PhilosophiePhilosophie

01 2014

Elijah Millgram:
Praktische Rationalität und Arbeitsteilung.

aus Heft 1/2014,  S. 20-29

Svantje Guinebert im Gespräch mit Elijah Millgram


Professor Millgram, Sie sind bekannt für Ihre Gedanken zur Theorie der Rationalität. Das erste Buch, das Sie veröffentlichten, trägt den Titel „Practical Induction“; 2010 wurde es in Deutsche übersetzt. Was reizt Sie am Thema der praktischen Rationalität?

Ich halte das praktische Denken, d. h. die Frage danach, wie wir herausfinden, was zu tun ist, für eines der interessantesten Themen der Philosophie. Es ist erstaunlich, wie gemeinhin darüber gedacht wird. Quer durch die gesamte Gesellschaft scheinen die Menschen zu denken, herauszufinden, was zu tun ist, bedeute herauszufinden, wie ein bestimmtes Ziel erreicht wird. Man kann dies z. B. an der Funktionsweise einer Bürokratie sehen. Manchmal wird diese Idee in eine Art psychologisches Register eingebettet: herausfinden, was zu tun ist, heiße herausfinden, wie bestimmte Wünsche erfüllt werden können. Doch wenn man genauer darüber nachdenkt – für den amerikanischen Pragmatisten John Dewey war dies vollkommen eindeutig – ist „Ich will es!“ ein im wahrsten Sinne des Wortes kindischer Grund. Ich glaube, wir können das besser. In Wirklichkeit lernen Heranwachsende aus eigener Erfahrung, worauf es ankommt und was wichtig ist. Sie lernen durch Enttäuschungen, sie lernen, indem sie angenehme Überraschungen erleben, und sie ziehen allgemeine Schlüsse aus diesen einzelnen Erfahrungen; ihre Interessen wandeln sich; wenn alles gut geht, wird ihr Leben stetig besser, ihre Leben insgesamt werden besser. Aber da wir das nicht auf theoretische Weise erfassen können, müssen die Menschen es selbst herausfinden, jeder am eigenen Leib.

Es geht dabei also um das gute bzw. bessere Leben?

Das Nachdenken über praktisches Denken verheißt eine bessere Entscheidungsfindung; mit ein bisschen Glück kann es auch institutionelle Entscheidungsprozesse verbessern, und es hat Auswirkungen auf eine Menge anderer Themenbereiche der Philosophie. Ich denke, wenn die Ansichten über Rationalität sich ändern, insbesondere über praktische Rationalität, dann beeinflusst das auch andere Problemfelder.

Ihnen zufolge geht es beim praktischen Denken also nicht nur darum, herauszufinden, wie wir das, was wir wollen, erreichen können, sondern auch um die Fähigkeit, neue Dinge zu erfahren, die es wert sind verfolgt zu werden. Woher wissen wir aber, was wertvoll ist? Können Sie uns ein konkretes Beispiel geben, wie wir aus der Erfahrung lernen, was wertvoll ist?

Als ich in die Philosophie einstieg, dachte ich, es ginge dabei darum, philosophische Ergebnisse zu erarbeiten. Man würde Probleme lösen, einmal gelöste Probleme blieben gelöst, und auf diesen Ergebnissen aufbauend könnte man dann weitere Probleme lösen. Irgendwann habe ich dann begriffen, dass es so nicht läuft. Es gibt keine Ergebnisse. Denker, die Ergebnisse präsentieren oder glauben, sie hätten ein Problem gelöst, stellen letztlich doch nur Material zur Verfügung, das andere wieder demontieren. Doch als ich diese Entdeckung machte, entdeckte ich zugleich, dass es für das Verständnis philosophischer Probleme unheimlich gewinnbringend ist, sowohl zu versuchen, diese Probleme zu lösen und die Resultate zu etablieren, als auch die Lösungen Anderer auseinander zu nehmen. Wenn Sie mich fragen, habe ich dadurch nicht nur viel mehr in der Philosophie selbst begriffen als zu meiner Anfangszeit – obwohl manch einer das vielleicht bestreiten würde –, sondern ich habe dabei außerdem, nämlich durch Ausprobieren, entdeckt, dass das erstrebenswert ist.

Angenommen, mein Kind steht vor mir und sagt „Aber ich will!“. Ist es eine realistische Herangehensweise, mit ihm über Werte und Ziele zu sprechen? Um eigene und fremde Werte und Ziele konstruktiv in Frage zu stellen, brauche ich Kriterien zur Beurteilung derselben. Die Frage lautet also: Was ist dasjenige, das etwas wertvoll macht?

Ich kann die Frage nicht in der Form beantworten, wie Sie sie stellen, da es nicht das Eine gibt, das alles Wertvolle wertvoll, alles Wichtige wichtig macht. Die Frage so zu stellen ist übrigens eine für PhilosophInnen ganz typische Herangehensweise, die mir aber auf einem tiefgehenden Irrtum zu beruhen scheint. So hatte G. E. Moore z. B. gefragt, was „gut“ bedeute – als ob es eine Eigenschaft gäbe, die alle guten Dinge gemeinsam hätten und wir nur herauszufinden bräuchten, um welche es sich handelt. Oftmals ist in der Philosophie die Unterstellung, dass es eine einzige Antwort auf verschiedene Fragen geben muss, der erste falsche Schritt. Und es ist sehr schwierig, davon loszukommen.
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