PhilosophiePhilosophie

01 2014

Richard Schantz:
Wahrnehmung und Erkenntnis

aus Heft 1/2014, S. 12-18

Der größte Teil unserer Überzeugungen und unseres Wissens beruht auf der sinnlichen Wahrnehmung. Ich mag gerechtfertigt sein zu glauben, dass dort ein Sofa steht, weil ich es sehe, und dass Zucker in meinem Tee ist, weil ich ihn schmecke. Und ganz ähnlich verhält es sich mit den anderen sinnlichen Modalitäten. Es nimmt deshalb nicht wunder, dass der Empirismus lange Zeit die erkenntnistheoretische Diskussion beherrschte und dass sich die Philosophen seit vielen Jahrhunderten bemühen, die eigentümliche Rolle der sinnlichen Erfahrung im Erwerb von Wissen und in der epistemischen Rechtfertigung zu klären.

Historisch gesehen lieferte die Sinnesdatentheorie die populärste Analyse der sinnlichen Wahrnehmung und Erfahrung. Ihre zentrale These lautet, dass die direkten Gegenstände des Bewusstseins in der sinnlichen Wahrnehmung niemals äußere, physische Gegenstände, sondern immer nur eine besondere Art nichtphysischer oder mentaler Objekte sind, Objekte, für die charakteristisch ist, dass sie dann und nur dann existieren, wenn sie wahrgenommen werden: Descartes’ und Lockes „Vorstellungen“, Berkeleys und Humes „Sinneseindrücke“, John Stuart Mills und Ernst Machs „Empfindungen“ oder Bertrand Russells und G. E. Moores „Sinnesdaten“.

Die Sinnesdatentheorie ist vor allem im zwanzigsten Jahrhundert heftig unter Beschuss geraten. Ihre Widersacher weisen insbesondere auf ihre erkenntnistheoretisch verheerenden Konsequenzen hin. Sobald ihre zentrale These, dass die direkten Gegenstände des Bewusstseins in der Wahrnehmung immer Sinnesdaten, nie aber äußere, physische Gegenstände sind, einmal akzeptiert wird, sind im wesentlichen nur noch zwei Theorien der Wahrnehmung und der Außenwelt möglich: der Repräsentationale oder Indirekte Realismus und der Phänomenalismus.

Die Verfechter des Repräsentationalen Realismus, dessen prominentester und einflussreichster Fürsprecher, historisch gesehen, sicherlich John Locke ist, bestreiten gewöhnlich nicht, dass wir äußere, physische Gegenstände wahrnehmen – Gegenstände, deren Existenz und Natur unabhängig davon ist, dass wir sie wahrnehmen. Aber wir nehmen diese Gegenstände nur indirekt wahr, mittels der direkten Wahrnehmung der phänomenalen Erscheinungen, die sie infolge einer kausalen Interaktion in unserem Bewusstsein hervorrufen. Unser gesamtes Wissen von der objektiven Realität, selbst das, was wir gewöhnlich für direktes Wahrnehmungswissen halten, beruht auf dem noch direkteren Wissen von Sinnesdaten.

Aber wenn wir immer nur Sinnesdaten, nie aber die physischen Gegenstände und Ereignisse in unserer Umgebung direkt wahrnehmen können, dann stellt sich natürlich geradezu zwangsläufig die Frage, wie wir wissen können, welche Eigenschaften physische Gegenstände haben, ja, wie wir sicher sein können, dass sie überhaupt existieren. Die Sinnesdaten fungieren diesem Einwand zufolge als ein Schleier, der unseren perzeptiven und kognitiven Zugang zur Außenwelt blockiert. Die Sinnesdatentheorie reißt eine logische Kluft zwischen inneren Objekten, den Sinnesdaten, und der äußeren, physischen Realität auf, eine Kluft, die weder durch deduktive noch durch induktive oder abduktive Schlüsse jemals überbrückt werden kann. Wir sind gewissermaßen in der Welt unserer Sinnesdaten eingesperrt. Kein triftiges Argument, sondern allenfalls eine Form von Magie vermag uns von der hellen auf die dunkle Seite des Schleiers der Wahrnehmung zu führen. Der erkenntnistheoretische Skeptizismus scheint die unvermeidliche Konsequenz des Repräsentationalen Realismus zu sein.

Der Phänomenalismus, den George Berkeley als erster entfaltet und den John Stuart Mill dann in wesentlichen Punkten weiterentwickelt hat, stellt eine direkte Reaktion auf die erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten des Repräsentationalen Realismus dar. Wenn die Wurzel des Skeptizismus in der Unterscheidung zwischen äußeren, physischen Gegenständen und unseren Sinnesdaten liegt, dann brauchen wir, so scheint es, diese Gegenstände nur mit den Sinnesdaten zu identifizieren, um den drohenden Skeptizismus zu untergraben. Der radikale phänomenalistische Vorschlag lautet daher, dass ein physischer Gegenstand nichts anderes als ein Komplex von Sinnesdaten ist. Das Problem der Außenwelt soll mithin durch eine ontologische Reduktion gelöst werden. Das notorische Problem mit diesem Vorschlag ist jedoch, dass es dem Phänomenalismus einfach nicht gelingen will, der gewöhnlichen Auffassung der physischen Welt als kontinuierlich und unabhängig davon existierend, ob sie wahrgenommen wird oder nicht, gerecht zu werden. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass das ehrgeizige Projekt des moderneren, im Zuge der sprachlichen Wende in der Philosophie aufgekommenen Analytischen Phänomenalismus, Aussagen über physische Gegenstände vollständig durch Aussagen über Sequenzen von Sinnesdaten zu analysieren oder in solche Aussagen zu übersetzen, fehlgeschlagen ist.
...


Sie wollen den vollständigen Beitrag lesen?