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STELLUNGNAHMEN

Welche Integration darf der Staat verlangen?

Welche Integration darf

der Staat verlangen?

Antworten von Werner Becker, Heiner Bielefeldt und

Claus Leggewie

 

 


Hat der Staat gegenüber verschiedenen Wertvorstellungen neutral zu sein, sofern diese nicht mit einzelnen Gesetzen kollidieren oder soll er die Integration politisch in den Vordergrund stellen? Wie weit darf er dabei gehen?

 

Claus Leggewie: Dazu gibt es weltweit, aber auch in der westlichen Tradition ganz unterschiedliche Auffassungen. Am höchsten gezogen wird die Trennmauer zwischen Politik und Religion, die dem Staat strikte Neutralität auferlegt, in der US-amerikanischen Verfassung; auf anderen Wege erreicht das auch die französische laicité, die – ganz anders als in Amerika, wo alle möglichen Religionen im öffentlichem Raum präsent sind – Religion zur vollständigen Privatsache erklärt. In beiden Fällen gibt es keine spezielle religiöse Unterweisung in öffentlichen Schulen, wie das in Mischsystemen wie in Deutschland der Fall ist, wo auf dem Gebiet der Sozial- und Bildungspolitik, vermittelt über das Subsidiaritätsprinzip, eine enge Symbiose zwischen christlichen Kirchen und Staat besteht.

 

Ob diese Symbiose oder eher strikte Neutralität der Integration mehr dient, kann nicht per se gesagt werden. Auch die benevolente Förderung des religiösen Pluralismus kann integrative Wirkungen zeitigen, sofern die jeweiligen Religionsgemeinschaften offen zur pluralistischen Gesellschaft stehen und Toleranz gegenüber Andersgläubigen üben. Das kontinentaleuropäische Modell, das in Erfahrung mörderischer Religionskriege im Westfälischen Frieden kodifiziert wurde, erhofft Integration vom staatlichen Gewaltmonopol; das amerikanische Modell, dem Streben von Religionsflüchtlingen und Einwanderern nach freier Ausübung ihrer Bekenntnisse entsprungen, setzt eher auf dem friedlichen Wettbewerb, der auch Missionierung und Konversion schätzt. Beide Modelle, die in reiner Form nirgendwo verwirklicht sind, haben Vor- und Nachteile. Bezogen auf die aktuelle Fokussierung, die als problematisch wahrgenommene Integration von Muslimen, zeigt sich, dass die aus sozialen Reproduk­tions- und Aufstiegsprozessen verdrängten Muslime in Europa eher zur Bildung so genannter „Parallelgesellschaften“ und zur Ablehnung von liberalen Verfassungen und Gesetzen neigen, eben weil sie sich vom „Staat“ nicht anerkannt oder diskriminiert fühlen. Andererseits verstoßen in den USA „glaubensbasierte Initiativen“ oft auch gegen das Trennungsgebot, und es herrscht dort eine Wettbewerbsverzerrung zugunsten der christlichen Gruppen.

 

Heiner Bielefeldt: Das Neutralitätsprinzip, auf das sich z.B. das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung regelmäßig bezieht, konzentriert sich auf Religionen und Weltanschauungen: Als Konsequenz der Religionsfreiheit – die als ein universales Menschenrecht diskriminierungsfrei zu gewährleisten ist – soll sich der freiheitliche Rechtsstaat in Fragen religiöser und weltanschaulicher Orientierung „neutral“ verhalten; er darf sich jedenfalls nicht mit einer Religion auf Kosten der Angehörigen anderer Religionen oder Weltanschauungen identifizieren.

 

In diesem engeren Sinne versteht das Bundesverfassungsgericht das Neutralitätsprinzip. Man mag seine Zweifel habe, ob es in der Praxis jemals konsequent eingelöst werden kann. Als ein Fairnessprinzip für den staatlichen Umgang mit religiösem Pluralismus scheint mir der Anspruch der religiös-weltanschaulichen Neutralität dennoch unaufgebbar zu sein.

 

Unter einer darüber hinaus gehenden generellen „Wertneutralität“ des Staates kann ich mir hingegen nichts Sinnvolles und vor allem nichts Praktikables vorstellen. Auch beim Fairness-Gedanken, der dem Neutralitätsprinzip zugrunde liegt, oder bei Menschenrechten wie der Religionsfreiheit handelt es sich ja, wenn man so will, um Verfassungs-„Werte“. An ihnen ist auch der politische Integrationsprozess zu messen, der in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht auf erzwungene Assimilation hinauslaufen darf.

 

Werner Becker: Es liegt auf der Hand, dass die Bürger einer freiheitlichen Demokratie sich zu unterschiedlichen, ja, gegensätzlichen Wertvorstellungen bekennen dürfen, sofern darunter politische und religiöse Überzeugungen sowie Lebensstile verstanden werden. Und genauso selbstverständlich hat der Staat die Aufgabe, die Gesetzeskonformität all jener Organisationen und Gruppen zu gewährleisten, in denen Weltanschauungs- und Glaubensüberzeugungen zum Ausdruck kommen. Hier aber hat der Pluralismus das letzte Wort, weshalb es für den Staat auch nichts zu integrieren gibt.

 

Dennoch müssen die Religionsgemeinschaften, die die gesellschaftlich stärksten und einflussreichsten Weltanschauungen bei uns sind, eine für ihre Koexistenz in der Demokratie ausschlaggebende historische Voraussetzung erfüllen: das ist ihre Konfessionalisierung. Die  Erinnerung an die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts verweist auf die immensen gesellschaftlichen Kosten, die die europäische Menschheit  für die Konfessionalisierung der christlichen Kirchen zu erbringen hatte. Heute aber ist, Gott sei Dank, klar, dass sich die Kirchen, die dann bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein immer noch entweder katholische oder protestantische Staatskirchen waren, mit ihrem heutigen Status im konfessionellen Pluralismus abgefunden haben, ein Umstand, der als ihr wichtigster Beitrag zur Stabilität unserer Demokratie zu werten ist. Seit der Nachkriegszeit  schließt jener Pluralismus auch wieder die Juden mit ein, sowie als jüngste konfessionelle Mitglieder unterschiedliche Strömungen des Islam.

 

Dem freiheitlichen Verfassungsprinzip widersprich jedoch, dass unser Staat, die        Ökumene als Deckmantel nutzend, den Quasi-Staatskirchenstatus der christlichen Kirchen noch immer honoriert. So erwecken die Staatsführungen des Bundes und der Länder, beispielsweise bei den jährlichen Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit, durch ihr geschlossenes Auftreten bei  ökumenischen Gottesdienstenden den Eindruck, Deutschland sei ein Land mit christlichen Konfessionen als ökumenischer Staatskirchen. Dass sie auch moslemische, jüdische, ja, sogar atheistisch eingestellte Bürger zu repräsentieren haben, kommt Staatsfrauen und Staatsmännern nicht in den Sinn. Im Hinblick auf solch systematische Gedankenlosigkeit hätten wir noch viel von den diesbezüglichen Verhältnissen, wie sie in den Vereinigten Staaten von Amerika zwischen Staat und den Konfessionen herrschen, zu lernen.

 

Was die grundlegende Bedingung der Konfessionalisierung anlangt, sollte unser Staat allerdings bei Einwanderern wählerischer darauf achten, dass diese möglichst keine fundamentalistischen Überzeugungen importieren, Überzeugungen, wie sie in einigen moslemischen Ländern der arabischen Welt verbreitet sind. Zugleich aber soll man sich gegen eine unterschiedlose Brandmarkung von Bekennern des Islams durch den Fundamentalismusverdacht wenden. Ist doch gerade der Islam, als Religion ohne Priestertum, unter theologischem Gesichtspunkt durchaus offen für das westliche Konfes­sionsverständnis, offener als etwa der Katholizismus, der sich als universalistische Priesterkirche mit der Einfügung in die pluralistische Konfessionalisierung der freiheitlichen Demokratie in der Geschichte der Neuzeit äußerst schwer tat.

 

Wenn man von Integration spricht, in was soll integriert werden: In eine deutsche Leitkultur? In die Grundwerte unserer Verfassung? Oder soll eine multikulturelle Gesellschaft angestrebt werden?

 

Werner Becker: Ich bevorzuge den Ausdruck der „dominanten Kultur“. Der vom Politologen Bassam Tibi stammende Terminus „Leitkultur“ lässt sich, wie derjenige des „Leitbildes“, so verstehen, als könne durch die Politik darüber verfügt werden: einmal die, dann vielleicht mal jene Kultur als Leitkultur. Die dominante Kultur aber ist eine Gegebenheit, ein geschichtlich gewordenes Faktum. In diesem Sinn ist Deutschland – nicht anders als Frankreich, Italien und die meisten europäischen Länder –, aber  anders als etwa die USA, die spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine – wenn auch   europäisch beschränkte – multikulturelle Tradition besitzen, ein Land mit einer historisch gewachsenen dominanten Kultur. Nationale Kulturen dieser Art werden durch die Grenzen ihrer Sprachen definiert. Dass der deutsche Sprachkreis kulturell größer ist als derjenige der Bundesrepublik als Nationalstaat, nämlich die Deutschschweiz und Österreich mit umfasst, ändert nichts am Tatbestand.

 

Zwar ist das Plädoyer für Integration durch Grundwerte unter Politikern populär. Dennoch bringt es nichts, bilden die Verfassungsgrundwerte, in der überwiegenden Zahl individuelle Freiheitswerte, doch eher die Basis für plural-desintegratives Verhalten der Einzelnen als für ein integratives. Was die Mittel und Möglichkeiten zur Integration von Einwanderern in die deutsche Kultur angeht, so ist die staatliche Regelschule der hierfür geeignete Ort. Das Hauptaugenmerk muss, wie gesagt,  auf dem Erlernen der deutschen Sprache liegen, und das mit dem Kindergarten beginnend. Nur so können Einwandererfamilien ihre Fähigkeiten, diejenigen ihrer erwachsenen Mitglieder und vor allem die ihrer Kinder, für sich selbst und für die Gesellschaft nutzbar machen. Bezüglich der Akzeptanz der deutschen Dominanzkultur muss sowohl in der Bildungspolitik als auch in der Pädagogik der Unterschied zwischen nationaler und religiöser Kultur und Tradition allerdings klar und überzeugend herausgearbeitet und verdeutlicht werden: so ist etwa der Kalender, von der Jahres- bis zur Wochenaufteilung,  ebenso Bestandteil der nationalen – in diesem Fall gar westlich-europäischen – Kultur, wie es die „christlichen“ Feste und Feiertage – von Ostern bis Weihnachten – sind. Hingegen sollte man weder Kruzifixe in Schulzimmern und Gerichtssälen noch die Tracht von Nonnen – von Bayern vielleicht abgesehen – zur unserer nationalen Kultur rechnen.

 

Wenn staatlicherseits jedoch weiter zugelassen wird, dass die staatliche Schule, wie in vielen Großstädten, mit der Einwandererproblematik nicht fertig wird und in Folge davon sich der Bereich der Privatschulen vergrößert, geben wir das ausschlaggebende Mittel aus der Hand, das wir in Deutschland zum Zweck der Integration von Einwanderern besitzen. Im Augenblick geht es entscheidend um die Anhebung  der Qualität der staatlichen Schulen, damit dem die Gesellschaft spaltenden, desintegrativen Trend hin zur Aufsplitterung in „schlechte“ öffentliche und „gute“ private Kindergärten und Grundschulen entgegengewirkt wird. 

 

Dennoch stellt die Integration von Fremden in unsere westlichen Gesellschaften auch wiederum keine Einbahnstrasse dar. Von der Bereicherung der Restaurant- und Essenskultur bis hin zur türkischen Nachbarschaft und der eigenen Familie – überall ist „Multi-kulti“, mit uns, die alteingesessenen Einheimischen, verändernden Effekten, am Werk.

 

Claus Leggewie: Vermutlich sind beide Bindestrichbegriffe ungeeignet, weil sie     einem irrigen Verständnis von Kultur folgen. Leitkultur ist in liberalen Gesellschaften inakzeptabel, sofern sie die exklusive Geltung


und den Primat einer ethnischen Herkunft oder eines Bekenntnisses reklamiert. Sofern sie sich auf universale verfassungsmäßige Normen und Werte bezieht, ist sie eigentlich keine „Kultur“, sondern eine politisch-rechtliche Ordnungsvorstellung. Kultur kann man schwerlich solche Ordnungsleistungen abverlangen, sie ist besser mit „Un-Ord­nung“ beziehungsweise Infragestellung bestehender Ordnung und deren kreativer Weiterentwicklung zu verbinden.

 

Das Missverständnis eines „harten“ Multikulturbegriffs liegt in der Annahme, Kulturen seien statische und zu schützende Identitätsquellen, die aus der jeweiligen Kultur heraus wie eine Art Besitz hervorgehen. Kulturelle Entwicklung ist jedoch stets mit    „Übergriffen“ und Emulationen verbunden, also mit der Aneignung und Hybridisierung kultureller Versatzstücke verschiedener Provenienz. Postuliert die Leitkultur eine Art Generalvorschrift, verordnet Multikultur    eine Art Hausordnung. Beides erscheint     einem Kultursoziologen naiv, der eher davon ausgeht, interkulturelle Kontakte kämen zu jeder Zeit und an jedem Ort einer Gesellschaft zustande, weshalb die moderne Gesellschaft per se  „Interkultur“ ist.

 

Die Grundregeln einer Verfassung, die sicher stets den Einfluss bestimmter und distinkter Kulturtraditionen spiegeln, müssen diese normativen Grundlagen neutralisieren und bedecken, damit auch andere kulturelle Traditionen sich einfügen können. Verfassungen und Gesetze sind eher dazu da, dieser (sicher auch konflikthaften) Interaktion Regeln und Grenzen zu setzen und damit diese Interaktion friedlich bleibt. Eine multikulturelle Gesellschaft ist also idealerweise eine solche, deren Mitglieder nicht auf kulturelle Segregation bestehen; die jeweils freiwillig gewählten kulturellen Traditionen, in die sie hineingeboren und -sozialisiert worden sind, zu denen sie also privilegierte Beziehungen bewahren können, müssen die Option einer individuellen Emanzipation erlauben. „Weicher“ Multikulturalismus reklamiert somit eine gewisse Förderung kultureller Eigenheiten, darunter die Bewahrung von lokalen Gebräuchen, Herkunftssprachen, Kulturtechniken etc., er muss sich aber vor jeder Art von „Gruppismus“ hüten, der Individuen Gruppenzwängen unterwirft und ihnen namens einer „Kultur“ abweichendes Verhalten untersagt. Multikulturalismus ist also ein kommunitäres Prinzip, das liberal und individualistisch eingebettet sein muss.

 

Heiner Bielefeldt:  Es besteht weithin Konsens, dass Integration die Kenntnis der Landessprache und die gelebte Akzeptanz der zentralen Verfassungswerte beinhaltet. So weit, so klar. Diejenigen, die den Begriff der „Leitkultur“ im Munde führen, verbinden damit vielfach weitergehende Vorstellungen einer kulturellen Assimilation, die allerdings typischerweise im Unklaren bleiben. Abgesehen von der enormen semantischen Unschärfe der „Leitkultur“ hat sich dieser Be­griff in den letzten Jahren als Kampfbegriff gegen die multikulturelle Gesellschaft eta­bliert. Er hat in der Diskurspraxis faktisch eine autoritäre, antipluralistische Schlagseite angenommen. Ich halte diesen Begriff deshalb nicht für hilfreich.

 

Das Konzept der multikulturellen Gesellschaft möchte ich demgegenüber nicht aufgeben. Es bedarf allerdings der Präzisierung. Ich unterscheide zwischen kulturromantischen Vorstellungen, wonach die Bewahrung scheinbar „gewachsener“ kultureller Identität als Wert an sich gilt, und einem „aufgeklärten Multikulturalismus“, dessen normativen Ausgangspunkt die allgemeinen Menschen-


rechte bilden. Mit diesem zweiten Verständnis würde ich mich identifizieren.

 

Da die Menschenrechte auch eine Reihe kultureller Freiheitsrechte (beispielsweise die Religionsfreiheit) enthalten, wird eine moderne freiheitliche Gesellschaft, zumal unter Bedingungen weltweiter Migration, im Ergebnis immer auch eine multikulturelle bzw. multireligiöse Gesellschaft sein. Insofern gibt es einen positiven Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Multikulturalismus, der manchmal übersehen wird. Die Menschenrechte formulieren zugleich aber auch Grenzen möglicher Akzeptanz. Auch die Berufung auf Kultur oder Religion rechtfertigt nicht die Beibehaltung autoritärer und diskriminierender Praktiken, etwa die Unterdrückung von Mädchen und Frauen. Dies muss klar sein.

 

Wie hat der Staat sich denen gegenüber zu verhalten, die nicht nur eine Integration verweigern, sondern selbst Grundsätze der rechtsstaatlichen Verfassung ablehnen und deren Wertvorstellungen mit denen unserer Kultur nicht vereinbar sind?

 

Heiner Bielefeldt: Ich finde es wichtig, zwischen den Grundsätzen der rechtsstaatlichen Verfassung und sonstigen „Wertvorstellungen unserer Kultur“ begrifflich zu unterscheiden. Die Grundsätze unserer Verfassung sind vergleichsweise klar formuliert und für jeden Menschen nachlesbar. Was ansonsten unsere Kultur und deren Wertvorstellungen ausmacht, ist hingegen nirgends auch nur halbwegs klar definiert. Geht es dabei um christliche Nächstenliebe, deutsche Orthographie, Grimms Märchen, Bachs Mathäus-Passion, die Regeln des Skat-Spiels     oder den kategorischen Imperativ? Die Akzeptanz der Verfassungsordnung, die von allen hier lebenden Menschen zu Recht erwartet werden kann, sollte nicht mit einer verschwiemelten Leitkultur vermengt werden.

 

Die Ablehnung der Verfassungsordnung kann im Übrigen erst dann Anlass für staatliche Reaktionen und gegebenenfalls Sanktionen sein, wenn sie sich in konkreten Aktivitäten – in verfassungsfeindlichen Bestrebungen oder in der Verletzung von Rechtsnormen – offen manifestiert.  Gesinnungsschnüffelei verträgt sich mit dem Selbstverständnis eines freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaats nicht. Auch für ein pauschales Misstrauen gegenüber Teilen der Migra­tionsbevölkerung – etwa gegenüber Muslimen – gibt es keine Rechtfertigung

 

Werner Becker: Sofern aus ihnen „Praktiker der Revolution“ werden, hat der Staat mit ihnen, in Gestalt von Polizei und Gerichten, nicht anders zu verfahren als mit jedem x-be­liebigen Bürger der Bundesrepublik, der gegen Recht und Gesetz verstößt. Das gilt in erster Linie für Leute, die sich entweder im Ausland zu Terroristen ausbilden lassen oder sich hier bei uns im Untergrund als Bombenbastler betätigen. Albern finde ich hingegen Überlegungen, wie sie beispielsweise gerade in Großbritannien im Hinblick auf Konzes­sionen an fremdkulturelle Rechtssprechung erwogen werden, aber auch bei uns von einigen Wirrköpfen aus der Richterschaft schon in Urteile mit Rechtskraft umgegossen wurden. Denn bei aller Bereitschaft, folkloristische Toleranz gegenüber fremden Sitten und Gebräuchen zu üben, sollten weder die deutsche Rechtspolitik noch die Justiz irgend­einen Zweifel darüber aufkommen lassen, dass im legislativen Rahmen der Bundesrepublik allein nach deutschem Recht zu urteilen ist.

 

Claus Leggewie: Man muss sich damit abfinden, dass es in offenen und gut integrierten Gesellschaften Minderheiten gibt, die    überwiegend breit akzeptierte Regeln des Zusammenlebens nicht beachten und gegen sie alternative Ordnungsvorstellungen propagieren (wie z. B. die Geltung einer kreationistischen Schöpfungslehre oder einer radikal interpretierten Scharia). Es ist sogar der Vorzug und Stolz einer liberalen Gesellschaft, solche Haltungen zu tolerieren, d.h. ihnen Raum zu geben, auch wenn man sie ganz und nicht für richtig befindet. Ähnlich verhält es sich mit rechts- und linksradikalen Gegnern einer liberalen Verfassung, die sich z.B. für den Führungsanspruch einer Rasse


oder die Diktatur des Proletariats einsetzen, oder eben mit Fundamentalisten, die einen Gottesstaat auf Erden verwirklichen wollen. Gerade Religionen postulieren außerweltliche Prinzipien in einer Radikalität, die nicht kompromissfähig erscheint, sich faktisch aber doch dem kulturellen Pluralismus beugen muss. So müssen in Deutschland gläubige Christen damit leben, dass eine von ihnen vehement abgelehnte Praxis wie die Abtreibung nicht verfolgt wird. In vielen monotheistischen Religionen gilt Homosexualität als abnorm oder eine bestimmte Verhütungspraxis als Sünde. Das kann den gesellschaftlichen Frieden stören, aber die Grenze, wo solche Auffassungen nicht mehr toleriert werden können, liegt erst dort, wo das radikal auszulegende und zu verteidigende Recht auf freie Meinungsäußerung andere Grundrechte (und die Grundrechte Anderer) einschränkt und erst recht, wo Intoleranz in Freiheitsbeschränkung oder physische Gewalt umschlägt. Eine interessante Frage in dem Zusammenhang ist, wenn ja der Staat solche Übergriffe sanktionieren darf, ob er womöglich auch die Beleidigung religiöser Bekenntnisse als Blasphemiedelikt unter Strafe stellen soll, weil sie den gesellschaftlichen Frieden stören könnten. Dient das der Integration mehr als die strittige Austragung einer Meinungsverschiedenheit über Bekenntnisse und Weltanschauungen? Konfliktheoretisch würde man annehmen, dass sich Gesellschaften wesentlich über kulturelle Konflikte integrieren, aber konsenstheoretisch dagegenhalten, dass erst ein gewisser Grundkonsens die Möglichkeit zur produktiven Konfliktbearbeitung schafft.

 

Werner Becker war ab 1987 Professor für Philosophie an der Universität Gießen. Er ist am 21. Juli verstorben. Heiner Bielefeldt ist Inhaber des Lehrstuhls  für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Universität Erlangen-Nürnberg.  Claus Leggewie ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen und seit 1997 Leiter des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen (KWI).