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Frank, Simon: Werke in acht Bänden

Simon Frank: Werke in acht Bänden

 

 


Simon Frank (1877-1950) ist ein bei uns unbekannter Autor. Dennoch wird er oft als der bedeutendste russische Philosoph des 20. Jahrhunderts bezeichnet. In Russland zählt er zu den Westlern, den Philosophen, die die europäische Philosophie studiert und aufgenommen haben.

 

Semjon Ljudwigowitsch Frank wird 1877 als Sohn einer jüdischen Familie in Moskau geboren. Im Gymnasium schließt er sich einem marxistischen Zirkel an. Er beginnt 1894 sein Studium in Moskau an der Fakultät für Rechtswissenschaften. 1899 wird er als Kopf einer marxistischen Gruppe wegen Beteiligung an Demonstrationszügen verhaftet und von der Universität relegiert. Er geht nach Berlin, hier belegt er politische Ökonomie und Philosophie, u. a. bei Georg Simmel. Er studiert eingehend die Werke der Neukantianer Windelband und Riehl und schreibt eine Abhandlung über die Bedeutung der Marxschen Werttheorie. 1901 kehrt er nach Russland zurück und legt an der Universität von Kasan sein Staatsexamen in Jura ab. Gleichzeitig veröffentlicht er eine Studie über „Nietzsche und die Fernstenliebe“. Er übersetzt u. a. Nietzsche, Windelband und Schleiermacher ins Russische. 1912 wird er Dozent in St Petersburg. Im gleichen Jahr wird er orthodoxer Christ. Er setzt sich für eine konstitutionell gesicherte demokratische Gesellschaftsordnung ein, deren Fundament die unantastbare und unveräußerliche Würde des Individuums gegenüber Machtansprüchen des autokratischen Staates bildet. 1913 und 1914 hält er sich erneut in Deutschland auf, in Marburg und München arbeitet er an einer erkenntnistheoretischen Grundlegung einer Ontologie der All-Einheit, die 1915 unter dem Titel „Der Gegenstand des Wissens“ erscheint. 1921 wird er zum Professor für Philosophie am Institut für Philosophie der Moskauer Universität ernannt.

 

Die russische Revolution macht seiner Karriere ein Ende. Als Lenin 1922 die Exilierung „bourgeoiser Hochschullehrer“ anordnet, muss Frank Russland verlassen. Er zieht mit seiner Familie nach Berlin, wo er einige Jahre lehrt und an seiner Religionsphilosophie arbeitet. Die zunehmenden Repressionen der Gestapo verhindern jedoch eine Veröffentlichung. 1938 muss er wegen seiner jüdischen Herkunft auch Deutschland verlassen und geht erst nach Südfrankreich, dann nach England, wo er bis zu seinem Tod 1950 lebt.

 

Er war, schreibt sein Bruder, „ohne Zweifel ein Europäer und Humanist, geprägt vom Einfluss der griechischen Kunst und Philosophie. Eher Plotin als Platon folgend, fühlte er sich Nikolaus von Kues am nächsten und von den Denkern der Neuzeit Goethe“.

 

Der Verlag Karl Alber, Freiburg, hat mit    einer von Peter Schulz, Peter Ehlen, Nikolaus Lobkowicz und Leonid Luks herausgegebenen achtbändigen Ausgabe der Werke Franks begonnen. Als erste sind Band 5, Licht in der Finsternis (eines der drei Hauptwerke) und Band 2 Die Seele des Menschen erschienen.

 

Licht in der Finsternis. Versuch einer christlichen Ethik und Sozialphilosophie. 306 S., kt., € 36.—, 2008, Karl Alber, Freiburg

 

Dieses Buch, so schreibt Vladimir Kantor in seiner Einleitung, enthalte nicht nur die Schlussfolgerungen aus Franks Lebenswerk, es sei auch eine intellektuelle Antwort auf die Katastrophen, die Europa im 20. Jahrhundert heimsuchten und die Frank persönlich schweres Leid brachten. Frank äußerte wiederholt, dass „zwei Revolutionen zuviel für ein Leben“ seien. Nach L. Zak „litt S. Frank sein ganzes Leben an der Unmöglichkeit, eine Erklärung für das Vorhandensein des Bösen in der Welt zu finden und die von ihm verursachten Leiden zu rechtfertigen“. Frank schrieb entsprechend, man könne das Böse beschreiben, man könne es ablehnen, niemals aber erklären. Für ihn ist das Pro­blem der Theodizee „rational absolut unlösbar“. Mehr noch, das „Böse zu erklären“, würde auch bedeuten, „das Böse zu rechtfertigen“, was dem Wesen des Bösen widerspricht, denn es sei das, was absolut „nicht sein darf“.

In Licht der Finsternis will Frank die soziale und moralische Position des Christen in der Welt formulieren: das Verhältnis des Christen zu sich als Mensch, zur Gesellschaft und zu dem Bösen, das über Mensch und Gesellschaft herrscht.

 

Das Buch beginnt mit dem Vorwurf an die abstrakte dogmatische Theologie, sie tendiere dazu, leeres Geschwätz zu werden. Dem entspricht die religiöse Bemerkung Goethes, „über Gott kann man eigentlich nur mit Gott reden“. Die Realität Gottes und der göttlichen Wahrheit offenbaren sich uns nur in der geistigen Erfahrung der Hinwendung zu Gott im Gebet. Durch das Wesen der Vernunft sind wir genötigt, diese Erfahrungen logisch zu verstehen, und jeder Versuch dieser Art drückt diese Erfahrung in einem System abstrakter Begriffe aus. Dadurch droht die Gefahr, dass wir den Inhalt der religiösen Wahrheit von seiner lebendigen, erfahrbaren Wurzel losreißen und den echten Glauben durch ein rationales Konstrukt ersetzen.    Außerdem dürfen wir nicht die religiöse Erfahrung von der Lebenserfahrung trennen, vom Schicksal – vom persönlichen Schicksal jedes Einzelnen. Denn Gott wird nur im tragischen Kampf und in Qualen der menschlichen Existenz vernommen – solch einsame Denker der Neuzeit wie Pascal und Kierkegaard haben dies zum Ausdruck gebracht.

 

Der Anspruch auf Vollendung, gewissermaßen die Selbstsicherheit eines jeden objektiven theologischen Systems steht hierzu in krassem Gegensatz.

Der Glaube entartet dabei leicht zu dem, was man als theologischen Pseudoglauben bezeichnen kann – in die rein rationale Überzeugung von etwas, woran wir eigentlich nicht glauben, sondern nur glauben wollen. Unsere moderne religiöse Dürftigkeit lässt uns keinen anderen Weg zur rettenden Wahrheit des christlichen Glaubens, als sie von neuem zu erkennen – nicht aus den alten Büchern, sondern aus den Lektionen unseres unglücklichen Lebens.

 

Frank verbindet das Durchdenken der Lebens- und Geschichtserfahrung im Geiste des christlichen Glaubens mit dem metaphysischen Realismus. Die Bestätigung der praktisch längst vergessenen und verworfenen Wahrheit über die geheimnisvolle Macht der Sünde in der Welt verbindet sich mit dem Glauben an den positiven Wert der Welt als Schöpfung Gottes und in ihrer ursprünglichen Grundlage als Ausdruck seines heiligen Wesens.

 

Die leidvollen Erfahrungen der letzten Kriege haben die wesentlichen der früheren      Überzeugungen als Illusionen entlarvt. Frank hat den Eindruck, dass im 20. Jahrhundert eine völlig neue historische Epoche angebrochen ist, die in bedeutendem Maß von der neuen Erfahrung der Hartnäckigkeit und Mächtigkeit des Bösen in der Welt bestimmt ist. Die Mächte des Bösen und der Zerstörung triumphieren über die Mächte des Guten; die Irrtümer sind gewöhnlich stärker als die Wahrheit; das blinde Spiel irrationaler Mächte setzt allen Hoffnungen des menschlichen Herzens ein Ende. Für Frank ist die christliche Welt als ganze für diese moralischen Katastrophen verantwortlich. Der Fall in die Barbarei muss als Phänomen der gei­stigen Erkrankung der gesamten europäischen Menschheit als solcher wahrgenommen werden. Der Geist des Bösen ist nicht in einzelnen konkreten Trägern konzentriert, und die Überwindung dieser Träger mittels militärischer Zerstörung bedeutet nicht, den Geist des Bösen selbst zu besiegen und zu vernichten. Dieser besitzt die geheimnisvolle Fähigkeit, wie Feuerfunken von einer Seele auf eine andere überzuspringen; er wird wie der Phönix aus der Asche in unerwartet neuen Formen wiedergeboren. Denn er verbirgt sich Frank zufolge seit jeher in der Seele der Menschheit und ist eine übermenschliche Macht, die nicht durch rein menschliche Anstrengung und äußere Maßnahmen überwunden wird.

Im Totalitarismus des russischen Kommunismus sieht Franke eine Abart des gleichen Kults der Unmenschlichkeit, wie es der Faschismus war.

 

Der historische Optimismus mit dem Glauben an den „Fortschritt“ war ein Glaube an die Vorherbestimmtheit einer baldigen Verwirklichung des absolut Guten – des „Reiches Gottes“ – auf Erden. Liberalismus und der Sozialismus waren nur unterschiedliche Varianten dieses Glaubens an die unbehinderte, schnelle Realisierbarkeit der ganzen Fülle der Gerechtigkeit auf Erden. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts brachten die Zerstörung dieses Glaubens an die kontinuierliche Vervollkommnung des Menschen mit sich. Für Frank muss der Kampf gegen das Böse, das er aktuell in der Gefahr des Atomkrieges verkörpert sieht, mit äußerster Schärfe geführt werden. Obwohl dieser Kampf in der Weltgeschichte ewig andauern muss, ist er nicht sinnlos: Ein Leben voll quälender Schwere und Tragik ist besser als Verderben, Tod und Verfall.

 

Frank sieht in seiner Überzeugung von der „Macht der Finsternis“ über die Welt eine Krise des Humanismus. Der Humanismus enthält in sich einen tiefen und unüberwindbaren Widerspruch. Der Kult des Menschen, der optimistische Glaube an seine große Bestimmung, die Welt zu beherrschen und in ihr die Herrschaft der Vernunft und des Guten zu errichten, verbinden sich mit der theoretischen Vorstellung vom Menschen als Wesen, das auch zum Reich der Natur gehört und ihren blinden Kräften ganz und gar unterworfen ist. Dieser Glaube beruht auf der althergebrachten Vorstellung vom Menschen als Wesen einer besonderen höheren Ordnung, das sich prinzipiell von der übrigen animalischen Welt unterscheidet. Der Darwinismus zerstörte die alte These vom prinzipiellen Unterschied des Menschen von der übrigen natürlichen Welt, und der profane Humanismus wurde damit – entgegen seiner gezielten Absicht – zu einem blinden, pseudoreligiösen Glauben. Dieser widersprüchliche geistige Zustand konnte kein stabiler sein und musste schließlich von innen die Weltanschauung des Humanismus sprengen. Abgelöst wurde der Humanismus durch einen noch schreienderen Widerspruch, durch Marxismus und Nietzscheanismus, die Frank unter dem Namen „dämonischer Utopismus“ zusammenfasst und dadurch charakterisiert sieht, dass beide glauben, der höhere Zustand des Menschen könne durch die Entfesselung und Sanktionierung der niederen, tierischen Kräfte des menschlichen Wesens verwirklicht werden. Die Lehre Nietzsches entartete zur Lehre von der schöpferischen Rolle der Gewalt, deren praktische Früchte die Menschheit in eine Welt von Blut und Tränen stürzten.

 

Frank stellt seine Überzeugung dagegen: das Bewusstsein von der fundamentalen und unabänderlichen Unvollkommenheit des weltlichen Seins und Wissens.

 

Er warnt vor einem neuen naiven Optimismus, der die prinzipielle Allmacht des höch­sten Prinzips des Heiligen mit seiner scheinbar vorherbestimmten Sieghaftigkeit auf der Ebene der Empirie verwechselt. Zwar müssen die höheren, segensreichen Kräfte, wenn sie in der Welt aktiv werden, die Gestalt der Kräfte dieser Welt annehmen und sich den Bedingungen des empirischen Seins anpassen (die Kenosis). Sie üben dabei eine mitreißende Kraft auf das menschliche Herz aus.

 

Die menschliche Seele ist mit ihren Wurzeln in Gott verankert, und sie begründet damit eine bestimmte Form der menschlichen Gemeinschaft. Die Grenze zwischen dem „Reich Gottes“ oder dem glückseligen Leben in Gott und den Kräften „dieser Welt“, zwischen dem “erlösten“ und „unerlösten“ Sein, diese Grenze ist empirisch nicht sichtbar, denn sie verläuft in der Tiefe des menschlichen Herzens. Darin besteht die ewige Paradoxie der christlichen Wahrheit. Es handelt sich hier um einen nicht sichtbaren Widerstreit zwischen Prinzipien geistiger Ordnung. Frank sieht darin einen universalen Charakter, der für jede menschliche Seele gilt, gleichgültig wie sich die Menschen in anderer Hinsicht auch unterscheiden mögen. Die Aufgabe des Menschen besteht darin, die Kräfte der Sünde und der Finsternis zu über­winden und den Kräften des Lichts zu dienen.

 

Dass das Gute und das Böse ihre eigenen, immanenten Kriterien haben, die vom faktischen empirischen Zustand der Welt unabhängig sind, ist das fundamentale Axiom des sittlichen Bewusstseins. Zum Wesen des sittlichen Lebens gehört für Frank die Unabhängigkeit von den sittlichen Bedingungen und damit sittliche Beharrlichkeit und sittlicher Rigorismus. Die Stimme des Gewissens (und damit Gottes) fordert unbedingten Gehorsam und hängt darum von keinen empirischen Bedingungen ab. Das sittliche Leben hat aber mit der Sündhaftigkeit der Welt zu rechnen und muss den Charakter eines Kompromisses annehmen, der selbst mit Sündhaftigkeit belastet ist. Wenn man diese Dialektik nicht beachtet, dann entartet sittlicher Rigorismus in sein Gegenteil, in pharisäische Selbstzufriedenheit und Egoismus.

 

Die Seele des Menschen. Versuch einer Einführung in die philosophische Psychologie. Mit einer Einleitung von Peter Schulz und Stefanie Hass. 278 S., kt., € 29.90, 2008, Simon L. Frank, Werke in acht Bänden, Band 2, Karl Alber, Freiburg.

 

Frank hält es für erstaunlich, dass die Menschen in verhältnismäßig langen Perioden imstande sind, das wissenschaftliche Interesse an sich selbst zu verlieren und zu leben, ohne Sinn und Wesen des eigenen Lebens zu verstehen. Eine solche Epoche ist für ihn die Gegenwart (die Originalausgabe des Buches erschien 1917) und zwar von dem Zeitpunkt an, da die empirische Philosophie sich zur „Philosophie ohne Seele“ proklamierte und zur prinzipiell anerkannten philosophischen Lehre vom Menschenleben wurde.

 

Dabei geht es schlicht um die Verdrängung einer Wissenschaft durch eine andere, die zwar schwache Spuren einer Verwandtschaft mit der ersten aufweist, aber in Wirklichkeit einen völlig anderen Gegenstand hat. Die Lehren über die Seele wurden beseitigt und durch Lehren über die Gesetzmäßigkeiten der sog. „seelischen Phänomene“ ersetzt. Diese sind von ihrem inneren Grund losgerissen und werden als Phänomene der gegenständlichen Außenwelt betrachtet. Die heutige Psychologie sieht sich selber als Naturwissenschaft. Das bedeutet, dass sie keine Psychologie ist, sondern eine Physiologie. Sie ist nicht eine Lehre von der Seele als der Sphäre einer gewissen inneren Realität, die sich, wie auch immer man sie auffassen mag, unmittelbar, in ihrem Erfahrungsinhalt selbst, von der sinnlich-gegenständlichen Welt der Natur unterscheidet und ihr gegenübersteht. Sie ist vielmehr eine Lehre von der Natur, von den äußeren, sinnlich-gegenständlichen Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten der Koexistenz und Abwechslung seelischer Phänomene. Aber die lebendige, ganzheitlich innere Welt des Menschen, die menschliche Persönlichkeit, das, was wir außerhalb aller Theorien als unsere „Seele“, unsere „geistige Welt“ bezeichnen, fehlt ihr ganz und gar. Um sich heutzutage über das menschliche Leben, das eigene und das der anderen, klar zu werden, muss man literarische Kunstwerke studieren und keineswegs die psychologi-

sche wissenschaftliche Literatur. Und da das Interesse an diesem Gegenstand nie verschwinden kann, äußert es sich mangels wissenschaftlicher Befriedigung in anderen Formen, etwa in der Wiederbelebung religiöser Lehren über die Seele.

 

Um die menschliche Seele zu erforschen, muss man sie vor allem erfahren haben, muss man lernen, sie als Erfahrung zu leben – und gerade das vermag das religiöse Bewusstsein zu lehren. Nur ein religiöser Mensch kann ein wirkliches, lebendiges Selbstbewusstsein haben, die „lebendige Seele“ in sich spüren. Die in den psychologischen Lehrbüchern angepriesene Selbstbeobachtung ist dort, wo es keine „Selbstheit“ als gesondertes Objekt gibt, wo sich im unmittelbaren lebendigen Bewusstsein die Welt des inneren Lebens nicht als eine besondere, spezifische Realität vom sinnlich-gegenständlichen Sein geschieden ist, schlichtweg unmöglich. Die Philosophie hat sich denn auch von Anfang an und beständig von religiösen Intuitionen genährt und war von lebendigen religiösen Erfahrungen abhängig. Dennoch kann die religiöse Intuition an sich niemals das wissenschaftliche Werk verdrängen und ersetzen. Denn außerhalb der Wissenschaft besitzt das Wissen, auch wenn es wahrhaft ist, nicht das allgemein zugängliche Wahrheitskriterium, und es droht ihm eine Vermengung mit bloß subjektiver Phantastik. Deren Abwehr könnte jedoch zu weit führen und uns in die Blindheit des Materialismus und Positivismus zurückversetzen. Im Bereich der Seele geschieht die Beseitigung der wissenschaftlichen Erkenntnis in zweierlei Form: als naive Verfälschung der Wissenschaft durch ihre unbewusste und chaotische Vermengung mit Religion und Mystik und als bewusste Abkehr von der Wissenschaft. Der wahre Sündenfall erfolgt dort, wo Philosophie wie bei Nietzsche offen mit poetischer Inspiration, religiösem Glauben oder moralischer Predigt identifiziert wird.

 

In jedem einzelnen seelischen Phänomen ist das Seelenleben als Einheit eines Ganzen anwesend, wenn auch mit größerer oder geringerer Aktualität und Evidenz. Die Seele ist, mit den Worten Lotzes, „dasjenige, wofür sie sich ausgibt“, unser eigenes Wesen, wie wir es in jedem Augenblick erleben. Diese Seele ist keine „Substanz“, keine „unsterbliche Wesenheit“, „kein höchstes Prinzip“ oder dergleichen, sondern einfach das, was jeder Mensch als sein Selbst bezeichnet und woran zu zweifeln keinem in den Sinn kommt. Wenn wir die Eigenart der seelischen Erfahrung genauer betrachten, bemerken wir unmittelbar das typische Merkmal einer Tiefendimension: in der seelischen Erfahrung ist uns nicht nur die Oberfläche zugänglich, nicht allein die Phänomene, die gleichsam herausgespült werden, sondern auch die tiefer angesetzten Wurzeln oder Ursprünge dieser Phänomene. Der Übergang von der Oberfläche zur Tiefe ist ein allmählicher Übergang, wir können die Schale nicht von ihrem Kern trennen; im alleroberflächlichsten Phänomen sind auch schon die Tiefenschichten des Seelenlebens beteiligt.

 

Wir müssen die allgemeine Lehre über die Natur des Seelenlebens und das Verhältnis dieses Bereiches zu den anderen Seinsbereichen verstehen – in Unterschied zur „empirischen Psychologie“, die sich die Erforschung dessen zur Aufgabe macht, was man als die „Gesetzmäßigkeit seelischer Phänomene“ bezeichnet.

 

Die Abgrenzung des Seelenlebens vom gegenständlichen Sein bildet in gewisser Hinsicht die Grundlage für das Verständnis des Seelenlebens. Gewöhnlich ist das menschliche Bewusstsein allzu sehr mit der sinnlich-gegenständlichen Welt der umgebenden Sphären beschäftigt, um die Welt des Seelenlebens als solche zu bemerken. Für einen realistisch eingestellten Menschen ist das Seelenleben bloß irgendeine dienstbare Kraft, die gleichsam in den Apparat der äußeren Welt hineingelegt und bei normalem Funktionieren nicht wahrnehmbar ist; und wenn es auf sich aufmerksam macht, erscheinen seine eigenartigen Manifestationen als Anomalie und als Ausnahme. Und nur in verhältnismäßig seltenen Fällen wird bemerkt, dass das, was als eine Zugabe zum Leben erschienen war, eigentlich das Wichtigste und Fundamentale ist, auf dem sich das ganze Leben hält und bewegt.

 

Um das Seelenleben zu verstehen, müssen wir eine gewisse Zeit die ganze gegenständliche Welt vergessen und uns in das trübe, geheimnisvolle Element versenken. Dabei dürfen wir die seelischen Phänomene nicht so beurteilen wie ein Psychiater die seltsamen Erlebnisse eines Patienten beurteilt, d.h. von außen, sondern vom Standpunkt des erlebenden Subjektes selbst. Dann kann keine Rede mehr davon sein, dass das Seelenleben eine Summe von Prozessen sei, die objektiv in der Zeit ablaufen, im Körper lokalisiert und durch diese doppelte Bestimmung kleinen Plätzen der objektiv-gegenständlichen Welt zugeordnet sind. Im Gegenteil: Das Seelenleben tut sich als ein gewaltiger, unermesslicher Abgrund auf, als ein besonderes, in seiner Art unendliches Universum, das sich in einer ganz anderen Dimension des Seins befindet als die ganze objektive, raum-zeitliche Welt.

 

Das Unbewusste oder das Unterbewusste ist das nicht zu Bewusstsein kommende Erleben. Dabei muss man zugleich das allgemeine Gesetz des Seelenlebens im Auge behalten, nach dem ein quantitativer Unterschied zugleich immer auch ein qualitativer ist. Für Frank ist in unterbewussten seelischen Phänomenen das reine Erlebnis als solches gegeben, d.h. die Essenz des Seelenlebens selbst, isoliert von den höheren Formen des Seins oder von seinen eigenen höheren Erscheinungsformen.

 

Das „Ich“, wie es sich allen Menschen darstellt, ist für uns nur ein lebendiger, realer Seinspunkt, der sich von allem auf der Welt dadurch unterscheidet, dass es der Punkt ist, in dem das Sein unmittelbar für sich und gerade dadurch bedingungslos ist. Wir müssen das reale Sein und Wirken des „Ich“ von seinem Erleben unterscheiden und nur letzteres zum Seelenleben zählen.

 

Das erste, was wir am Seelenleben beobachten, ist der ihm eigene Charakter der Durchgängigkeit, Verschmolzenheit und formlosen Einheit. Es enthält eine Vielfalt von Nuancen, die in ununterscheidbarer Weise ineinander übergehen und die miteinander verschmolzen sind. Es gibt kein „Gefühl“, das nicht von „Vorstellungen“ und „Bestrebungen“ geleitet wäre. Andere Aspekte des Seelenlebens sind seine Unbegrenztheit und Zeitlosigkeit. Es steht gleichsam im Zwischenraum zwischen Einheit und Vielheit, zwischen Unendlichkeit und Begrenztheit, es ist auch etwas Mittleres zwischen reiner Überzeitlichkeit und vollständiger Versunkenheit in den zeitlichen Augenblick. Es gibt keine Vielzahl gesonderter seelischer Phänomene, es gibt nur verschiedene Erscheinungsformen oder Zustände des an sich einen Seelenlebens.

 

Das reine Moment der Empfindung ist als solches vom Gefühl zu unterscheiden. Das Kennzeichen des Gefühls ist Konkretheit. Ein weiterer Aspekt ist der Wille. Die formende Einheit der Seele ist eine tätige Instanz, die sich von dem durch sie geformten Material unterscheidet. Im konkreten Seelenleben ist das Seelenelement als solches das nur abstrakt zu unterscheidende Moment des Materials, das untrennbar mit der tätigen Form, der Entelechie des Seelenlebens verbunden ist. Das Seelenleben ist ein ununterbrochenes, zielstrebiges Schaffen, ein unermüdlicher Prozess der Selbstformung und Selbsterschaffung des seelischen Seins.

 

In Ausrichtung auf das objektive Sein ist das konkrete Seelenleben untrennbar mit den sich offenbarenden gegenständlichen Inhalten verschmolzen. Frank nimmt im Erkenntnisbereich des Seelenlebens eine besondere formende bzw. aktualisierende Instanz an. Es ist gleichsam das Prinzip des Wissens oder der Vernunft, das nirgendwoher abzuleiten und mit keiner realen Beziehung oder Wirkung zu vergleichen ist. Der Bestand des an uns heranströmenden sinnlichen Materials, das den Ausgangspunkt unseres Wissens bildet, ist von unserem Willen und unserem Geist unabhängig. Was aber ein jeder aufgrund dieses Materials erkennen kann, das hängt von ihm selber ab, von der Richtung seiner Aufmerksamkeit und seines Denkens.

 

Die Aufmerksamkeit ist die psychologische Voraussetzung des gegenständlichen Bewusstseins überhaupt. Sie ist immer das Resultat einer gewissen Auswahl. Das, was wir gewöhnlich den „Inhalt unseres individuellen Bewusstseins“ bezeichnen, ist die gegenständliche Mikrowelt des Menschen in Verbindung mit dem damit verschmolzenen seelischen Erleben im eigentlichen Sinn des Wortes. Verbunden mit dem emotionalen Willensaspekt des Seelenlebens bilden sie eine gewisse eigentümliche sekundäre Einheit.

Das Seelenleben als konkret verwirklichte Realität ist die Einheit des Erlebens mit dem gegenständlich-bewussten Sein; in diesem Sinne ist die Seele das, was sie weiß und anschaut.