.)  Wenn das, was man denkt, in Wirklichkeit existiert, ist es größer, als                wenn es nur im Verstand wäre.

8.)  Wer denkt, dass das, worüber nichts Größeres gedacht werden kann, nicht existiert, kann sich etwas Größeres denken als das, worüber nichts Größeres gedacht werden kann.

9.)  Wer sich etwas Größeres denken kann als das, worüber nichts Größeres gedacht werden kann, denkt, dass das, worüber nichts Größeres gedacht werden kann, etwas ist, worüber Größeres gedacht werden kann.

     10.) Wer denkt, dass das, worüber nichts

Größeres gedacht werden kann, nicht existiert, denkt, dass das, worüber nichts Größeres gedacht werden kann, etwas ist, worüber Größeres gedacht werden kann.

11.)                    Das Gegenteil eines widersprüchlichen Gedankens ist wahr.

Also: Das, worüber nichts Größeres gedacht werden kann, existiert, = Gott existiert.

 

Bedrohlich für Anselms Argumentation könnte es ab der 7. Prämisse werden. Denn indem diese festlegt, dass das, was man denkt, größer sei, wenn es in Wirklichkeit existiere, als wenn es nur im Verstand wäre, unterstellt sie eine Seinshierarchie von „im Verstand sein“ und „in Wirklichkeit sein“. In Wirklichkeit ist die Prämisse Hindrichs zufolge unabhängig von ontologischen Großtheorien, wir müssen sie als eine Aussage über ein und dasselbe Seiende auffassen. Wichtig ist es zu sehen, dass durch die Bestimmung des Seienden als Wirkliches nicht beansprucht wird, den Bereich des Denkens verlassen zu haben; wir müssen, um die siebte Prämisse zu verstehen, nicht über den Bereich des Denkens hinausgehen. Es reicht, wenn wir einsehen, dass die gedachte Washeit einer Sache dann, wenn wir ihr auch wirkliche Existenz zuschreiben, größer ist, als wenn wir diese Zuschreibung unterließen.

 

Die Absicht des ontologischen Argumentes ist es, den Widersinn der Leugnung der göttlichen Existenz offenkundig zu machen. Die Lösung des Problems erfolgt auf einer semantischen Ebene. Sie, und nicht eine ontologische Grundannahme, ist die eigentliche


Voraussetzung des Gottesbeweises Anselms. Wenn man nun über Gott auf der semantischen Ebene nachdenkt, dann kann man ihn auf keinen Fall als nichtexistierend denken, das hat das Argument erwiesen. Wenn man aber nur den Laut „Gott“ denkt, dann kann man Gottes Existenz sehr wohl bestreiten.

 

Mit Hilfe der Unterscheidung zwischen vox und res hat Anselm den Rechtsstreit um die Existenz Gottes auf einen Streit um den Sinn des Ausdrucks „Gott“ zurückgeführt. Wer um den Sinn dieses Ausdrucks weiß, wird nicht auf den Gedanken kommen, Gottes    Existenz zu bestreiten, sofern er sinnvolle Sätze bilden möchte. Wer hingegen den Sinn des Ausdrucks „Gott“ gar nicht oder zumindest nicht richtig nachspürt, wird dazu geführt, aufrichtig, aber töricht Gott als nichtexistierend zu begreifen und muss also erst widerlegt werden.

 

Gaunilo von Marmoutiers hat dargelegt, dass man die res des von Anselm gebildeten Gottesbegriffs – „das, über dem nichts Größeres gedacht werden kann“ – gar nicht kennen kann. Um diese Unerkennbarkeit dessen,     über dem nichts Größeres gedacht werden kann, zu zeigen, verweist er darauf, dass man eine Sache auf zwei Wegen kennen kann: Einmal mittels direkter Kenntnis, das andere Mal mittels ihrer indirekten begrifflichen Erschließung über Gattung und Artunterschied. Von dem, über dem nichts Größeres gedacht werden kann, haben wir aber weder eine direkte Kenntnis, noch können wir es über Gattungen und deren Arten erschließen. Deshalb sei der Ausgangspunkt von Anselms Argument unhaltbar. Dieses Argument trifft so genau, dass Anselm in seiner Verteidigung erst schwankt und dann eine geniale Verteidigung aufbaut. Sie verzichtet auf die Einführung metaphysischer Großtheorien und basiert auf dem kühnen Gedanken, dass man das, über dem nichts Größeres gedacht werden kann, gar nicht zu kennen brauche, um es im Verstand zu haben. Man muss nur verstehen, was dieser Ausdruck beschreibt. Für Hindrichs besteht die Genialität dieser Verteidigung darin, dass sie die semantische   Eigenart des Ausdrucks „das, über dem nichts Größeres gedacht werden kann“, gegen Gaunilos Einwand aufbietet.

Das Besondere der Kennzeichnung Gottes besteht also darin, dass man die Behauptung, kein Seiendes erfülle diese Beschreibung, nicht widerspruchsfrei vertreten kann. Anselms Gedanke ist demnach der: Die Eigenschaft, etwas zu sein, über dem Größeres nicht gedacht werden kann, ist eine Eigenschaft, die man nicht ohne wirklich existierenden Träger zu denken vermag. Die Kühnheit des Arguments liegt darin, dass es sich aufgrund negativer Kennzeichnungen vollzieht. Indem Anselm zu denken wagt, dass man das, über dem Größeres nicht gedacht werden kann, nicht zu kennen braucht, um dennoch zu verstehen, was sein Begriff beschreibt – nämlich etwas, über dem nichts Größeres gedacht werden kann –, indem er also zu denken wagt, dass man Gott nicht nur nicht zu erkennen, sondern in gar keiner Weise zu kennen braucht, hat er dessen notwendige Existenz bewiesen.

 

Descartes hat den Beweis aus semantischen Gründen angefochten. Er hat den Verdacht, die Semantik des Gottesbegriffes sei so beschaffen, dass dieser Begriff die Vorstellung von einer Sache, die nur in unserem Verstand existiere, also einen bloßen Namen, darstelle. Soll das ontologische Argument richtig sein, muss gezeigt werden, dass unser Begriff von Gott, aus dem wir dessen Existenz folgern, nicht bloß nominell, sondern tatsächlich eine Wesenheit beschreibt. Sonst hätten wir zwar eine stimmige Schlussfolgerung, aber keine Gewissheit darüber, dass diese Schlussfolgerung mehr ist als der Schluss auf einen Sachverhalt, der bloß eine Anordnung von Namen ist und nicht eine Anordnung von Sachen darstellt. Descartes kommt zu dem Schluss: „Weil aus der Idee Gottes seine Existenz folgt, kann diese Idee nicht erdichtet sein.“ Denn weil die Existenz Gottes aus seiner     Idee folgt, lässt sich diese Idee nicht weiter zerlegen und ist also legitim.

 

Spinoza hebt den offensichtlichen Fehler, der dem cartesischen Argument anheftet, auf. Er legt die höchste Macht als den Gesamtzusammenhang alles Seienden aus. Damit verfügt diese auch über die eigene Existenz, und der Verwirklichung ihres Wesens vermag nichts mehr entgegenstehen. Wenn der Gesamtzusammenhang begriffen wird, dann wird auch begriffen, dass er notwendigerweise besteht. Um allerdings das Wesen des Gesamtzusammenhangs zu begreifen, muss man einen Begriff entwickeln, der über hinreichend deskriptive Kraft verfügt, so dass man versteht,  worin das Wesen dieses Gesamtzusammenhangs besteht. Spinoza begreift ihn unter den Attributen des Denkens und der Ausdehnung. Allerdings bleibt dieser Gesamtzusammenhang beschränkt auf die wirkliche Welt.

 

Es ist Leibniz, der ihn modal auf alle möglichen Welten erweitert. Gott impliziert alle möglichen Welten, und die Gesamtheit der möglichen Welten stellt für Leibniz nicht anderes als die Explikation Gottes dar.

Der Satz „Gott existiert nicht“ ist nur dann wahr, wenn Gott etwas Unmögliches ist. Sofern also die Möglichkeit Gottes nachgewiesen wird, ist die Falschheit des Satzes „Gott existiert nicht“ erwiesen und mit ihr die Wahrheit des Satzes „Gott existiert“. Damit etwas möglich ist, hat es zwei Bedingungen zu erfüllen: Es muss widerspruchsfrei sein, und es muss einen Grund besitzen. Als Gesamtzusammenhang alles Möglichen begriffen erfüllt Gott demnach die Bedingungen für seine Möglichkeit. Daher ist der Begriff Gottes als der Gesamtzusammenhang dessen, was möglich ist, eine vernünftige Konzeption und kein bloßer Name. Als solch möglicher Gott ist Gott aber auch wirklich.

 

Damit hat das ontologische Argument zu dem Begriff des Absoluten geführt. Es ist der Gesamtzusammenhang alles Möglichen, der logische Raum, der den Begriff des Absoluten erfüllt. Die Antwort auf die Frage nach dem Absoluten lautet: Das sich selbst bestimmende Seiende ist der als Grund seiner selbst begriffene logische Raum. Er ist das gesuchte notwendigerweise Seiende, oder in der traditionellen Sprache: Er ist Gott.  Und Leibniz’ Argument zeigt noch ein weiteres: Indem der logische Raum das Absolute darstellt, vermag alles Seiende letztbegründet zu werden.

 

Kants Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises hat ein fast ebenso übles Schicksal erlitten wie der Beweis selber. So wie man meint, den Beweis leicht erledigen zu können, so meint man häufig, Kants Widerlegung des Beweises auf das Totschlagargument „Sein ist kein reales Prädikat“ reduzieren zu dürfen. Das Beispiel von dem Unterschied der hundert gedachten Taler zu den hundert wirklichen Talern ist dann schnell zur Hand. In Wahrheit leistet Kants Satz „Sein ist kein reales Prädikat“ nicht die Widerlegung des ontologischen Beweises, sondern ist ihre Folge.

Das reduzierte Kantische Argument wird ungefähr so dargestellt: Der ontologische Beweis arbeite mit einem Begriff, der die Exi­stenz des Begriffenen als eines seiner Merkmale enthalte; die Existenz des Begriffenen könne aber kein Merkmal seines Begriffes darstellen, da Existenz etwas sei, das zu dem vollständigen Begriff einer Sache komplementär hinzutrete oder nicht hinzutrete, nicht aber den Begriff selber erweitere („Sein ist kein reales Prädikat“); also sei das ontologische Argument gescheitert.

 

Für Hindrichs leidet dieser reduzierte Einwand daran, dass er seine zweite Prämisse – also den angeblichen Höhepunkt, „Sein ist kein reales Prädikat“ – gegen den Begriff des notwendigerweise Seienden nicht eigens verteidigt.

Wenn man aber die Auffassung vertritt, dass Existenz etwas sei, das als ein Komplement zu dem vollständigen Begriff einer Sache hinzutrete oder nicht hinzutrete, dann hat man diese Auffassung gegen den Begriff des notwendig Seienden erst einmal zu verteidigen. Man muss zeigen, dass der Begriff einer notwendigen Sache eine Untiefe birgt und erst dann kann man auf die Angemessenheit der Auffassung schließen, dass Sein kein reales Prädikat darstelle.

 

Genau diesen Weg hat Kant genommen. Er zeigt, dass der ontologische Gottesbegriff vom Inbegriff aller Möglichkeiten ausgeht, den er als das notwendigerweise Seiende deutet. Er legt dar, dass wir von diesem Inbegriff aller Realität keine Erfahrung haben können, da jede unserer Erfahrungen eine beschränkte Erfahrung darstellt und die Gesamtheit aller möglichen Bestimmungen nicht zu erreichen vermag. Da nun in Kants Augen alle unsere Urteile sich auf eine mögliche Erfahrung beziehen lassen müssen, um entscheidbare Urteile zu sein, ist der Kernbegriff des Beweises ein Begriff, der nur in unentscheidbaren Urteilen verwendet werden kann. Folglich kann er auch sein Ziel, die   Existenz Gottes zu entscheiden, nicht beweisen: Die Wahrheit des Urteils „Gott existiert“ kann nicht entschieden werden. Auf der Grundlage dieser Überlegung, freilich auch erst auf ihr, schließt Kant, dass Sein kein reales Prädikat sei. Das heißt: die Existenz einer Sache ist kein „reales“, sondern nur ein logisches Prädikat.

 

Gott stellte im ontologischen Argument als die Gesamtheit aller möglichen Bestimmungen das notwendigerweise Seiende dar. Nach Kants Widerlegung aber kann der Begriff Gottes nur in Urteilen ohne objektive Gültigkeit verwendet werden. Diese Urteile können keinen Anspruch auf Wahrheit oder Falschheit erheben, weil sie keinen Anspruch auf einen Gegenstandsbezug erheben können. Sie bleiben daher sinnvoll, aber unentscheidbar. Der ontologische Gottesbeweis erweist sich bei Kant zugleich als begründet und illegitim. Und die Geschichte des ontologischen Gottesbeweises ist im Grunde mit Kant abgeschlossen.

 

Gleichzeitig kann das ontologische Argument erst jetzt, wo es zermalmt wird, begriffen werden. Wir können erst jetzt den Begriff des Absoluten verstehen. In Kants Kritik des ontologischen Beweises erhält der Begriff des Absoluten seine wahre Bestimmung: Das Absolute denken heißt dessen begründende Widerlegung denken.

 

Wenn im Rahmen des Deutschen Idealismus der ontologische Beweis wieder aufgenommen werden sollte, so konnte dies nur durch eine Überbietung der Kantischen Überlegung geschehen. Hinrichs zufolge musste der Grund des Weges zum Absoluten, den die Kantische Kritik aufzeigt, aus sich heraus so umgedeutet werden, dass sich von ihm aus die Zermalmung des Beweises zurücknehmen lässt. Eine solche Umdeutung muss das Schlussverfahren von einem Bedingten auf die Gesamtheit aller Bedingungen in ein Verfahren überführen, das schließlich noch seine eigenen Bedingungen einzuholen und daher selber als unbedingt dazustehen vermag. Sie muss die Reflexion des Begriffsgebrauches so weit vorantreiben, dass es ihr gelingt, im Vollzug der Reflexion noch ihre eigenen Bedingungen aufzuheben. In anderen Worten: Die Reflexion muss absolut werden. Hindrichs sieht in Hegels Rehabilitation des ontologischen Gottesbeweises die Durchführung dieses Unternehmens.

 

Der ontologische Beweis besteht nun darin, die Existenz als ein Moment Gottes und Gott als ohne dieses Moment nicht begreifbar zu verstehen. Der ontologische Beweis ist nun nicht mehr das Verfahren, den Begriff Gottes und dessen Existenz durch eine Folge von Urteilen zusammenzuschweißen. Er ist vielmehr die Einsicht, dass Begriff und Existenz nur scheinbar unterschieden sind, während sie in Wahrheit innerlich, und nicht durch  einen äußeren Vorgang, verbunden sind. Der spekulative Satz „Gott existiert“ sagt diese Einheit von Begriff und Objektivität in der Idee Gottes aus. Diese Idee benennt keinen Sachverhalt der Form „etwas ist soundso“, sondern die innere Einheit des Subjekts „Gott“ und des Prädikats „existieren“. Die Wahrheit des ontologischen Beweises besteht somit nicht in der Folgerung auf das wahre Urteil „Gott existiert“. Sie besteht in der stillschweigenden Erhebung des Begriffes von Gott zu seiner Idee.