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01 2014

Georg Lohmann:
Ethik der radikalen Endlichkeit

aus Heft 1/2014, S. 5-11

In jüngster Zeit haben besonders Hans Jonas und Albrecht Wellmer versucht, die Endlichkeit des Menschen als positiven Ermöglichungsgrund seiner besseren Möglichkeiten zu sehen. Diese Positionen „radikaler Endlichkeit“ sehen die Endlichkeit des Menschen nicht mehr als Mangel, die in einer absoluten Konzeption zu beheben wäre, auch nicht mehr nur als Beschränkung, die erst durch ein transzendentales oder ideales Absolutes aufzuheben ist, sondern sie sehen Endlichkeit als ermöglichende Bedingung menschlicher Leistungen und Ansprüche, also von Wahrheit, Wissen, gutem Leben, sprachlicher Verständigung, Gerechtigkeit und Moral.


„Endliche“ Moral als Unparteilichkeitsmoral

Methodisch entscheidend für eine radikal endliche Deutung der Moral ist, dass es keinen der moralischen Praxis externen Standpunkt gibt. Methodisch erfindet der Moralphilosoph nicht eine moralische Praxis, sondern er findet eine vor und versucht, sie von innen heraus zu rekonstruieren und zu bestimmen. Er beginnt daher immer mit einem gewissen, ihm gegebenen Vorverständnis und Vorurteil über das moralisch Richtige und Gute. Methodisch folgt er daher dem hermeneutischen Ansatz, wie ihn insbesondere Gadamer entwickelt hat. Das muss ihn freilich nicht dazu bringen, das jeweils Vorgefundene als das letztlich Richtige und Gute anzusehen. Die Position der radikalen Endlichkeit ist nicht relativistisch in dem Sinne, dass sie es bei dem jeweils gegebenen Vorurteil belässt, oder dass sie das zu dem einen Zeitpunkt Einsichtige den Überzeugungen zu einem anderen Zeitpunkt gleichsetzt.

Zur vorgefundenen moralischen Praxis gehört auch ein Begründungsanspruch, in Bezug auf den das jeweils Gute für richtig erachtete wird, und es ist dieser Begründungsanspruch des moralisch Guten, der ein gegebenes und anfängliches Urteil einem entrelativierenden und in diesem Sinne objektivierenden Anspruch aussetzt und eine gegebene Moralauffassung transzendiert. Für die Einlösung dieses objektivierenden Anspruchs hat die Position der radikalen Endlichkeit nur keinen transzendenten Bezugspunkt mehr. Absolute Auffassungen, als Perspektiven von nirgendwo her, die ein radikales Jenseits unterstellen und von denen aus ein Ganzes einer Lebensform begrifflich erfasst und begründungsmäßig überprüft werden könnte, erscheinen nicht (mehr) möglich. Traditionell ausgesprochen: es gibt methodisch keinen Gottesstandpunkt mehr, von dem das moralisch Gute und Richtige bestimmt werden könnte.

Vertikale und horizontale Begründungsmodelle

Das bedeutet freilich nicht, dass Auffassungen des moralisch Richtigen und Begründeten, die uns heute einleuchten, nicht historisch aus transzendenten Konzeptionen entstanden sind. Der absolute Begründungsanspruch, dem wir semantisch mit dem moralisch Guten verbinden, bleibt, auch wenn er nicht mehr mit einer absoluten Konzeption eingelöst werden kann. In einem gewissen Sinne überfordern wir uns daher, wenn wir den absolut verstandenen Anspruch, eine moralische Überzeugung zu begründen, einlösen wollen. Diese begründungsmäßige Überforderung, die den Bedeutungen unserer moralischen Urteile noch anhaftet, formulieren wir als idealisierende Ansprüche. Jede konkrete Einlösung eines Begründungsanspruches steht danach unter dem Vorbehalt, auch unter idealisierten Bedingungen einlösbar zu sein. Der Unterschied einer Position der radikalen Endlichkeit zu einer absoluten Position ist freilich einer ums Ganze: Während absolute Positionen der Einlösbarkeit von Begründungsansprüchen behaupten müssen, sie hätten eine absolute, d. h. nicht relative Konzeption des moralischen Guten und Richtigem, die nicht von der argumentativen Zustimmung oder Zustimmungsfähigkeit der einzelnen endlichen Menschen abhängt, behauptet die radikal endliche Auffassung etwas Bescheideneres. Sie beansprucht mit der Einlösung eines Objektivitätsanspruches nur, dass alle endlichen Menschen einer Überzeugung mit Gründen zustimmen können, sie aber darin nicht ein endgültiges Urteil sehen, sondern ein fallibles, und sie sich daher explizit offenhalten für mögliche zukünftige bessere begründete Korrekturen. Während also die absolute Position ein vertikales Rechtfertigungsmodell unterstellt, das von der Position eines Absoluten und in diesem Sinne Unendlichen das moralisch Gute für die endlichen Menschen bestimmt, belässt die Position der radikalen Endlichkeit die Einlösung eines semantisch absoluten Begründungsanspruches einem horizontalen Begründungsverfahren zwischen jeweils endlichen Menschen, das freilich prinzipiell nie abgeschlossen sein kann und daher zeitlich und sachlich durch ein mögliches „immer weiter“ charakterisiert ist.

Warum soll dieses horizontale Verfahren besser sein als das absolute vertikale Modell? Auf diese Frage gibt es eine ganze Reihe von Antworten; ich begnüge mich hier mit einigen Hinweisen.
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