PhilosophiePhilosophie

POSITIONEN

David Lauer:
John McDowell


aus Heft 2/2014, S. 34-41

John McDowell (geb. 1942) ist einer der einflussreichsten und meistdiskutierten Philosophen der Gegenwart. Er studierte in Oxford und lehrte dort im Anschluss zwanzig Jahre lang als Lecturer, bevor er 1986 als Professor an die Universität Pittsburgh ging. Sein 1994 veröffentlichtes Buch Mind and World (dt. Geist und Welt, 1998), das auf seine Oxforder John-Locke-Lectures im Jahr 1991 zurückgeht, erlangte innerhalb weniger Jahre den Status eines modernen Klassikers. Abgesehen von Geist und Welt besteht das Werk McDowells aus zahlreichen Aufsätzen, die in vier Bänden gesammelt vorliegen. Nicht wenige dieser Aufsätze besitzen ebenfalls den Status kanonischer Texte auf ihrem jeweiligen Gebiet. Sie umfassen ein beeindruckendes Feld von der Philosophie des Geistes und der Sprache über die Erkenntnistheorie bis zur Ethik.

McDowell gehört zu einer Generation britischer Philosophen, zu deren prägenden Lehrern Figuren wie M. Dummett, P. Strawson und D. Wiggins gehörten und die andere herausragende Köpfe wie C. Wright, S. Blackburn und Ch. Peacocke hervorgebracht hat. Im Unterschied zu den Letztgenannten zeichnet sich McDowells Philosophie dadurch aus, dass es heute unmöglich ist, sie sinnvoll entweder dem analytischen oder dem sogenannten kontinentalen Lager der Philosophie zuzuordnen. Während nämlich McDowells Werk einerseits im Kontext der analytischen Philosophie entstanden und von ihr geprägt ist (insbesondere von Frege, Wittgenstein, Davidson, Sellars und Evans), so ist es doch auf der anderen Seite fest verwurzelt in der klassischen Philosophie, unter deren Autoren Aristoteles, Kant, Hegel und Gadamer für McDowell besondere Bedeutung besitzen.

Therapeutisches Philosophieverständnis

In metaphilosophischer Hinsicht ist McDowells Denken stark geprägt von der Philosophie Wittgensteins. Dessen Verständnis der philosophischen Tätigkeit wird von McDowell als „therapeutisch“ und von seinen Opponenten in polemischer Absicht gelegentlich als „quietistisch“ bezeichnet. Gemeint ist Folgendes: Philosophische Fragen sind häufig dadurch motiviert, dass lebensweltliche Praktiken den Praktizierenden selbst unverständlich geworden sind. Daher entsteht der Verdacht, es könne sich von einem externen Standpunkt aus zeigen, dass es sich nur um illusionäre Pseudo-Praktiken handelt. Von der Philosophie wird dann erwartet, diesen externen Standpunkt einzunehmen und die fragliche Praxis entweder theoretisch zu fundieren oder zu verwerfen. Ein Beispiel für eine solche Problemstellung wäre der neuzeitliche Skeptizismus, der die Frage aufwirft, ob man ausschließen könne, dass unsere Praxis des Erhebens und Verteidigens von Wissensansprüchen eine illusionäre Pseudo-Praxis ist.

McDowell folgt nun Wittgenstein – erstens – in der Auffassung, dass unser vortheoretisches Zuhausesein in der Lebenswelt das unhintergehbare Fundament jeder philosophischen Anstrengung ist. Unsere Praktiken selbst sind das Hinzunehmende, Gegebene. Die skeptische Beunruhigung, die sich am Ende mancher philosophischer Gedankengänge einstellt, kann niemals dazu berechtigen, dieses Faktum in Frage zu stellen. Sie führt den Philosophen vielmehr zu seiner eigentlichen Frage: wie das, was offensichtlich wirklich ist, möglich ist. McDowell vertritt – zweitens – mit Wittgenstein die Auffassung, dass die begrifflichen Mittel, die nötig sind, um die in Frage gestellten Praktiken durchsichtig machen und wieder aneignen zu können, immer aus der betreffenden Praxis selbst heraus entwickelt werden müssen und nicht von einem externen Standpunkt. Von einem solchen Standpunkt „von der Seitenlinie“ aus lassen sich unsere Praktiken nämlich nicht fundieren – genau so wenig, wie sie sich von dort aus als illusionär erweisen lassen. Der Skeptizismus ist in der Regel bloß die Konsequenz des Ansinnens, eine solche Rechtfertigung „von der Seitenlinie“ überhaupt geben zu wollen. Gibt man dem Ansinnen nach, sieht man sich mit der Unlösbarkeit der Aufgabe konfrontiert, was der Skeptiker sich zunutze macht. Stattdessen sollte man das Ansinnen selbst zurückweisen, indem man aufzeigt, dass eine solche Fundierung überhaupt nicht erforderlich ist. So wird das scheinbare Problem der Unbegründetheit der Praxis gar nicht erst erzeugt. Eine McDowell’sche Stellungnahme in einem Streit darüber, mittels welcher philosophischer Theorie eine bestimmte Redeweise begrifflich zu fundieren sei, ist daher in der Regel weder eine Stellungnahme für oder gegen eine der diskutierten Theorien, noch die Entwicklung einer weiteren. Vielmehr wird gezeigt, wie sich durch die reflexive Erinnerung an bestimmte begriffliche Zusammenhänge ohne Fundierung leben lässt. Damit entfällt aus McDowells Perspektive gleichzeitig die Notwendigkeit, sich mit den Details der auf dem Markt befindlichen Theorien zur Lösung des vermeintlichen Problems näher zu befassen. Dieser minimalistische philosophische Ansatz lässt sich, aus der Warte seiner Gegner betrachtet, häufig nur schwer von einer Form der Diskussionsverweigerung unterscheiden.

Anschauung und Begriff

Im Zentrum von McDowells Werk steht seit Geist und Welt die kantische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Intentionalität: Wie kann der menschliche Geist auch nur den Anspruch erheben, sich in seinem Denken auf eine objektive Welt zu beziehen? Wie kann ein Subjekt sich als „offen zur Welt“ begreifen? Dies ist keine epistemologische, sondern eine metaphysische Fragestellung. Es geht nicht um die Frage, welche unserer Überzeugungen wahr sind und wie man das herausfinden kann, sondern um die Frage, wie es überhaupt möglich ist, Überzeugungen zu haben – etwas, das von der Welt so handelt, dass die Welt es wahr oder falsch macht.

Für McDowell ist der Begriff der sinnlichen Wahrnehmung der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage. Wie können wir verstehen, dass uns die objektive Welt in unserer subjektiven Wahrnehmung gegeben ist? Wie können wir uns in unserer Wahrnehmung als weltoffen – als having the world in view, die Welt im Blick habend – begreifen? Wie ist es möglich, um es noch einfacher zu sagen, dass wir Gegenstände sehen können – und nicht etwa nur private, formlose Empfindungen? Ohne eine Explikation dieser Intentionalität der Wahrnehmung kann McDowell zufolge die Welthaltigkeit unseres Denkens und Redens insgesamt nicht verstanden werden. Insofern verteidigt er einen minimalen Empirismus. Damit wendet er sich einerseits gegen Positionen wie diejenige Davidsons und Brandoms, die glauben, Wahrnehmung (sentience) auf ein bloß kausales Geschehen reduzieren zu können, statt sie als intentionales und rationales Vermögen zu begreifen. Andererseits wendet er sich gegen den traditionellen Empirismus, der gerade nicht verständlich machen kann, wie uns in der Wahrnehmung Welt gegeben sein kann, da er unter dem sinnlich Gegebenen bloß ein ungeformtes sinnliches Datenmaterial versteht, das nicht als solches welterschließend ist, sondern der konstruktiven Interpretation bzw. Formung durch den Geist bedarf. In diesem Punkt schließt sich McDowell der von Davidson und Sellars formulierten Kritik des Schema-Inhalts-Dualismus bzw. des Mythos des Gegebenen an. Das Gegebene, wie es der traditionelle Empirismus sich vorstellt, wäre nicht in der Lage, die Rolle auszufüllen, die der Empirismus ihm zudenkt, nämlich als letzte Instanz der Rechtfertigung über die Wahrheit unserer Überzeugungen Gericht zu sitzen. Überzeugungen sind propositionale Einstellungen, begrifflich artikuliert. Sie können nur durch etwas gerechtfertigt werden, das seinerseits begrifflich artikuliert ist.

So sieht sich der Empirist vor das scheinbare Dilemma gestellt, dass er einerseits Wahrnehmung als intentional gehaltvoll begreifen muss, aber andererseits nicht zu erklären vermag, wie sie so begriffen werden kann. Aus diesem Dilemma soll McDowells Strategie einen Ausweg weisen. Denn das Dilemma besteht nur, solange man annimmt, dass etwas nur entweder ein Akt der Wahrnehmung oder ein begrifflicher Akt sein kann, nicht jedoch beides. Das Dilemma – und damit die Schwierigkeit, zu verstehen, wie wir wahrnehmend offen zur Welt sein können – löst sich auf, wenn wir die Idee zulassen, dass menschliche Wahrnehmung selbst ein irreduzibel begrifflich artikuliertes Vermögen ist, d. h. wenn wir den Dualismus zwischen Anschauung und Begriff fallen lassen. Die Sinneswahrnehmung des animal rationale muss als Amalgam aus Rezeptivität und Spontaneität verstanden werden, als Erfahrung, in der begriffliche Fertigkeiten passiv in Anspruch genommen werden. Erfahrungen zu machen heißt also nicht, vorbegriffliche Gehalte zu konzeptualisieren.
Es gibt nicht zwei Arten von Gehalt in unserem geistigen Haushalt, begrifflichen und nichtbegrifflichen, und demnach keine Frage danach, wie beide zu vermitteln seien. Man kann dann verstehen, wie die Erfahrung uns Gründe für unsere Überzeugungen liefern kann und wie es möglich ist, dass es dieselben Gegenstände sind, die wir begrifflich erfassen und die uns sinnlich präsent sind.

An dieser grundlegenden konzeptualistischen Konzeption hat McDowell in den letzten zwanzig Jahren immer wieder Feinjustierungen vorgenommen und sie dabei immer mehr zur expliziten Deckung mit Kants Auffassung gebracht, so wie McDowell sie interpretiert. Hatte er in Geist und Welt die Gehalte der Wahrnehmung noch als propositionale Gehalte verstanden, so trat seit den Woodbridge Lectures von 1997 die kantische Konzeption der logischen Form einer Anschauung (intuition) in den Vordergrund. In jüngsten Überlegungen scheint sich eine noch weiter gehende Abschwächung der Begrifflichkeitsthese – die man aber auch als Fokussierung verstehen könnte – anzudeuten. McDowell lässt nun durchaus die Möglichkeit artikulierbaren, aber unartikulierten Wahrnehmungsgehalts zu, solange dieser in eine durch die Einheit der Erfahrung bzw. des Selbstbewusstseins in der transzendentalen Apperzeption zusammengehaltene Form integriert ist.

Geist und Welt


Die Bestimmung menschlicher Wahrnehmung als begrifflich geprägtes Vermögen ist nur ein erster Schritt der Antwort auf die Frage, wie das Subjekt sich als weltoffen, als intentional auf Welt gerichtet verstehen kann. Erforderlich ist es weiterhin, Wahrnehmungen nicht als eine Schicht epistemischer Zwischenglieder zu verstehen, die den Geist von der Welt abschneidet und ins Reich seiner inneren Vorstellungen einsperrt. (Andernfalls wäre rein gar nichts dadurch gewonnen, dass man die Zwischenglieder nun irgendwie als „begrifflich“ auffasst.) Erfahrung ist transparent auf Welt, kein Schleier innerer Vorstellungen oder ideas. In der sinnlichen Erfahrung, könnte man auch sagen, ist die Welt präsent, nicht repräsentiert, und gegenwärtig, nicht vergegenwärtigt. McDowells Position ist somit eine Form des direkten Realismus; er vertritt also in diesem Zusammenhang die ungewöhnliche Position, dass Wahrnehmung sowohl direkt relational (die intentionalen Objekte der Wahrnehmung sind die Gegenstände selbst) als auch begrifflich gehaltvoll sei. In der sinnlichen Erfahrung nimmt man sowohl etwas als etwas als auch die Welt als solche wahr.

Die Kombination dieser beiden Auffassungen hat nun eine absurd erscheinende Konsequenz, nämlich dass die Welt selbst begrifflich strukturiert ist. Tatsächlich unterschreibt McDowell diese These und argumentiert, dass der Anschein der Absurdität sich verflüchtigt, wenn man einen weiteren überkommenen begrifflichen Dualismus fallen lässt, nämlich den zwischen Geist und Welt selbst. Dass sich in begrifflichen Einstellungen die Welt als solche unmittelbar zur Geltung bringt, scheint nur dann eine Unmöglichkeit zu sein, wenn man den Geist als ein „inneres“, nicht als solches Welt involvierendes Vermögen begreift und begrifflichen Gehalt somit als weltfremd – indem man beispielsweise Begriffe als abstrakte Kennzeichnungen bzw. Beschreibungen begreift, deren Sinn sich unabhängig von jeder konkreten, situationsgebundenen Instantiierung angeben lassen muss. So scheint die skeptische Frage aufgeworfen, ob unsere Begriffe überhaupt auf die Welt „passen“.

Dieses Problem ist nur dadurch aufzulösen, dass man den Geist als ein Vermögen beschreibt, welches gar nicht wäre, was es ist, wenn es nicht in seinen fundamentalen Akten ein als solches Welt involvierendes Vermögen wäre. Zentral für dieses radikal anti-cartesianische Verständnis des Geistes ist das von McDowell schon in den siebziger und achtziger Jahren mit Gareth Evans entwickelte neo-fregeanische Verständnis des Begrifflichen. So wie Wahrnehmungen keine epistemischen Zwischenglieder zwischen Geist und Welt sind, so sind Begriffe keine semantischen Zwischenglieder, die uns von der Welt abschneiden.

Grundlegend für diesen Gedanken ist McDowells Konzeption von begrifflichen Gehalten de re. Ein begrifflicher Gehalt de re ist objektabhängig in dem Sinne, dass er mitkonstituiert wird durch die Existenz genau des Gegenstandes, auf den er sich bezieht. Der paradigmatische Fall des Gehalts de re ist ein deiktischer Gehalt. Dabei handelt es sich um einen Begriff, dessen Verfügbarkeit abhängt von der wahrnehmbaren Präsenz eines bestimmten Objekts im Blickfeld desjenigen, der diesen Begriff erfasst. In einem solchen begrifflichen Gehalt ist der fragliche Bezugsgegenstand dem Subjekt begrifflich gegeben als „dieser Gegenstand“. Man kann über einen solchen Begriff nicht verfügen, wenn man sich außerhalb der sinnlichen Präsenz des fraglichen Gegenstandes befindet. Begriffe de re sind deshalb strikt kontextabhängig. Der philosophische Witz der Idee von Begriffen de re ist, dass sie das Verhältnis der sinnlichen Präsenz von Gegenständen, auf die gezeigt werden kann, und des begrifflichen Erfassens der Welt in Gedanken durch etwas, das gesagt werden kann, nicht als Gegensatz begreift, sondern einerseits die Fähigkeit des Aufzeigens des sinnlich Manifesten in das Reich des Begrifflichen integriert und andererseits das Begriffliche an die Präsenz der Welt bindet.

Der Begriff des Begriffs de re ermöglicht es uns so, zu verstehen, wie die Welt selbst in unsere Begriffe eingehen kann. Wir finden uns nicht in einem Gefängnis der Sprache bzw. der Begriffe eingesperrt, aus dem wir eigentlich ausbrechen müssten, um zur Welt zu gelangen. In dieser Weise ist auch McDowells berüchtigte These von der „Unbegrenztheit des Begrifflichen“ zu verstehen. Diese Redeweise hat immer wieder die Vorstellung provoziert, McDowell vertrete einen dubiosen Idealismus. Aus der Unbegrenztheit des Begrifflichen würde aber nur dann folgen, dass die Welt selbst aus Begriffen bestehe, wenn es im logischen Raum der Begriffe nur Begriffe gäbe. Das aber ist nicht der Fall. Der Raum der Begriffe schließt die Welt ein, und zwar deshalb, weil die Welt selbst der Raum der Begriffe ist. Man tritt nirgendwo von dem einen in die andere über. Die Unbegrenztheit des Begrifflichen ist darum nichts anderes bzw. ist deckungsgleich mit der Unbegrenztheit der Welt.

Wert und Wirklichkeit

McDowells anti-cartesianisches Verständnis des Geistes hat Konsequenzen für das korrespondierende Verständnis der Welt bzw. der Natur: Es impliziert einen anti-szientistischen Naturbegriff. Etwas plakativ könnte man sagen: Wenn der Geist, der offen zur Welt ist, selbst ein Welt involvierendes und weltabhängiges Vermögen ist, so ist die Welt, die dem welthaltigen Geist offen steht, in gewisser Hinsicht selbst geistvoll. Das bedeutet, in weniger pompösen Worten, dass es sich um eine Welt handelt, die normative, sinnhafte, kulturelle und ästhetische Tatsachen in unproblematischer Weise umgreift. Mit der Auflösung des Bildes vom Geist als weltloser res cogitans löst sich im selben Zug das Bild der Welt als geistloser res extensa auf. Auch in diesem Kontext wird also ein Dualismus dekonstruiert, nämlich der von Wert und Wirklichkeit oder Natur und Normativität. McDowell wirbt für einen post-naturalistischen Naturbegriff, der Normativität als Teil der natürlichen Lebensform des Menschen und somit als Teil der natürlichen Welt versteht. Er erinnert an die Möglichkeit, ja Alltäglichkeit der unmittelbaren Wahrnehmung von Geist in der Welt, sowohl in Bezug auf die Bedeutung von Wörtern und das sogenannte „Fremdpsychische“ als auch auf das Schöne und Gute. In der Ethik entwickelt er – insbesondere im Anschluss an Aristoteles – eine anti-projektivistische, realistische Auffassung moralischer Werte. Ethischer Diskurs ist wahrheitsorientiert – er stellt fest, was in ethischer Hinsicht der Fall ist. Werte und Normen sind nicht weniger in der Welt zu finden (und zu sehen), nicht weniger objektiv und nicht weniger natürlich als Steine und Straßen. Die ethische Sensitivität der Tugendhaften ist ein perzeptives Vermögen, im buchstäblichen Sinne ein Sehen, was zu tun ist – was, beispielsweise, die Gerechtigkeit zu tun verlangt. Es handelt sich um eine Form des ethischen Wissens, das sich nicht in Form explizierbaren Regelwissens niederschlagen muss oder auch nur niederschlagen könnte. Der Sachverhalt, den die Tugendhafte sieht, ist als solcher ein normativer Sachverhalt, welcher der Tugendhaften Grund zu ihrem Handeln gibt und sie eo ipso zum Handeln motiviert. Es muss kein zusätzlicher geistiger Zustand, etwa ein besonderer Wunsch, gerecht zu handeln, postuliert werden, um die Handlung der Tugendhaften zu erklären. Ein solcher zusätzlicher Zustand muss vielmehr nur dort angenommen werden, wo die Wahrnehmung dessen, was zu tun recht ist, nicht zum rechten Handeln motiviert.

Die heutzutage weithin vorherrschende Auffassung, dass Werte nicht objektiv und nicht natürlich sein können, beruht, so McDowell, auf einer verfehlten Metaphysik, die sich als common sense ausgibt. Es handelt sich um das mit der europäischen Moderne vorherrschend gewordene „entzauberte“ Verständnis der Natur, dem zufolge es Werte, Normen, Gründe und Bedeutung in der Natur nicht geben kann. Diese Metaphysik setzt ungerechtfertigterweise „was objektiv ist“ bzw. „was natürlich ist“ mit „was sich im Vokabular der Naturwissenschaft beschreiben lässt“ gleich. Sie ist auch in jenen Positionen noch wirksam, die zwar die Irreduzibilität ethischen Diskurses zugestehen, aber dennoch denken, dass dessen metaphysische Respektabilität dadurch erwiesen werden muss, dass die mittels seiner herausgegriffenen Entitäten zumindest auch im Vokabular der Naturwissenschaft individuiert werden können. McDowell weist jedoch auch hier das Ansinnen einer Fundierung des Normativen im Nicht-Normativen zurück. Es gibt keine Möglichkeit, die ethische Wirklichkeit von außerhalb des ethischen Diskurses – von der Seitenlinie her – zu beschreiben oder zu erfahren. Aber das macht diese Wirklichkeit nicht weniger objektiv. Wieso sollte nur das als objektiv gelten, was unabhängig davon individuierbar und beschreibbar ist, wie sich die Welt für ein menschliches Wesen präsentiert – für ein Wesen mit einer bestimmten leiblichen, sprachlichen und kulturellen Lebensform? Es gibt keinerlei Grund, die Grenzen des Objektiven derart eng zu ziehen. Objektiv sind alle Beschaffenheiten, die wir als Beschaffenheiten der von uns unterschiedenen Welt erfahren. Es sind aber gerade die irreduzibel an die Perspektive eines menschlichen Wesens gebundenen Qualitäten, die in der Wahrnehmung als von uns unabhängige Beschaffenheiten der Welt erfahren werden. Dinge und Sachverhalte in der Welt präsentieren sich uns als objektiv begehrenswert oder abstoßend, schön oder hässlich, gerecht oder grausam. Es handelt sich dabei nicht um subjektive Projektionen auf eine objektiv nicht-normative Welt, sondern um die Entdeckung immer neuer objektiver Qualitäten der Welt selbst. Dass die Welt manche ihrer Eigenschaften nur Lebewesen mit einer bestimmten sinnlichen und begrifflichen Ausstattung enthüllt, nicht jedoch anderen, steht nicht im Widerspruch zu der These, dass diese Eigenschaften den Dingen objektiv zukommen und ihr Vorhandensein auch dann eine Tatsache wäre, d.h.: von entsprechenden Lebewesen würde entdeckt werden können, wenn es entsprechende Wesen faktisch nicht (mehr) gäbe oder nie gegeben hätte.

Natur und Freiheit

Der Mensch kommt nur mit der Anlage zur Vernunft, nicht aber mit den voll ausgebildeten begrifflichen Vermögen auf die Welt, die einerseits ihn zu einem rationalen Tier, andererseits seine Welt zu einer rationalen, d. h. Gründe für Handlungen und Überzeugungen beinhaltenden Welt machen. Jeder einzelne Mensch muss die menschliche Lebensform in einem jahrelangen Prozess erst erwerben. Diesen Prozess der Bildung bezeichnet McDowell als Erwerb einer zweiten Natur. Er meint damit die Initiation der Einzelnen in eine geteilte kulturelle, insbesondere sprachliche Tradition. Dass der Mensch ein Kulturwesen ist, liegt in seiner Natur. Gleichzeitig ist seine Natur eine durch und durch kulturelle. Die Idee der zweiten Natur löst den überkommenen Dualismus von Natur und Kultur zugunsten eines Naturalismus der zweiten Natur auf. Der Erwerb einer zweiten Natur ist der Prozess, der dem Menschen Subjektivität (den eigenen Geist) und Objektivität (die Welt) zugleich erschließt.

Durch den Erwerb entsprechender begrifflicher Vermögen werden dem Subjekt einerseits die Augen geöffnet für Bereiche des Seienden, zu denen es vorher keinen Zugang hatte. Insofern handelt es sich um den Prozess des Erwerbs einer Welt überhaupt. Zugleich aber handelt es sich um den Prozess des Erwerbs von Handlungsfähigkeit: um den Übertritt von einem in einer bloßen Umwelt geführten nichtpersonalen Leben in eine in freier Orientierung an Gründen und Werten geführte personale Existenz, in ein Sein-zur-Welt, das mit dem Vermögen der reflektierten Stellungnahme zu den eigenen Verhaltungen einhergeht. Vernunft ist die Fähigkeit zum deliberativen Überlegen, was zu tun gut und was zu glauben richtig ist. Ein vernünftiges Tier verhält sich in seinem Sein zu seinem Sein, es ist in einer solchen Weise, dass es Stellung nehmen kann zu sich selbst und über Modifikationen seines Seinsvollzugs entscheiden kann. Diese reflexive Struktur des Vollzugs des Lebens eines vernünftigen Tiers konstituiert seine Freiheit. McDowell verteidigt nicht die These, dass es genau eine, in unserer Natur liegende, richtige Art und Weise gibt, ein menschliches Leben zu führen. Die Tugend ist eine Form der praktischen Vernunft. Vernunft ist sie aber nur dadurch, dass sie auf Einsicht in Gründe beruht, die ständig hinterfragt und kritisiert werden können.

LITERATUR

Werke McDowells, alle bei Harvard University Press:

Mind and World, 2nd Edition, Cambridge/ MA, London 1996; deutsch als John McDowell: Geist und Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. [McDowells Hauptwerk, basierend auf den John-Locke-Lectures von 1991]
Mind, Value, and Reality, Cambridge/MA, London 1998.

Meaning, Knowledge, and Reality, Cambridge/MA, London 1998.

[Diese beiden Bände versammeln McDowells Arbeiten vor Geist und Welt. Einige der wichtigsten finden sich übersetzt in Wert und Wirklichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002]

The Engaged Intellect, Cambridge/MA, London 2009.

Having the World in View, Cambridge/MA, London 2009.

[Diese beiden Bände versammeln McDowells Arbeiten nach und im Ausgang von Geist und Welt]

UNSER AUTOR:

David Lauer ist promovierter Philosoph und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Zusammen mit Christian Barth (HU Berlin) gibt er das erste einführende Kompendium in deutscher Sprache zu McDowells Philosophie heraus: Die Philosophie John McDowells, 331 S., € 39.80, 2014, Mentis, Münster. Mit Beiträgen von G. Bertram, Ch. Demmerling, J. Haag, Ch. Halbig, J. Kertscher, J. Liptow, H. Matthiessen, J. Müller, Ch. Rapp, R. van Riel, J. Slaby, T. Stahl, D. Weberman, M. Wild, L. Wingert.