PhilosophiePhilosophie

02 2014

Di Cesare, Donatella: Heidegger, das Sein und die Juden

aus Heft 2/2014, S. 8-21

Das Ungesagte der Judenfrage


Der „Fall Heidegger“ wurde vor kurzem um ein neues Kapitel erweitert. Im Unterschied zu den Enthüllungen der Vergangenheit handelt es sich diesmal im zweifachen Sinn um das entscheidende Kapitel; zum einen, weil es die seit langem offene Kontroverse entscheiden sollte, zum anderen, weil es Heideggers „Entscheidung“ in den dreißiger und vierziger Jahren betrifft. Die Schwarzen Hefte, die von Peter Trawny herausgegeben und bei Klostermann veröffentlicht wurden, enthalten dasjenige Ungesagte, das einige schon vermuteten und von dem viele gehofft haben, es sei auch ein Ungedachtes.

Heidegger spricht von den Juden, dem Judentum und der „Judenfrage“. In einer der philosophisch relevantesten Stellen aus dem Jahr 1941 schreibt er deutlich, dass die „Judenfrage“ keine „rassische“, sondern eine „metaphysische“ Frage ist (GA 96, 243). Heidegger selbst warnt also vor möglichen Missverständnissen: Das Thema des Judentums muss innerhalb der Geschichte des Seins erörtert werden. Welche Beziehung besteht zwischen dem Sein und den Juden? Auf welche Weise beeinträchtigen die Juden das Sein und seine Geschichte?

Heideggers Zustimmung zum Nationalsozialismus nimmt deutlichere Konturen an, da es sich auf einen ontologischen Antisemitismus stützt. Die Radikalität dieses Antisemitismus, genauer gesagt dieser Judenfeindlichkeit, wirft ein neues Licht auf das Engagement von 1933, das weder ein Unfall noch ein Irrtum gewesen ist. Vielmehr ist es das Ergebnis einer mit seinem Denken kohärenten politischen Wahl. Von exemplarischer Kohärenz scheint jetzt auch sein späteres Schweigen zu sein. Der Antisemitismus ist nämlich kein ideologisches Mehr, sondern ein wesentlicher Angelpunkt des Nationalsozialismus. Heidegger rückt damit Schmitt, Jünger und vor allem einigen Theoretikern der konservativen Revolution näher.

Damit öffnet sich ein neues Kapitel, das mit „Heidegger und das Judentum“ überschrieben werden könnte, ein noch zu schreibendes Kapitel, in dem Fragen erhoben werden sollten, denen bis jetzt zum großen Teil ausgewichen wurde. Die erste, die dringendste, ist die Frage nach der Vernichtung in der abendländischen Metaphysik.

Das Zeugnis des Philosophen


Die Schwarzen Hefte sollten auch dazu beitragen, den „Fall Heidegger“ auf neue Weise zu beleuchten. Denn die Arbeit der Historiker scheint entweder erschöpft zu sein oder in den Hintergrund zu rücken. Die genaue Ermittlung der kleinen oder größeren Nachweise der Einbeziehung, die Rekonstruktion des Geschichtszusammenhangs oder die Archivarbeit verlieren an Gewicht gegenüber dem Zeugnis des Philosophen, der in erster Person spricht. Der „Fall Heidegger“ erweist sich nicht als historische, sondern als philosophische Frage, die als solche die Philosophen und die Philosophie in Anspruch nimmt. Doch man sollte die Gefahr nicht unterschätzen, dass die Philosophen sich absetzen werden – was in der Vergangenheit ja oft geschah. Es fehlt nicht an Indizien dafür. Liest man die bis jetzt erschienenen Reaktionen und Kommentare, so erhält man den Eindruck, dass die obsoleten Schemata wiederholt werden, die eine ernste und tiefgehende philosophische Debatte gehemmt oder verhindert haben.

Durch die in Frankreich wieder ausgebrochene Kontroverse tritt vor allem das genierliche und karikaturistische Szenario des postumen Prozesses an dem Philosophen auf monotone Weise wieder hervor. Auf der einen Seite erheben sich die Radikalverteidiger à la François Fédier, welche, in dem abgöttischen Kult der Persönlichkeit verharrend, jede Anklage zurückweisen, jeden Nachweis verleugnen, Heidegger letztlich in eine dunkle Ecke des kurzen Jahrhunderts zu verbannen. Auf der anderen Seite hantieren die unermüdlichen Ankläger à la Emmanuel Faye, die in ihrer furchtlosen Unbeugsamkeit diesmal ihre bisherige Unternehmung mit dem Titel „die Einführung des Antisemitismus in die Philosophie“ überbieten könnten.


Beide Extrempositionen, die leider die Debatte der letzten Jahre monopolisiert haben, zeigen mehr als einen gemeinsamen Zug: sie verlangen nämlich, die Alternative des Schwarz-Weißen in einer so komplexen Frage wie dieser durchzusetzen – vielleicht die komplexeste des zwanzigsten Jahrhunderts? – und beseitigen damit jeden Spielraum für das Helldunkel der Philosophie. Einerseits scheint der vergötterte Philosoph, der Philosoph-Abgott, durch jene wenige Monate des Rektorats unbeschädigt hindurchgegangen und aus dem Akzidentellen der Geschichte unversehrt in seinem Wesen herausgekommen zu sein; andererseits wird nicht nur sein Bild, sondern auch seine Philosophie in ihrem Kern des Nazismus bezichtigt und deshalb kriminalisiert. Was soll man sagen, wenn jetzt der Antisemitismus in den Schwarzen Heften noch hinzukommt? Werden die in erster Person abgegebenen Erklärungen des Beschuldigten den verbissenen Ankläger befriedigen?

Trivial und inakzeptabel ist gerade der Prozess. Welchen Sinn hat es, Heidegger vor Gericht zu ziehen? Wozu würde es führen? Oder ist diese Inszenierung, die seit Jahren wiederholt wird, nur eine Eskamotage der Philosophie, um sich der Verantwortung zu entziehen, die Frage zu denken, die Heidegger stellt?

Zeit der Abrechnung?

Das Schema des Prozesses, die Alternativen für oder wider, könnte nach der Veröffentlichung der Schwarzen Hefte auch außerhalb des franzosischen Kontexts wieder auftreten. Die Formen können zwar variieren; abgesehen von seltenen Ausnahmen bleibt jedoch die Vorliebe für ein scharfes Entweder-Oder, das zwar Polemiken auslöst, aber die Aufgabe der Philosophie umgeht.

Da der Antisemitismus das nationalsozialistische Engagement im Herzen trifft und damit einen Punkt markiert, von dem es kein Zurück mehr gibt, könnten die Schwarzen Hefte einen Vorwand bieten, mit Heidegger ein für allemal Schluss machen. Das ist die nicht so geheime Hoffnung von alten und neuen Anklägern, aber auch von liberalen Kritikern, hartgesottenen Analytikern, Biedermännern jeder Art. Hatten sie nicht schon immer den gewalttätigen Zug seiner Philosophie denunziert? So ist eben der Moment gekommen, in dem man sich mit einem „goodbye Heidegger“ verabschieden kann. Ein mittelmäßiger Revanchismus und ein starker reaktionärer Trieb nähren den krampfhaften Wunsch, den Philosophen zu diskreditieren, um ihn aus jedem demokratischen Land zu verbannen.

Es ist klar: dies wäre auch eine Abrechnung sowohl mit vielen politischen Strömungen der kontinentalen Philosophie wie auch mit engagierten Denkern, von Foucault zu Derrida, von Vattimo zu Agamben. Das ist aber nicht der einzige Grund dafür, den Angriff abzuwehren. Sich von Heidegger zu befreien hieße, nicht nur von den schwierigen Fragen loszukommen, die er erhoben hat, sondern auch zu jener Moderne zurückzukehren, in der die aufklärende Vernunft, der Glaube an den Fortschritt, das unbeschränkte Vertrauen in die Wissenschaft dominiert haben. Als ob nichts geschehen wäre. Und als ob es möglich wäre, jene späte Moderne mit der heutigen globalisierten Welt zu harmonisieren.

Dies bedeutet aber keineswegs eine Rehabilitierung der traditionellen Verteidiger, die übrigens immer noch versuchen, seine Zustimmung zum Nationalsozialismus für eine zeitlich begrenzte Episode, für ein Ergebnis eines unvermeidbaren Kompromisses, um die Autonomie der Universität zu retten, kurzum für einen politischen Fehler auszugeben, der philosophisch irrelevant ist. Diese Auslegungsstrategie ist, wenn auch auf verfeinerte Weise, in den Reaktionen wieder aufgetaucht, die vor allem in Deutschland das Erscheinen der Schwarzen Hefte provoziert hat. Da der „politische Fehler“ in den Heften bezeugt, sogar vom Autor in mehr als tausend Seiten beansprucht wird, bleibt dann nichts weiter übrig, als jene Veröffentlichung zu schmälern und herabzusetzen. Andererseits stammen die in Frage kommenden drei Bände großenteils aus den dreißiger und dem Anfang der vierziger Jahre, gerade also aus jener Zeit, die man wenigstens in Klammern setzen möchte. Dies würde dann erlauben, problemlos zum Heidegger der Phänomenologie zurückzukehren. Während die verschiedenen Phasen seines Denkwegs sich mehren und nicht nur drei, mit der Kehre dazwischen, sondern vielleicht auch vier werden, zieht man seine Einheitlichkeit in Zweifel. Doch es ist Hans-Georg Gadamer gewesen, der mit Recht von dem „einen“ Weg Martin Heideggers gesprochen hat.

Die hermeneutische Schwierigkeit liegt offensichtlich im Kern des Antisemitismus. Was hat der Antisemitismus mit der Seinsgeschichte zu tun? Warum könnten das Sein und seine Geschichte unversehrt und unkontaminiert herauskommen? Beunruhigend ist gerade das, was man umgehen möchte: die philosophische Relevanz, die Heidegger der Figur des Juden in der Geschichte des Seins zuschreibt.

Ein marginales Werk?

Die zwei Gefahren, die nach der Veröffentlichung eines Werkes wie der Schwarzen Hefte drohen, sind einerseits die Exkommunikation, die dem Philosophen schon seit Jahren droht, und andererseits die Zähmung.

Die heute beliebteste Weise, Heidegger zu zähmen, ist die, aus ihm einen harmlosen Phänomenologen zu machen. Wie sollte man sonst den Autor von Sein und Zeit, den Autor von bahnbrechenden Erläuterungen des Aristoteles und der Vorsokratiker retten? Hierfür genügt es, die schon vollführte Geste der Zensur zu wiederholen, die aber an diesem Punkt augenfällig und endgültig werden muss.

So haben sich Kritiker und Zensoren der letzten Stunde beeilt, ihr Verdikt über die drei Bände auszusprechen, indem sie sie als marginales Werk, am Rande der Philosophie, geradezu als nichtphilosophisches Werk abgewertet haben. Manche haben sogar von „Anti-Philosophie“ geredet. Wenig philosophisch ist aber gerade diese Zensorenhaltung. Denn sie erklärt nicht, nach welchem Kriterium die Schwarzen Hefte – und nicht etwa die aus derselben Zeit stammende Einführung in die Metaphysik – vom Denkweg des Philosophen ausgeschlossen sein sollten. Nebenbei: Hat Heidegger uns nicht gelehrt, dass man die Wahrheit auch auf Umwegen suchen muss und dabei auf Holzwege geraten könnte? Noch lästiger an der Zensorenhaltung ist aber der moralistische Akzent, der im reichlichen Gebrauch von Adjektiven wie „anstößig“, „lächerlich“ oder „pathologisch“ hervortritt.

Die Verdrängung des Nationalsozialismus in der deutschen Philosophie

Spricht man von „Wahnsinn des Nazismus“, so lehnt man das, was geschehen ist, als außerhalb der Vernunft und der Geschichte ab und schließt es damit zugleich von der Philosophie aus. Der Nazismus ist ein politisches Projekt gewesen, und als solcher ist er zu betrachten. Mehr noch: Er ist nicht so sehr eine ideologische Weltanschauung als vielmehr in jeder Hinsicht eine Philosophie. Emmanuel Lévinas hatte es schon in den dreißiger Jahren mit Klarheit verstanden, als er seinen Aufsatz Philosophie des Hitlerismus schrieb, der heute noch einen unentbehrlichen Beitrag darstellt.

Vor allem in Deutschland ist die Verdrängung im Kontext der Philosophie eklatant. Gewiss darf man weder Adornos Kritik übersehen, die allerdings von marxistischen bzw. paramarxistischen Voraussetzungen ausgehend den Nazismus auf Faschismus reduziert, noch die Analyse von Habermas vergessen, der seinerseits mehr den Hinweis auf die Verbrechen als die Auseinandersetzung mit der geschichtlich-ontologischen Dimension des Nationalsozialismus im Auge hatte. Wer denkt also heute philosophisch, „was geschehen ist“, was übrigens nicht nur das Dritte Reich, auch nicht nur Auschwitz, sondern eben auch die „Frage“ des Judentums in der abendländischen Philosophie bedeutet?

Die Verdrängung dieser Themen, die deshalb ausgeklammert werden, weil sie nicht philosophisch seien, scheint vor allem ein deutsches Phänomen zu sein. Es mangelt nicht an Gegenbeispielen, wie etwa das Buch von Reinhold Aschenberg Ent-Subjektivierung des Menschen.: Lager und Shoah in philosophischer Reflexion. Doch es handelt sich um Einzelfälle. Diese Verdrängung, die vor einigen Jahren eher gerechtfertigt, heute aber weniger verständlich ist, findet Bestätigung und Unterstützung im akademischen Bereich, einerseits durch die mainstreams der analytischen Philosophie und der Wissenschaftstheorie, die bekanntlich wenig an der Geschichte und an dem, was geschieht, interessiert sind, andererseits durch eine Philosophie, die sich als aus ihren vergangenen „Schulden“ befreit vorstellen möchte, um entweder als solide philologisch-philosophische Untersuchung oder als Phänomenologie akzeptiert zu werden.

All dies wirkt sich negativ auf die kritische Auseinandersetzung mit Heidegger aus, die sich eben deshalb schon seit langem in einer Sackgasse befindet. Ist er nicht der Meister aus Deutschland, der Wächter des Seins? Personifiziert er nicht den bösartigen Geist des Nazismus? Warum sollten die Philosophen des 21. Jahrhunderts noch weiter mit jenem Gespenst zu tun haben? Die Frage könnte aber eine andere sein und die gewöhnliche Optik umkehren. Versucht man nicht die Auseinandersetzung zu vermeiden, indem man Heideggers Überlegungen der dreißiger und vierziger Jahren als irrsinnig verurteilt, um der Medusa nicht ins Gesicht schauen zu müssen? Der Versuch, die Schwarzen Hefte als philosophisch irrelevant abzustempeln, verrät eine solche Ablehnung.

Diese Veröffentlichung, die Heidegger anscheinend geplant und gewollt hatte, müsste dann mit dem ihr gebührenden Ernst aufgenommen werden. Sie würde dann eine große Gelegenheit bieten, aus einer langen Sackgasse hinauszugelangen und auf das philosophisch-politische Projekt des Nationalsozialismus und auf dessen Version zu blicken, die Heidegger innerhalb der Seinsgeschichte gegeben hat.

Das philosophische Engagement und die politische Entscheidung


Der Versuch, sich zu verweigern, wird durch einen tendenziell apolitischen Zug nicht nur der analytischen Strömungen, sondern auch der Phänomenologie begünstigt. Aber er kann sich auch auf eine Auslegungsstrategie stützen, die sich gerade im „Fall Heidegger“ allmählich verfestigt hat, bis sie zu einer gewissen Selbstverständlichkeit geworden ist. Auch Hannah Arendt hat zu dem Bild des Philosophen „Zurück aus Syrakus“, nach dem „Abenteuer“ des Rektorats, beigetragen. Dieses Bild, das von vielen wieder übernommen worden ist, zeichnet einen sehr fragwürdigen Vergleich mit Platon – ganz zu schweigen von der absurden Nähe zwischen Hitler und Dionysios aus Syrakus. Es lässt außerdem glauben, dass Heideggers Zustimmung zum Nationalsozialismus von Zeitumständen abhängig war und von der Notwendigkeit diktiert wurde, die Autonomie der Universität zu retten. Schließlich wird damit das Stereotyp des politisch inkompetenten Philosophen wieder hervorgeholt. Kurzum: Wenn die Philosophen sich in den Kopf gesetzt haben, ihre Ideen zu verwirklichen, haben sie nichts anderes als Unheil angerichtet. Gott bewahre!

Dieses liberalpopuläre Stereotyp, das zu einem nachsichtigen und gütigen Blick auffordert, bringt einen wenig erhabenen Begriff der Philosophie und einen noch unerfreulicheren der Politik mit sich: die eine sei meistens abstrakt und starr, die andere kleinlich und kompromissbereit. In dieser Hinsicht erweist sich das Syntagma „politische Philosophie“ als ein explosives Oxymoron.

Im „Fall Heidegger“ hat dies besonders verderbliche Auswirkungen gehabt. Denn die Diskussion ist innerhalb der engen Geleise der Beziehung zwischen Philosophie und Politik abgedrängt worden, und dabei wurde sie letzten Endes irregeleitet. Insofern haben sich einige gefragt: Ist es nicht legitim, Heideggers politischen Fehler, genau so wie die anderer Philosophen, von seinem Werk zu trennen? Denn was sollte man von Aristoteles’ Einstellung gegenüber Sklaven sagen, die er nicht einmal für menschliche Wesen hielt? Und was von Rousseau, der seine Kinder ins Waisenhaus schickte? Dies hindert uns heute nicht daran, den Politikos oder den Emile zu lesen. Philosophen können genau so wie alle anderen Menschen irren. Andere haben sich dann aber gefragt, ob die gesamte Philosophie Heideggers von jenem Fehler infiziert ist und deshalb als Zeugnis der Verworfenheit und des Bösen gelesen werden muss.

Die Schwarzen Hefte eröffnen ein neues Kapitel, da sie vor allem deutlich zeigen, dass der „Fehler“ eigentlich kein Fehler gewesen ist, sondern ein Engagement, das als solches sowohl eine politische als auch eine philosophische Dimension hat. Aktive Politik muss von der begrifflichen Philosophie unterschieden werden. Und der Philosoph kann sich irren, wenn er das Reale seiner Zeit in Begriffe zu fassen sucht. Dennoch kann der „Fall Heidegger“ nicht innerhalb der Abweichung zwischen Politik und Philosophie erklärt werden, so wie man es lange verlangt hat. Sein philosophisches Engagement geht jeder politischen Entscheidung voraus. Im philosophischen Bereich muss also der Fall diskutiert werden. Die Philosophie wird unmittelbar in Anspruch genommen.

Heideggers revolutionäres Potential

Heidegger zähmen, zensieren, stigmatisieren, verbannen heißt, jenseits eines etwa kleinlichen Moralismus die Auseinandersetzung mit seinem Denken zu vermeiden. Um einen Spruch von Paul Valéry zu zitieren, auf den sich Heidegger nicht selten berief: „Wer das Denken nicht angreifen kann, greift den Denkenden an“.

Das Problem, das die Schwarzen Hefte auf eine akute Weise aufwerfen, ist das seiner Reflexion in den dreißiger und vierziger Jahren. Dies ist der Heidegger, der am meisten Angst macht. Es wäre sicher leichter und beruhigender, von Sein und Zeit direkt auf die Gelassenheit überzugehen. Aber jetzt scheint Heidegger selbst es zu verhindern. Ist dann vielleicht nicht der Augenblick gekommen, in dem die Schwelle überschritten werden kann? Soll man nicht bis zu seiner radikalsten Tiefe einem Denken folgen, das sich am Leitfaden der Geschichte entfaltet, dabei einem ontologisch-geschicklichen Projekt treu bleibt, das es dazu drängt, einen neuen Anfang zu suchen?

Die Schwierigkeit, die Schwelle zu überschreiten, liegt nicht in Heideggers Texten, sondern in einem eigentümlichen Zug unserer Zeit, der, mehr oder weniger stillschweigend, über einen breiten Konsensus in der Philosophie, zwischen alten Liberalen und neuen Realisten, verfügt: in der Überzeugung nämlich, dass der globale Kapitalismus unser letzter Horizont sei. Folgt man dieser üblichen liberalen Verurteilung, dann müssen Heideggers Überlegungen in den Schwarzen Heften tatsächlich als irritierende Irrreden erscheinen, auf die man gerne verzichten würde. So wird aber Heideggers revolutionäres Potenzial entleert.

Die Wahrheit des Nationalsozialismus

Auch in Bezug auf andere Schriften, die vor kurzem aus dem Nachlass wieder aufgetaucht worden sind, machen die Schwarzen Hefte deutlich, dass seine Zustimmung zum Nationalsozialismus weder temporär noch äußerlich war, da sie in die Radikalität seiner Philosophie hineinwirkte. Dies erklärt übrigens, warum es weder Entschuldigungen noch Widerrufe gab, sondern nur ein beredtes Schweigen. Jeder andere Gestus hätte in der Tat eine Verleugnung seiner Philosophie bedeutet.

Die Enttäuschung soll darum nicht missdeutet werden. Anders als man zu verstehen geben wollte, hat sie weder zu einem Rücktritt noch zu einer Abstandnahme geführt. Heidegger hat seine Stellung bzw. seinen „Vorposten“ immer behalten, von dessen Höhe er den entscheidenden Umschwung der europäischen Geschichte sah, und ist dabei immer überzeugt gewesen, dass die Geste von 1933 die neue Fundierungsgeste für Europa und für Deutschland war. Der Nationalsozialismus war jene geschichtliche Möglichkeit; es gab keine andere, und es hätte auch keine andere gegeben. Das Scheitern war sozusagen ontisch; die „Bewegung“ erwies sich als dem ontologisch-geschicklichen Projekt nicht gewachsen. Um einen markanten Satz von Philippe Lacoue-Labarthe wieder aufzunehmen: 1934 wusste Heidegger, dass er sich geirrt hatte, „nicht über die Wahrheit, sondern über die Wirklichkeit des Nationalsozialismus“.

Die Seiten der Schwarzen Hefte zeigen Heidegger intensiv mit der Wirklichkeit der „Bewegung“ konfrontiert, wobei er überzeugt zu sein scheint, dass jene Möglichkeit nicht für immer verloren war, sondern an der abgrundtiefen Grenze der Geschichte hätte wieder auftauchen können. Heidegger hat auf sie gewartet und hat sie in seinem Gespräch mit Hölderlins Dichtung aufbewahrt; die Rettung wäre nur im Hören auf jene seine prophetische Stimme gewesen, die beim Nennen die zukommende Raum-Zeit des Heiligen ankündigte. Der weltgeschichtliche Auftrag des deutschen Volkes hätte nicht beeinträchtigt werden sollen. Am Ende der bitteren Erfahrung des Rektorats schreibt er: „Wir werden in der unsichtbaren Front des geheimen geistigen Deutschland bleiben.“ (GA 94, 76)

Das Logbuch eines Schiffbrüchigen

Die Schwarzen Hefte ähneln dem Logbuch eines Schiffbrüchigen, der durch die Nacht der Welt hindurchgeht. Ihn leitet das ferne Licht eines neuen Anfangs. Die dunkle und tragische Landschaft wird von tiefen philosophischen Einblicken und mächtigen eschatologischen Visionen erleuchtet.

Es ist schwierig zu sagen, zu welcher Gattung diese Seiten gehören. Vielleicht entziehen sie sich absichtlich einer Klassifikation. Wie der Herausgeber Peter Trawny hervorgehoben hat, handelt sich um „ausgearbeitete philosophische Schriften“ die dennoch in sich die intime Spur des Autors tragen. Auch wenn er sich hinter der unpersönlichen Form verbirgt, spricht Heidegger mit unverkennbarem Ton und ohne große Zurückhaltung. Als ob er sich an künftige Leser wenden würde, die dank der Distanz der Geschichte jene dunkle Zeit Europas besser verstehen könnten, die er aus seinem Vorposten, der gleichzeitig auch eine „Nachhutstellung“ ist, nicht nur bezeugt, sondern auch tief ergründet und entziffert hat. Wie er nämlich auf der letzten Seite der „Überlegungen XV“ schreibt, die plötzlich 1941, unmittelbar nach dem Ausbruch des Kriegs mit der Sowjetunion, abbrechen: „Die Geschichte hat neben dem öffentlichen Gesicht stets auch ihr verborgenes“ (GA 96, 276).

Das Leitmotiv der Hefte ist die Frage des Seins. Verlassen, vernachlässigt, vergessen ist die Frage jedoch an der Quelle aufbewahrt, zu der man zurückgehen muss, um das verschmutzte und ungastliche Tal der abendländischen Metaphysik hinter sich zu lassen. Der Weg zum Ursprung, der zugleich auch derjenige nach oben ist, der alles auf die Spitze treibt, ist der Weg, den das deutsche Volk zu gehen berufen sei. Seine Aufgabe ist, einen Übergang dort zu erblicken, wo die anderen Völker nur einen Untergang sehen. Heidegger wiederholt dies mehrmals auf fast obsessive Weise. Und der Übergang ist selbstverständlich die Eröffnung eines neuen Anfangs.

Nur dem deutschen Volk kommt die Überwindung der Metaphysik zu; nur das deutsche Volk ist für das Sein verantwortlich. Für diesen Auftrag wird es deshalb schon seit langem auf der weltgeschichtlichen Bühne erwartet. Die beschleunigte Vereinigung der Welt weist deutlich darauf hin, dass dieser Auftrag planetarisch geworden ist.
Halt! Und hier ist die ursprüngliche Grenze der Geschichte – nicht das leere überzeitliche Ewige – sondern die Ständigkeit der Verwurzelung“ (GA 94, 46). Die Entfesselung der Technik, mit ihren verheerenden Wirkungen, so wie die Heimatlosigkeit und die Entfremdung, können durch eine bremsende Macht eingedämmt werden, die nur Deutschland dank der eisernen Kohäsion seiner tief in seiner Bodenständigkeit gewurzelten Volksgemeinschaft ausüben kann.

Der Nationalsozialismus stellt die geschichtliche Möglichkeit dar, die einzige, die sich anbietet. Das deutsche Volk ist zu einer epochalen Aufgabe berufen, denn es muss die Technik eindämmen und zugleich dem Sein den Weg eröffnen. Insofern kann eigentlich nur die Philosophie es bei diesem heiklen und riskanten Übergang führen, beim Übergang zu dem neuen Anfang. Um jedem Missverständnis vorzubeugen, betont Heidegger mehrmals: Seine Philosophie ist keine „nationalsozialistische Philosophie“ (GA 94, 348). Keine Einführung des Nazismus in die Philosophie! Es geht um etwas ganz anderes, da der Nationalsozialismus, der an sich „ein barbarisches Prinzip“ ist, die Philosophie braucht. Eben darum ist das philosophische Engagement Heideggers auch politisch und besteht darin, den Nationalsozialismus zu spiritualisieren. Ist das ein Vorteil oder ein Nachteil Heideggers? Es ist bekanntlich die Frage, die sich Derrida gestellt hat, ohne zu einem Schluss kommen zu können, dabei aber eine Antwort ahnend, die er wohl in den Schwarzen Heften gefunden hätte.

Metaphysik des Bluts

Auf dem Weg der Seinsgeschichte begegnet Heidegger dem Juden. Was hat die Seinsfrage mit der Judenfrage zu tun? Das ist das große Thema der Schwarzen Hefte.

Der Jude ist der figurale Jude, die Figur des Juden, der mit einer metaphysischen Rolle beladen ist. Er ist sicher nicht der leibhaftige Jude (bzw. die leibhaftige Jüdin). Deshalb ist das Argument der jüdischen Freunde oder der jüdischen Schüler belanglos. Keinen Sinn hat auch der Hinweis auf den Ausnahmejuden. Man kann gute Verhältnisse mit Juden haben und zugleich einen ontologischen Antisemitismus vertreten. Der Umgang mit Juden kontaminiert deshalb nicht, weil die biologischen Gründe hinfällig sind. Dass eine solche Position in den dreißiger Jahren verbreitet war, sagt uns eine scharfsinnige Beobachterin wie Simone Weil in einem Brief aus Berlin von August 1932.

Andererseits ist der Jude, gerade weil er nicht als Individuum gilt, nur der Vertreter des jüdischen Volkes. Die Schulden des Volkes sind auch unmittelbar die seinen. Deshalb darf er diese Zugehörigkeit nicht abstreiten, um akzeptiert zu werden; er darf weder ein braver deutscher Bürger noch ein guter Christ sein. Das Wasser der Taufe wäscht die Schmach des Blutes nicht rein, jenes geheimnisvolle und metaphysische Wesen, in dem die jüdische Identität verborgen liegt. Der assimilierte Jude ist letzten Endes der gefährlichste, weil er sich mimetisiert und sich unsichtbar macht.
Wer ist aber dann der Jude? Wie soll man ihn definieren? Besteht nicht die Gefahr, dass sein Wesen jeder Definition entgleitet? Das ist bekanntlich das Problem, mit dem die Nazis vor und nach den Rassengesetzen konfrontiert waren, ein im Grunde nie gelöstes Problem, weil es eben kein wissenschaftliches, sondern ein philosophisches ist.

Philosophie und Judenfeindlichkeit

Man ist oft versucht, den nazistischen Antisemitismus als vorübergehenden Wahn oder als grobe Propaganda zu kleinzureden. Lévinas hat bei verschiedenen Gelegenheiten gefordert, einen tiefgehenden Blick auf jenen Aspekt des abendländischen Denkens zu werfen, der sonst philosophisch unterschätzt wäre.

Genauer betrachtet besteht eigentlich ein Kontinuitätszusammenhang, der die Seiten von Mein Kampf mit denen von nicht wenigen Philosophen verbindet. Mit der Schwierigkeit konfrontiert, den Juden zu definieren, dessen Identität sich jedem Griff entzieht, beruft sich Hitler ausdrücklich auf die philosophische und theologische Tradition. In dem Kapitel, das er dem Judentum widmet, zitiert er eine berühmte Sentenz von Schopenhauer, die in Parerga und Paralipomena enthalten ist: „Juden sind große Meister im Lügen.“ Die Bezichtigung der Lüge hat eine lange Tradition. In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht nennt Kant die Juden „eine Nation von Betrügern“. Geht man aber der Geschichte dieses Stereotyps nach, so gelangt man bis zu dem gewalttätigen Pamphlet Luthers Von den Juden und ihren Lügen, das 1543 veröffentlicht wurde.

Die Frage beschränkt sich nebenbei gesagt nicht auf den deutschen Sprachraum; dazu tragen auch Italiener und Franzosen bei, von Giordano Bruno in dem Spaccio della bestia trionfante bis zu Voltaire in seinem Büchlein Juifs – beide sind übrigens Philosophen, die zu Ikonen der Toleranz erhoben worden sind. Das muss nicht überraschen. Gerade dort, wo die Universalität der Vernunft sich durchsetzt, erscheint der „Partikularismus“ des jüdischen Volkes als ein unerträglicher Skandal. Wie Hannah Arendt mit Recht bemerkt hat: „Die moderne Judenfrage entsteht in der Aufklärungszeit.“ Es ist die Aufklärung, d. h. die nicht jüdische Welt, die sie gestellt hat.

Das „auserwählte“ Volk, dessen eigensinnige Fremdheit es von den Nationen getrennt hält, erregt ein tiefes Ressentiment, das die Philosophen, mit wenigen Ausnahmen, nicht in Zweifel ziehen und sogar legitimieren. Schon seit Jahrhunderten gehören also Judenfeindlichkeit und Antisemitismus zur Philosophie.

Noch vor Nietzsche, dessen Fall viel komplexer ist, konsolidiert Hegel diese Beschuldigung in seinen Theologischen Jugendschriften. Obwohl er sich aller Wahrscheinlichkeit nach einer Veröffentlichung dieser Frühschriften widersetzt hätte, vermindert dies keineswegs das Schwerwiegende seiner harten Seiten. Für Hegel ist das Judentum ein Partikularismus, der in der Allgemeinheit des Christentums aufgehoben werden muss. Die Juden haben nämlich eine Trennung zwischen Mensch und Gott verursacht. Die Fremdheit, die das jüdische Volk charakterisiert, wird jedoch nicht nur in theologischer, sondern auch in politischer Hinsicht erläutert. Die Juden besitzen alles „nur als geliehen, nicht als Eigentum“. Die Erde wird ihnen „aus Gnade nur eingeräumt“; das einzige Eigentumsrecht ist das Gottes (3 Mos. 25,23). Bei ihrer gleichen Abhängigkeit „von ihrem unsichtbaren Regenten“ sind sie als Staatsbürger „nichts“. Wie Derrida kommentiert, wird so ein Todesurteil durch den Weltgeist ante litteram ausgesprochen. Auf der Suche nach dem „Geist“ des Judentums begegnet Hegel einer undefinierbaren Identität, einem Rest, der sich weder in sein System noch in seine Logik assimilieren lässt.

In der biologischen Metapher des „Parasiten“ ertönt die radikalste theologisch-politische Verurteilung auch in Hitlers Mein Kampf. Der Jude ist eingesickert bei den anderen Nationen, wo er auf „parasitäre Weise“ lebt. Was er hat, ist nichts Eigenes, sondern nur ausgeliehen. Er habe keine „schöpferische Kraft“ und sei höchstens reproduktiv, noch öfters „zerstörend“. Denn er zerstöre eben die Kultur der Völker, bei denen er als Fremder wohnt – und zwar durch Verstellung und Betrug. Er gibt vor, das zu sein, was er nicht ist. Die Lüge selbst ist das Fundament seiner Existenz. Er gibt sich für deutsch aus und ist hingegen jüdisch. Auf diese Weise macht er sich unkenntlich und hat am Ende mehr Rechte als die „Landeskinder“.

Das Sein und die Juden

In der Geschichte des Seins gibt es keinen Platz für die Juden. Heidegger wiederholt die Ausschließungsgeste auf eine insofern radikalere Weise, als er sie an der Grenze des Abgrunds vollzieht, in der dürftigen Zeit, in der Nacht der Welt. Die letzte Rettungsmöglichkeit ist für das Abendland der Weg zurück zu dem unkontaminierten Ursprung, zu jener Reinheit, die riskiert, für immer verloren zu gehen.

Bei einer ontologischen Differenz, die verschärft und zugespitzt wird, ist der Jude nichts anders als das Seiende. Aber dieses Seiende ist rettungslos vom Sein getrennt, weil es seinerseits an dieser Trennung schuldig ist. Dem Judentum muss die Herrschaft des Seienden in seiner Vorhandenheit zugeschrieben werden. Es gibt nichts Manichäisches bei dieser Zuspitzung. Sie betrifft nur das Seiende des Juden und jene Ontifizierung der Welt, welche aus seinem Vorherrschen hervorgeht. Während die anderen Seienden fest mit dem Sein verbunden sind, nähert sich das Seiende des Juden, der Jude als Seiendes, immer mehr dem ontologischen und politischen Nichts, zu dem schon Hegel ihn verdammt hatte.

Für Heidegger besteht also eine Komplizenschaft zwischen Metaphysik und Judentum. „Die zeitweilige Machtsteigerung des Judentums aber hat darin ihren Grund, daß die Metaphysik des Abendlandes, zumal in ihrer neuzeitlichen Entfaltung, die Ansatzstelle bot für das Sichbreitmachen einer sonst leeren Rationalität und Rechenfähigkeit.“ (GA 96, 46) Die Beziehung ist aber gegenseitig: Hat die Metaphysik den Weg dem rechnenden jüdischen Denken geebnet, so hat das Judentum andererseits, indem es sich eine Unterkunft im „Geist“ verschaffen hat, die Metaphysik befördert und unterstützt. Das Schicksal der einen ist mit dem Schicksal des anderen verbunden. Hierin liegt einer der Kernpunkte der Heideggerschen Ansicht des Judentums.

In diesem Zusammenhang fühlt er sich legitimiert, seinen Angriff gegen Husserl zu klären, der „nicht nur gegen ihn“, was übrigens ihn „unwesentlich“ gemacht hätte, sondern gegen „das Versäumnis der Seinsfrage“ gerichtet war. Husserl stellt dann das Präzipitat all dessen dar, wogegen Heidegger kämpft, und zwar Metaphysik und Judentum; als Exponent beider wird er angegriffen. Eben darum bleibt Husserl fern von den „Bezirken wesentlicher Entscheidungen“, nicht nur wegen der metaphysischen Reste seiner Phänomenologie, sondern weil, je ursprünglicher und anfänglicher die künftigen Entscheidungen sind, umso unzugänglicher sie dieser „Rasse“ bleiben. „Der Angriff gründet einen geschichtlichen Augenblick der höchsten Entscheidung zwischen dem Vorrang des Seienden und der Gründung der Wahrheit des Seyns.“ (GA 96, 47)

Das Wort „Rasse“ erscheint eigentlich nicht selten in den Schwarzen Heften und fast immer in Anführungszeichen. Es handelt sich um dieselben Anführungszeichen, deren ambivalenten Gebrauch Derrida in seinem Buch Vom Geist hervorgehoben hat: Es ist nämlich eine Art, das Wort anzunehmen, ohne es anzunehmen, eine Art, es in einem „dekonstruktiven Sinn“ anzuwenden, um auf das Gespenst zu verweisen, das es evoziert.

Wenn das Wort in den Schwarzen Heften ohne Umrahmung der Anführungszeichen erscheint, so nur, um verurteilt zu werden. „Alles Rassendenken ist neuzeitlich.“ (GA 96, 48) Der Biologismus fällt für Heidegger in die Metaphysik zurück, und daher gilt es, davon Abstand zu nehmen. Er ist also eine Antwort auf das Judentum auf derselben Ebene des Judentums. Hier liege die Grenze der Doktrinären des Dritten Reichs und von ihrem Ideal des Übermenschen (vgl. GA 96, 65).

Aufgrund der Komplizenschaft zwischen Judentum und Metaphysik sind es für Heidegger die Juden, die den Rassismus eingeführt haben. Es handelt sich nicht um einen Theatercoup. Vielmehr geht es um eine alte theologische Beschuldigung, die von Hitler in Mein Kampf, aber auch von einem Theoretiker wie Hans Blüher auf biologistische Weise interpretiert wird. Die Erwählung Israels, jenes Mehr an Verantwortlichkeit gegenüber der Welt, den Anderen und Gott, wird missverstanden und als rassisches Prinzip angenommen. So schreibt Heidegger: „Die Juden ‘leben’ bei ihrer betont rechnerischen Begabung am längsten schon nach dem Rassenprinzip, weshalb sie sich auch am heftigsten gegen die uneingeschränkte Anwendung zur Wehr setzen“ (GA 96, 56). Der Trugschluss dieser Anklage liegt auf der Hand: Die Juden, die sich auf ein Prinzip der Rassenzugehörigkeit berufen, hätten die Entrassung der anderen Völker als Ziel.

Der Biologismus erweist sich letzten Endes als unhaltbar. Die Rasse ist nämlich nichts anderes als eine Erfindung, um die Urabneigung für den nächsten Anderen zu legitimieren; die Rasse ist der Kult der Art, die sich rein und identisch bewahrt, ist der autopoietische Mythos des absoluten Ariers, der sich gegen ein unförmliches, unästhetisches und mythenloses Volk konstituiert. Deshalb verschiebt Heidegger das Argument auf eine ontologische Ebene. Dadurch wird die Frage nicht abgeschwächt, sondern veranschaulicht. Der ontologische Antisemitismus offenbart das Fehlen des Fundaments für jeden Antisemitismus.

Die weltlosen Agenten der Beschleunigung


Es sind nicht viele Stellen in den Schwarzen Heften, wo Heidegger von „Juden“ und „Judentum“ spricht. Viel zahlreicher sind jedoch die Seiten, wo die Bezüge indirekt sind. Durch Stereotypen des antisemitischen Jargons, durch Nietzsches Metapher und Schlüsseltermini des theologischen antijüdischen Wörterbuchs verweist er auf die Juden, ohne sie direkt zu erwähnen. Dies war übrigens eine weit verbreitete Praxis, die etwa auch in Schmitts Werk auftaucht. Wörter wie Herdenwesen, Vergemeinerung, Rechenfähigkeit, Berechnung, Vorschub, Machenschaft, Unheil kennzeichnen eine solche Semantik. In ihr ist Heideggers Auseinandersetzung mit der Judenfrage abzulesen, in welcher die biographischen, theologischen, historischen und begriffsgeschichtlichen Komponenten ineinandergreifen.

Heidegger benutzt also Codes, die der antisemitischen Rhetorik angehören und deshalb leicht zu entziffern sind; doch er artikuliert auch das Thema in das Lexikon seiner Philosophie. Juden bringen demnach mit sich: Entwurzelung, Selbstentfremdung, Geschichtsverlust, Entfernung aus jenen Bezirken, in denen allein die Entscheidung zum Sein getroffen werden kann.

Wenn Schmitt 1938 vom „rastlosen Geist des Juden“ spricht und in dem Reich die bremsende Macht des Katechons sieht, schreibt Heidegger den Juden die Beschleunigung der Moderne zu. Das Wort, das obsessiv wiederholt wird, ist Verwüstung, das übrigens schon in der Einführung in die Metaphysik die Herrschaft der Technik, den „Planetarismus“ bezeichnet. Die Verwüstung der Erde wird von der konstitutiven „Bodenlosigkeit“ eines nomadischen Volkes erlaubt und befördert, ein Volk, das wegen seines geheimnisvollen luftigen Wesens auf die Oberfläche des Planeten rennt und dabei dessen nivellierende Vereinigung beschleunigt (vgl. GA 95, 9). Das weltlose Volk bringt überall die Weltlosigkeit. Das „Zeitalter der Machenschaft“ fällt mit dem Vorherrschen des Quantitativen, der Zahl, der Rechnung, des Riesenhaften, mit der Entmachtung des Geistes, mit dem Nachlassen des ursprünglichen Fragens zusammen.

Aber die Verwüstung hat in den Schwarzen Heften eine weitere eschatologische Bedeutung: sie ist „der Nachschlag des bereits entschiedenen Endes“ (GA 96, 3). Die größte Gefahr, die die planetarische Machenschaft darstellt, ist für Heidegger die immer gleiche Wiederholung des Endes – ohne Ausweg, ohne Möglichkeit, auf den neuen Anfang seynsgeschichtlich zurückzugehen.

Aufgrund einer unrettbaren ontologischen Gegenübersetzung ist der Jude der Mensch des Endes, der Deutsche der Mensch des Anfangs. Der Jude ist derjenige, der am fernsten vom Ursprung, von der reinen Quelle der Identität, vom Brunnen des Seins liegt. Seine Machenschaft wird sogar zur „weltgeschichtlichen Aufgabe“, die darin besteht, jedes Seiende endgültig zu entwurzeln, um seinen Zugang zu jener Quelle zu verbieten (GA 96, 121). Kurzum: Die Juden zielen darauf, ihren Zustand allgemein zu verbreitern, sie streben danach, alle zu Fremden zu machen.

Der planetarische Judenkrieg

„Am Beginn des dritten Jahres des planetarischen Krieges“ – so schreibt Heidegger in einer der letzten Seiten der „Überlegungen XV“ (GA 96, 15). Der Kampf ist planetarisch und wird als solchen empfunden. Denn es geht um die Herrschaft der Welt.
Wer ist der Feind? Es ist nicht so sehr der Engländer, der Franzose oder der Amerikaner, und umso weniger der Russe; diese sind alle zeitweilige Außenfeinde. Vielmehr ist es der Archetyp des Feindes, der Jude, der ewige metaphysische innere Feind, der nächste und vertraute Andere, der die Nation unterminiert und einen Staat innerhalb des Staates bildet.
Deutschland ist zur Selbstverteidigung berufen. Jener Feind stellt alles dar, was der Deutsche nicht ist und nicht sein soll. In Frage steht die Identität, die Reinheit, die Eigentlichkeit, das Beisichsein, die Autochthonie, die Heimat. Die Nation konstruiert sich gegen die Juden.

In der Zange zwischen Amerika und Russland riskiert das deutsche Volk, das „mittlere“ Volk, erstickt zu werden. Gerade wenn seine Geschichtsstunde gekommen ist, wenn es dazu geschickt ist, sich das Schicksal des Abendlands aufzuladen, taucht die unabwendbare Katastrophe der Moderne auf. Die Welt läuft in ihre abgrundtiefe Nacht.

Die Geschichte des Seins ist dann auch ein theologisch-politischer Weg, weil sie die Bahn eröffnet, um zu jenem griechischen Anfang zurückzugehen, der für die Zukunft aufbewahrt worden ist. Hierin ist Deutschlands Berufung zusammengefasst, die Möglichkeit für sein Volk, sich in die Weltgeschichte einzuschreiben.

Die deutsche imitatio von Griechenland ist die Suche nach dem ursprünglichen und originellen Muster der Selbstbildung. Es ist ein Griechenland, das nicht existiert, das nie existiert hat und das nur dank Deutschland ans Licht kommen kann. Es ist nicht das Griechenland, das durch Rom fortgelebt und sich durch dessen Filter verwirklicht hat. Vielmehr ist es das mystische und nächtliche, archaische und tragische, rein heidnische Griechenland, das von Hölderlin besungen, von Hegel erwünscht, von Nietzsche ersehnt wird. Griechenland ist für Hegel das Land der Autochthonie, jenes Beisichseins, das die Philosophie selbst ist. Deshalb haben die Griechen aus der Welt ihre Heimat gemacht.

Der Spieleinsatz ist enorm. Die Gefahr ist eine geistige Existenz einer Nation, die Gefahr läuft, nicht geboren zu werden. Die Fundierungsgeste des tausendjährigen Reichs ist eine Geste gegen Rom, um an seine Stelle zu treten und seine Rolle zu übernehmen. Deutschland kommt zum Dasein, indem es sich über Rom hinaus an das nie realisierte Griechenland anknüpft. Es ist der neue Anfang.

Trotz seiner unzähligen Siege war das Imperium immer mit Israel konfrontiert. Ist endlich der Augenblick gekommen, in dem der endgültige Übergang des „heiligen Feuers“ des Geistes – wie Hegel gesagt hatte – von der „jüdischen Nation“ zum Herzen Europas, zu der aufgehenden deutschen Nation verwirklicht werden kann?

Der jahrhundertlange theologisch-politische Kampf wird in einem apokalyptischen Szenario zu einem planetarischen Krieg gegen die Juden, die, sofern sie weltlos sind, keinen Platz mehr in der Welt habe dürfen. Dies ist der Nationalsozialismus gewesen: das erste biopolitische Projekt einer planetarischen Umgestaltung der Menschheit.

Hans Jonas ist einer der ersten gewesen, die unmittelbar erkannt haben, dass es sich nicht nur um eine Verfolgung, sondern um eine totale Kriegserklärung handelte. Er sprach deshalb von bellum judaicum, in deutlicher Anlehnung an den Ausdruck von Flavius Josephus. Für das selbstproklamierte „Dritte Reich“ waren die Juden der metaphysische Feind. Die Fiktion der „Judenfrage“ gelangte so zu einer konkreten Endlösung.

Eine apokalyptische Eschatologie des Seins

Es ist schwierig, den Platz festzustellen, der den Schwarzen Heften in Heideggers Gesamtwerk zukommt. Dies wird eine der Aufgaben der Forschung sein. Man kann aber schon jetzt sagen, dass die darin enthaltenen Stellen über die Juden und das Judentum keineswegs bagatellisiert werden dürfen.

Die Komplexität des Themas sollte sowohl das stumpf komplizenhafte Verschweigen als auch die kriminalisierende Verurteilung, sowohl die zynische Banalisierung als auch die moralische Empörung verbieten. Wie jeder aufmerksame Leser der Schwarzen Hefte zugeben müsste, sind die Seinsfrage und die Judenfrage eng miteinander verbunden. Beide aber sollten noch in ihrem Zusammenhang ergründet werden. Solange dies nicht geschieht, werden nur weiterhin Kriminalgeschichten der Philosophie ohne philosophischen Belang geschrieben.

Die im modernen Europa erfundene Judenfrage, die auf die aufgeklärte Epoche zurückgeht und in den Gaskammern der Vernichtungslager endet, ist eine eminent philosophische Frage. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Vernichtung von denjenigen, die den Stempel der Andersartigkeit bekommen haben, ein „technisches“ Phänomen gewesen und als solches ist es der abendländischen Metaphysik eingeschrieben. Mehr noch: für das Abendland ist die Shoah die furchtbare Offenbarung sowohl seines Wesens als auch seines Schicksals.
Jene scheinbar harmlosen Metaphern, jene Lügebeschuldigungen sind während der Endlösung buchstäblich genommen worden. Im Nicht-Sein des Juden, der zu sein vorgebe und der als Bürger „nichts“ sei, ertönt schon die Vernichtung. Aber das Buchstäblich-Nehmen war die Arbeit der Henker bei der bürokratischen Organisation des Massenmords sowie in den Lagern.

Heidegger hat in Auschwitz nicht jene Zäsur der Geschichte gesehen, in welcher – wie Paul Celan schreibt – „die Erde sich gefaltet hat“, er ist aber der Philosoph gewesen, der uns einen Großenteil der philosophischen Begriffe gegeben hat, durch die man heute auf das, „was geschah“, blicken kann. Nicht nur das Gestell, nicht nur die Technik; wie Alain Finkielkraut gesagt hat, ist die Banalität des Bösen letzten Endes auch ein Heideggerscher Begriff. Dies bedeutet aber nicht, dass man keine persönliche Verantwortung trägt; denn Menschen können wählen, wie sie handeln.
Die Vollendung des Nihilismus hat in Auschwitz stattgefunden. Wenn ein Gott in jener Apokalypse gestorben ist, war es ein heidnischer Gott (sei er ein erster oder ein letzter) – nicht der Gott Israels, der wohl in seiner geschiedenen Alterität der Rest war, den man vertilgen wollte.

In seiner Eschatologie des Seins ist Heidegger wie keiner anderer die Grenzen der Erde entlang gefahren und hat dabei versucht, in den Abgrund der Nacht zu schauen. Hat er aber das Licht in der Ferne erblickt? Oder ist er nicht auch später in dem tragischen Horizont eines ausweglosen Heidentums, einer Apokalyptik ohne Messianismus gefangen geblieben? Sein Engel der Geschichte wendet sein Antlitz der Katastrophe zu, aber der Sturm weht nicht zwischen seinen Flügeln und treibt ihn nicht nach oben. Er bleibt im Dunst des Schwarzwalds verstrickt.

Heideggers Impasse ist philosophisch. „Geist“, „Wille“, „Entscheidung“, sind die Anzeichen einer Metaphysik, die nicht ohne Gewalt wieder auftaucht. Die Schwierigkeit liegt in der Überwindung der Metaphysik. Denn Heidegger hat nicht gewagt, über die Grenze hinaus zu gehen. Gerade im Juden hätte er den Anderen erkennen können, der ihn über seine Grenze hinaus zu einem anderen Anfang gebracht hätte.

UNSERE AUTORIN:

Donatella Di Cesare ist Professorin für Philosophie an der Sapienza Università di Roma und Vizepräsidentin der Martin Heidegger-Gesellschaft.
donatella.dicesare@uniroma1.it