PhilosophiePhilosophie

02 2014

Tobias Schlicht:
Soziale Kognition

aus Heft 2/2014, S. 22-27

Der Mensch ist ein soziales Wesen, und im Alltag gehen wir unhinterfragt davon aus, dass andere Menschen wie wir selbst geistbegabt sind und somit Gefühle, Gedanken und Absichten haben, und wir geben diese Annahme nur in den äußersten Ausnahmefällen auf. Aber auf welche Weise gelangen wir überhaupt zu berechtigten Überzeugungen darüber, was genau andere in einer bestimmten Situation fühlen, denken oder beabsichtigen, wo uns doch ein direkter Zugang zu deren Psyche verwehrt zu sein scheint? Welche Strategie(n) verwenden wir, um Zugang zu der Psyche eines Anderen zu erhalten und welche Art(en) von Wissen sind dabei involviert? Orientieren wir uns eher an unserem eigenen Vorbild und projizieren unsere Vorstellungen in die andere Person hinein oder ähnelt unsere Fähigkeit zur sozialen Kognition eher unserem theoretischen Verständnis anderer ‚Objekte’? Beruht unser Wissen über die Psyche eines Anderen auf unserem vorhergehenden Selbstverständnis oder sind intentionaler Selbst- und Frem dbezug systematisch gleichberechtigt? Diese und andere Fragen bewegen nicht nur Philosophen seit alters her, sondern gleichermaßen auch Psychologen sowie jüngst auch Neurowissenschaftler, die solchen Fähigkeiten zugrunde liegende psychologische Prozesse und neuronale Mechanismen im Gehirn untersuchen.

Theorie vs. Simulation

In den mittlerweile sehr komplex gewordenen Debatten der letzten zwei Jahrzehnte wurde eine Reihe ganz verschiedener systematischer Ansätze entwickelt, die im Folgenden kurz skizziert sind. Der Kerngedanke der „Theorie-Theorie“ (z.B. Gopnik & Wellman 1992) besteht darin, dass wir dem Geist eines Anderen gegenüber stehen wie ein Wissenschaftler mit seinem genuinen Forschungsgegenstand befasst ist: Wir versuchen, uns das beobachtete Verhalten anderer Personen dadurch verständlich zu machen, dass wir theoretische Entitäten, nämlich in diesem Fall mentale Einstellungen, zuschreiben. Wir formulieren und rekurrieren also in unserem alltäglichen Verstehen Anderer buchstäblich auf eine Theorie des Geistes als Menge von Annahmen und psychologischen Gesetzmäßigkeiten oder Daumenregeln darüber, wie Menschen sich in bestimmten Situationen verhalten. Soziale Kognition erfolgt analog zur Anwendung einer wissenschaftlichen Theorie, die selbst heranwachsende Kinder bereits besitzen und verfeinern, bis sie schließlich etwa im Alter von 4-5 Jahren dazu in der Lage sind, auch falsche Überzeugungen anderer Menschen zu verstehen (Wimmer & Perner 1983). D. h., sie erklären sich das Verhalten anderer dann nicht mehr anhand ihres eigenen Modells der Welt, sondern anhand der Repräsentationsweise des Anderen, die dem Zustand der Welt nicht zwangsläufig entsprechen muss; kurz, sie scheinen zu verstehen, dass jeder die Welt auf eine eigene Weise zu repräsentieren vermag und dies für seine oder ihre Handlungsentscheidungen zentral ist.

Vertreter der „Simulationstheorie“ (z. B. Goldman 2006) halten die Erklärung sozialer Kognition durch theoretisches Schlussfolgern für unangemessen, übertrieben kompliziert und zu anspruchsvoll angesichts der Fähigkeiten kleiner Kinder. Stattdessen verstehen wir andere vielmehr dadurch, dass wir uns in sie bzw. ihre Situation hineinversetzen und uns auf der Basis unserer eigenen persönlichen Erfahrungen vorstellen, was wir in dieser Situation fühlen, denken oder beabsichtigen würden. Ausgehend von beobachtetem Verhalten bringen wir demnach in uns u. a. Als-ob-Wünsche, Als-ob-Überzeugungen und Als-ob-Absichten hervor, während wir unsere tatsächlichen Wünsche, Überzeugungen und Absichten isolieren und zu unterdrücken versuchen, um mit jenen Als-ob-Einstellungen einen Entscheidungsprozess zu simulieren, dessen Ergebnis wir schließlich in den Anderen projizieren, statt in die Tat umzusetzen. Man kann die Simulationstheorie auch als moderne Fortführung der Theorie der Einfühlung oder „Empathie“ (Stüber 2006) auffassen.

Ein dritter Ansatz, die „Modularitätstheorie“ (z. B. Baron-Cohen 1995), nimmt fest verdrahtete, angeborene neuronale Module an, die in der Ontogenese mittels unterschiedlicher (z. B. auf Blickrichtungen spezialisierte) „Merkmalsdetektoren“ durch Sinnesreize nach und nach aktiviert werden und schließlich zum Erwerb einer Theorie des Geistes führen. Insbesondere pathologische Beeinträchtigungen der sozialen Kognition bei autistischen Patienten motivieren diesen Ansatz, insofern ein Modul isoliert ausfallen kann, während es andere Fähigkeiten unangetastet lässt. Bei Autisten ist dieser Theorie zufolge das Theory-of-Mind-Modul beeinträchtigt. Ein weiterer Ansatz, die „Personen-Modell-Theorie“, geht davon aus, dass wir mit Hilfe unterschiedlicher Kanäle Informationen in diversen Repräsentationsformaten zu Modellen zusammentragen, z. B. von Freunden und Bekannten, der eigenen Mutter oder auch von uns selbst. Dazu zählt visuelle Information, im eigenen Fall auch propriozeptive Daten, aber auch indirektes Wissen, vermittelt über Dritte. Zusammen mit kontextuellen Hinweisen ermöglichen diese Modelle bzw. im Gehirn angelegten „Akten“, sich rasch einen Reim auf das Verhalten einer Person zu machen (Newen & Schlicht 2009).

Keiner dieser Ansätze, für die es jeweils auch gute Argumente gibt, ist frei von Problemen und offenen Fragen, So wird der Theorie-Theorie vorgeworfen, sie erfasse nicht die Besonderheit der sozialen Kognition, dass ihr Gegenstand nämlich Personen sind, die sich von anderen Gegenständen z.B. der Naturwissenschaften in vielerlei Hinsicht grundlegend unterscheiden. Auch die These, dass Kleinkinder bereits über eine – wenn auch rudimentäre – Theorie verfügen sollen, erscheint vielen wenig plausibel. Die Simulationstheorie scheint dagegen in gravierender Weise zirkulär zu sein: Denn wenn der Simulierende in sich Als-ob-Einstellungen hervorrufen soll, die denen des zu Simulierenden ähneln bzw. entsprechen, um sie oder ihn dann erst zu verstehen, so muss bereits bekannt sein, was der- oder diejenige fühlt oder denkt, damit man sich überhaupt in einen ähnlichen Zustand versetzen kann. Man kann dieses Vorwissen aber nicht seinerseits durch Simulation erwerben. Wenn es auf theoretischem Wege erworben wird, dann ist nicht klar, welche explanatorische Rolle der Simulationsprozess noch spielen soll. Das Postulat, soziale Kognition beruhe, wie die Modularitätstheorie behauptet, auf einem angeborenen neuronal realisierten Modul, bricht mit diesem expliziten Nativismus prinzipiell den Erklärungsprozess ab und setzt zudem eine massiv modulare Organisation des Geistes (und Gehirns) voraus. Dieser Aspekt ist auch für die Personen-Modell-Theorie problematisch, da z. B. aufgrund von Gehirnschäden die Gesichtererkennung oder andere Sinnesfunktionen selektiv ausfallen können, wovon aufgrund der resultierenden Beeinträchtigungen auch die Fähigkeit zur Empathie betroffen sein müsste, was aber nicht offensichtlich der Fall zu sein scheint.

Viele dieser konkurrierenden Ansätze, vor allem Theorie- und Simulations-Theorie, teilen über diese spezifischen Probleme hinaus einige Grundannahmen, die in der Forschung ebenfalls kontrovers diskutiert werden:

(1) So wird in diesen Ansätzen konsequent ein direkter Zugang zum Geist anderer geleugnet, was zu einer epistemischen Lücke führt, die durch einen der angegebenen Mechanismen überbrückt werden muss.

(2) Darüber hinaus wird soziale Kognition weitestgehend als passive und einseitige Angelegenheit konzipiert, insofern wir jeweils vermeintlich nicht mit dem anderen interagieren, sondern bloß einen ihm oder ihr gegenüber isolierten Standpunkt einnehmen.

(3) Schließlich beanspruchen diese Theorien jeweils, dass es nur eine sozial-kognitive Strategie geben könne und die Ansätze somit einander jeweils ausschließen. Diese drei Annahmen können jedoch mit guten Gründen zurückgewiesen werden.

Die Rolle der Interaktion

Dies führt sowohl systematisch als auch historisch zu der jüngeren Renaissance phänomenologischer Ansätze zum Problemfeld der Intersubjektivität, d. h. einer Rückerinnerung und Weiterführung der perspektivenreichen und durchaus unterschiedlichen Positionen von Husserl, Heidegger, Stein, Sartre und Merleau-Ponty in den Werken z. B. von Gallagher (2005) und Zahavi (2005). Gemeinsam ist diesen Positionen die Zurückweisung der obigen drei Thesen. So betont Gallagher z. B., dass mentale Einstellungen etwa in Gesichtsausdrücken wenigstens zum Teil sichtbar und somit direkt wahrgenommen werden können. Jemandes Gestik, Mimik und andere, wesentlich verkörperte, Ausdrucksweisen sind dem Blick nicht entzogen; sie können aber durchaus als konstitutive Elemente entsprechender Gefühle, Gedanken und Absichten angesehen werden. Die Berücksichtigung des Körpers und der unmittelbaren (physischen und sozialen) Umgebung des Selbst, in der kognitive Akte vollzogen werden, ist wesentliches Merkmal der in der Kognitionswissenschaft sich durchsetzenden Auffassung von Kognition als verkörperter und situierter Aktivität eines Lebewesens (siehe Walter im nachfolgenden Text). Besonders Emotionen und Handlungsabsichten sind wesentlich verkörpert. Da diese Ausdrucksseite ein konstitutiver Aspekt des Mentalen ist, sind diese Einstellungen nicht völlig hinter physikalischen und für sich bedeutungslosen Verhaltensweisen verborgen, sondern der visuellen Wahrnehmung anderer Personen zugänglich. Damit verschwindet aber die angenommene absolute epistemische Kluft zwischen Selbst und Anderen.

Außerdem ist soziale Kognition keine einseitige passive Angelegenheit, wie Gallagher betont, sondern vollzieht sich paradigmatisch in Interaktion über verkörperte Praktiken wie eben Gestik und Mimik. Es macht für die soziale Kognition einen bedeutsamen Unterschied, ob man nur beobachtet, wie andere Akteure agieren und miteinander interagieren, oder ob man selbst aktiv in die Interaktion involviert ist und sich mit dem Anderen von Angesicht zu Angesicht auseinandersetzt. Die Kernidee von Gallaghers „Interaktionstheorie“ lautet daher, dass wir nur in seltenen Fällen auf theoretische Überlegungen aus der Dritte-Person-Perspektive zurückgreifen müssen; das Konzept der Simulation könne man dagegen, so Gallagher, aus begrifflichen Gründen überhaupt nicht auf die soziale Kognition anwenden. Weder Schlussfolgerungen noch Simulationen sind somit die üblichen Strategien zum Verstehen anderer Personen; vielmehr könnten wir basale mentale Einstellungen direkt wahrnehmen. Insofern in paradigmatischen sozialen kommunikativen Kontexten immer zwei oder mehrere Personen aufeinander bezogen und miteinander zu einem komplexen System „gekoppelt“ sind, vollzieht sich auch der Prozess der sozialen Kognition nicht individuell, sondern zwischen den Interaktionspartnern.

Auf Max Schelers Überlegungen aufbauend betont Gallagher, dass wir einen Gesichtsausdruck unmittelbar als verängstigt, als fröhlich usw. wahrnehmen, so wie wir ein Auto unmittelbar als fahrbar, komfortabel etc. wahrnehmen. Nicht nur unsere Umgebung und physikalische Objekte, sondern auch Personen und deren mentale Einstellungen eröffnen uns in der alltäglichen Interaktion zahlreiche Handlungsmöglichkeiten (Affordanzen), von denen einige angemessen, andere unangemessen sind. Der Psychologe James J. Gibson hatte dieses Konzept in seiner ökologischen Theorie der Wahrnehmung in Bezug auf unsere unmittelbare Umgebung entwickelt, es lässt sich aber auch auf die soziale Domäne erweitern: So wie ein Stuhl zum Sitzen einlädt, ermöglichen das Lächeln einer anderen Person oder eine ausgestreckte Hand verschiedene Reaktionen, die in eine reziproke soziale Interaktion münden können. Aktion und Reaktion modifizieren jeweils entscheidend die Geisteshaltung aller Beteiligten, d. h. entgegen der Prämissen der Theorie-Theorie lassen Interaktionsangebote den jeweils anderen nicht unberührt und haben im Fall der sozialen Kognition somit Einfluss auf das Verstehen wie auch auf das „Objekt“ des Verstehens. Soziale Kognition verläuft somit gerade nicht analog zur Erforschung von Bäumen und Planeten, und wir stehen dem Anderen nicht wie ein Wissenschaftler gegenüber.

So weist Gallagher mit seiner Kritik an zentralen Prämissen der oben genannten Ansätze den Weg zu einer phänomenologisch inspirierten theoretischen Alternative, wobei er die Möglichkeit der direkten Wahrnehmung der geistigen Dimension anderer Personen betont. Diese letztere These ist freilich in genau dem Maße kontrovers, in dem die Möglichkeit einer direkten Wahrnehmung prinzipiell erkenntnistheoretisch problematisch ist. Gegner dieser Auffassung können akzeptieren, dass mentale Einstellungen insbesondere über ihren verkörperten Aspekt zum Inhalt der Wahrnehmung werden können. Ob allerdings dieser Wahrnehmungsprozess direkt oder indirekt abläuft, ist eine davon unabhängige Frage.

Know How

Eine zentrale Funktion kommt in Gallaghers Ansatz nonverbalen verkörperten Formen der Kommunikation zu. Abhängig von unserer Rolle in sozialer Interaktion drücken wir durch Gesten entweder unsere eigenen Gefühle, Gedanken und Absichten aus oder nehmen gestische Mitteilungen des Anderen wahr und können in angemessener Weise darauf reagieren. Kinder verstehen bereits sehr früh die kommunikativen Gesten ihrer Bezugspersonen wie z. B. Studien zur Imitation zeigen. Von Geburt an ist zudem besonders die dyadische Beziehung zwischen Mutter und Säugling dialogisch und „zwischenleiblich“ (Merleau-Ponty), insofern die Protokonversationen im gesamten ersten Lebensjahr des Kindes durch mimische, affektive und andere Ausdrucksweisen, die eine eindeutig leibliche Komponente aufweisen, konstituiert sind. Kinder demonstrieren darin bereits ein enormes Feingefühl für den Rhythmus und das Hin und Her der Konversation. In dieser für die kindliche Entwicklung enorm wichtigen systematischen Interaktion werden Gefühle unmittelbar ausgetauscht.

Eine solche Resonanz erfordert allerdings weder eine Theorie im Sinne einer Menge von Regeln, noch eine Simulation des jeweils anderen, sondern vielmehr eine Form von know how, das durch „learning by doing“ vom Kind erworben und eingesetzt wird. Es ist eine Kenntnis verkörperter Praktiken und Ausdrucksweisen, die das Kind selbst einsetzt und durch diesen Einsatz bei anderen wiedererkennt, so wie wir später erkennen, wann jemand eine bestimmte Tätigkeit gut oder schlecht ausführt, die wir selbst beherrschen, etwa Radfahren oder Schwimmen. Das für soziale Kognition demnach fundamentale und ontogenetisch primäre Wissen ist nicht ein propositionales Wissen, dass dies oder jenes der Fall ist, sondern ein davon verschiedenes prozedurales Wissen, ein Können oder Wissen-wie. Es ist an die Ausführung relevanter motorischer Handlungen gebunden und geht jeglichem theoretischen Wissen sowohl systematisch als auch ontogenetisch voraus. Diese Auffassung setzt sich einerseits wesentlich von der Theorie-Theorie ab, die mit ihrem postulierten Wissen von psychologischen Gesetzmäßigkeiten und Daumenregeln immer von einem propositionalen Wissen ausgeht; andererseits setzt sie sich auch von dem radikalen enaktiven Ansatz ab, der zufolge diese kognitiven Fähigkeiten keinerlei Repräsentationen zulassen; vielmehr können auch sensomotorisches Wissen und die Ausführung von Gestik, Mimik und anderen körperlichen Handlungen durch spezifische Repräsentationen analysiert werden (Schlicht 2013).

Kontroversen der empirischen Forschung

Gerade auf dem Gebiet der sozialen Kognition tritt der stark interdisziplinäre Charakter der gegenwärtigen Philosophie des Geistes deutlich hervor. Zum einen kann eine philosophische Theorie nicht völlig ohne Anbindung an empirische Daten und Bestätigung durch diese formuliert werden, zum anderen sollen über die philosophische Analyse des Begriffs der sozialen Kognition hinaus die psychologischen Prozesse und neuronalen Mechanismen aufgeklärt werden, welche dieser Fähigkeit zugrunde liegen. Zwei grundsätzliche Debatten, die speziell auf empirische Entdeckungen in den Neurowissenschaften und der Entwicklungspsychologie zurückgehen, seien im Folgenden abschließend kurz umrissen.

Die Erkenntnisse der Neurowissenschaften bezüglich der Grundlagen von Kognition und Bewusstsein im Gehirn durchdringen seit geraumer Zeit auch die philosophischen Debatten. Gibt es neuronale Korrelate oder gar ein spezielles Modul für das Verstehen der mentalen Einstellungen anderer Menschen? Untersuchungen durch die noch junge soziale Neurowissenschaft führten zu zwei konkurrierenden Befunden, dem „Spiegelneuronen-System“ einerseits und dem „Gedankenlese-System“ andererseits (vgl. Schilbach et al. 2013). Spiegelneuronen (vor allem im prämotorischen Cortex) werden nicht nur dann aktiviert, wenn man selbst eine zielgerichtete Handlung, etwa eine Greifbewegung, ausführt oder eine Emotion fühlt, die eine körperliche Komponente aufweist; sie feuern auch, wenn man eine andere Person beobachtet, wie sie entweder jene Handlung ausführt oder sich in einem entsprechenden emotionalen Zustand befindet (Rizzolatti & Sinigaglia 2008).

Daneben gibt es den Befund, dass eine Gruppe signifikanter neuronaler Strukturen, die von Hirnforschern auch unter dem Ausdruck „Mittellinienstrukturen“ zusammengefasst werden, immer dann in höherem Maße aktiviert ist, wenn wir explizit und in abstrakt-evaluierender Weise über die mentalen Einstellungen Anderer nachdenken und sie ihnen zuschreiben, um sie zu verstehen oder zu antizipieren, was sie als nächstes tun werden. Dieses so genannte „Gedankenlese-System“ wird auch dann aktiviert, wenn man Probanden Videos zeigt, in denen andere Personen miteinander interagieren. In diesem Fall nehmen jene nur den passiven Standpunkt eines Beobachters ein. Nun überrascht diese Dopplung neuronaler Schaltkreise. Warum sollten sich im Gehirn zwei verschiedene großräumige Netzwerke für die Funktion(en) sozialer Kognition befinden? Eine mögliche Erklärung für diesen Befund könnte darin bestehen, dass die neuronalen Systeme die Dichotomie zwischen Wissen und Können, also propositionalem und prozeduralem Wissen, widerspiegeln. Eine andere Erklärung dafür könnte auf den bedeutsamen Unterschied zwischen passiver Beobachtung einerseits und aktiver Interaktion andererseits hinweisen, der möglichweise auch auf neuronaler Ebene die Aktivierung der beiden neuronalen Netzwerke moduliert (Schilbach et al. 2013).

Die Eigenschaften der Spiegelneuronen haben jedenfalls tiefgreifende Konsequenzen für unser Verständnis von Kognition, vom Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Handlung sowie für die Konzeptualisierung sozialer Kognition. Die scheinbare Neutralität ihrer Aktivierung hinsichtlich des Subjekts bzw. Akteurs der betreffenden Handlung oder Emotion wird von vielen als Basis einer unbewusst ablaufenden internen Simulation und damit als empirischer Beleg für die Simulationstheorie gedeutet (Goldman 2006). Dagegen hat Gallagher vorgeschlagen, Spiegelneuronen vielmehr als Grundlage einer direkten Wahrnehmung von Handlungsabsichten bzw. Emotionen zu betrachten. Eine dritte Deutungsmöglichkeit betrachtet die Aktivität der Spiegelneuronen im Sinne von Merleau-Pontys Bemerkung, dass wir in den Handlungen des Anderen unsere eigenen möglichen Handlungen erleben. Vor dem Hintergrund von Gibsons Begriff der Affordanzen besagt dies, dass sie das beobachtende Subjekt intentional oder emotional in einen Bereitschaftszustand versetzen, insofern zwar die jeweiligen neuronalen Netzwerke des entsprechenden Handlungsprogramms oder der entsprechenden Emotion aktiviert werden, dies aber noch nicht bedeutet, dass das Subjekt automatisch die beobachtete Handlung ausführt bzw. die beobachtete Emotion nachempfindet. Spiegelneu-ronen werden nur dann aktiviert, wenn das Subjekt prinzipiell in der Lage ist, die entsprechende Handlung auszuführen. Wenn ich beobachte, wie ein Hund bellt, regen sich bei mir keine Spiegelneuronen, da Bellen nicht zu den Tätigkeiten gehört, die ich ausführen kann. Diese Deutung der empirischen Evidenz, die hier nur skizziert werden kann, steht im Einklang mit der Konzeptualisierung der sozialen Kognition als know how, denn besitzt man das nötige motorische Wissen zur Ausführung einer Handlung, so kann man die Ausführung solcher Handlungen auch bei anderen beurteilen; dazu könnten die Spiegelneuronen eine Grundlage liefern (vgl. Schlicht 2013).

Allerdings ergibt sich auch ein Problem, wenn man die fundamentale Art der sozialen Kognition als verkörpertes know how konzipiert. Und zwar betrifft dies die unter Philosophen und Psychologen heftig diskutierte Frage nach dem Verständnis falscher Überzeugungen bei Kleinkindern. Gemäß der lange Zeit dominanten Theorie-Theorie galt es, basierend auf klassischen Experimenten wie den „False-Belief-Tasks“ (Wimmer & Perner 1983), bis vor kurzem als evident, dass Kinder erst ab dem Alter von 4-5 Jahren verstehen, dass andere Personen die Welt repräsentieren und ihre Überzeugungen über die Welt auch falsch sein können. Anhand jüngerer Varianten dieser Experimente, die nicht auf verbale Instruktionen und Antworten angewiesen sind, sondern Blickzeiten und -richtungen erfassen, schließen einige Forscher, dass Kinder bereits viel früher, etwa mit 1,5 Jahren, ein implizites Verständnis von falschen Überzeugungen Anderer aufweisen, auch wenn sie selbst lange danach noch nicht in der Lage sind, dies auch explizit zum Ausdruck zu bringen. Trifft diese Deutung zu, so ergibt sich die paradoxe Situation, dass sie über dieses Verständnis zwar implizit zu verfügen scheinen, dies aber dennoch etwa zwei bis drei Jahre später erst explizit in ihren Antworten zu verstehen geben können (de Bruin & Newen 2012). Das scheinbar frühe Verständnis spräche für die Modularitätstheorie und verwandte Ansätze, denen zufolge es für soziale Kognition angeborene Module gibt. Das mangelnde explizite Verständnis allerdings weist auf die Rolle von Kultur und insbesondere Sprachfähigkeit in Bezug auf soziale Kognition hin. Wie lässt sich diese offensichtliche Lücke schließen, und wie müssen wir den Übergang vom impliziten zum expliziten Verständnis falscher Überzeugungen charakterisieren? Wie kann der skizzierte Ansatz zur Erklärung von sozialer Kognition als verkörpertes know how mit diesen Befunden umgehen? Hier bestehen noch wichtige offene Fragen für die künftige Forschung.

LITERATUR

Alle Literaturangaben, bis auf Walter (siehe nachstehend) finden sich in Schlicht (2013). sowie unserer Website www.information-philosophie.de (rechte Seite). Besonders hervorgehoben seien:

Esken, F., Rakoczy, H. (2013) Theory of Mind. In: Handbuch Kognitionswissenschaft. Hrsg. von A. Stephan, S. Walter. Stuttgart: Metzler, 444-451.

Schilbach, L., Timmermans, B., Reddy, V., Costall, A., Schlicht, T., Bente, G., Vogeley, K. (2013) Towards a Second-Person Neuroscience. Behavioral and Brain Sciences 36: 393-462.

Schlicht, T. (2013) Mittendrin statt nur dabei. Wie funktioniert soziale Kognition? In: Grenzen der Empathie. Hrsg. von Thiemo Breyer. Freiburg: Alber.


UNSER AUTOR:

Tobias Schlicht ist Professor für Philosophie des Bewusstseins und der Kognition an der Universität Bochum.