PhilosophiePhilosophie

Neuigkeiten

Nietzsche-Ausstellung in Weimar

Thüringische Landeszeitung, 9.8.:

Nietzsche-Ausstellung in Weimar: Forscher begehren die Barthaare des Philosophen

Das Goethe- und Schiller-Archiv zeigt Manuskripte und Allzumenschliches von Friedrich Nietzsche
Canonical URL
Die Kuratoren Bernhard Fischer und Martina Fischer mit dem Katalog der Ausstellung "Nietzsches Nachlass". Foto: Maik Schuck 
Weimar. "Nicht selten begegnet man Copien bedeutender Menschen; und den Meisten gefallen, wie bei Gemälden, so auch hier, die Copien besser als die Originale." So lautet die Endfassung des Aphorismus 294 aus Friedrich Nietzsches Werk "Menschliches, Allzumenschliches", das zu großen Teilen im Winter 1876/77 in Sorrent am Golf von Neapel entstand - in Auseinandersetzung mit Richard Wagner, Arthur Schopenhauer und der "unheilbaren Romantik". Wie der Aphorismus entstand und sich stilistisch wandelte, das kann man in der Ausstellung "Nietzsches Nachlass" zum 170. Geburtstag des Philosophen im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv sehen. Die Schau geht zentralen Gedanken des Philosophen nach, wie der "Ewigen Wiederkunft des Gleichen" und der "Umwerthung aller Werthe". Zwischen Schreibkugel und Totenmaske spulen sich im Kurzdurchlauf Aspekte des Lebens und Schaffens Nietzsches ab. In einer Vitrine ist ein Oktavheft ausgestellt, in das Nietzsche in Sorrent den Aphorismus notierte. "Dieses hier wurde handgefertigt, ein Geschenk seiner Schwester Elisabeth", erklärt Archivdirektor Bernhard Fischer, der die kleine, aber sehr feine Kabinettschau zusammen mit der Kunstwissenschaftlerin Martina Fischer kuratiert hat. Von dort übertrug Nietzsche den Aphorismus in ein Quartheft. Dabei strich er manches Wort, veränderte die Reihenfolge und formulierte um. Da er zuhöchst kurzsichtig war, diktierte er in einem nächsten Schritt die Reinschrift Albrecht Brenner, die auf einem losen Blatt aus den "Sorrentiner Papieren" zu sehen ist. Doch der Verfasser feilte nach der Rückkehr in Basel weiter an der Formulierung, die er schließlich für die Druckvorlage seinem "Eckermann" Heinrich Köselitz alias Peter Gast diktierte. Der kannte nicht nur die Denk- und Arbeitsweise des Philosophen, sondern war auch einer der wenigen Menschen, die Nietzsches Handschrift zu lesen vermochten. Nietzsches schwer lesbare, außergewöhnliche Handschrift ist ein weiteres Thema der Schau. Der von einem Augenleiden geplagte Philosoph wusste selbst um diese Krux, wie aus einem Brief an Franz Overbeck vom 13. Juli 1881 hervorgeht: "Ja die Barbarei meiner Handschrift, die niemand mehr lesen kann, ich auch nicht! (Weshalb lasse ich meine Gedanken drucken? damit sie für mich lesbar werden. Verzeihung auch dafür!)". Zudem schrieb Nietzsche manchmal auch schräg über die Seite oder drehte sein Notizbuch auf den Kopf. Eine Zeit lang hoffte er, diesem Problem mittels seiner dänischen Schreibkugel, einem Vorläufer der Schreibmaschine, Herr zu werden, die jedoch nur Großbuchstaben druckte. "Wie fast alle großen Geister, die am alltäglichen Kleinkram scheitern, kam Nietzsche damit nicht zurecht. Er vergaß, das Farbband umzudrehen", erzählt Bernhard Fischer. Auch wenn Nietzsche die Schreibkugel nur im Frühjahr 1882 häufiger benutzte, gehört sie in der Weimarer Ausstellung zu den herausragenden Exponaten. Zu sehen ist auch einer der sogenannten "Wahnsinnszettel", den der geisteskranke Philosoph am 4. Januar 1889 an Umberto, König von Italien, adressierte und mit "Der Gekreuzigte" unterschrieb. Neben Fotografien, Briefen und Notizbüchern können in den Vitrinen des Goethe- und Schiller-Archivs auch Erstausgaben der Werke des vor 170 Jahren geborenen umstrittenen Dichters und Philosophen betrachtet werden. Die Klassik-Stiftung besitze seine Manuskripte und Lebenszeugnisse "in seltener Vollständigkeit", erklärte Co-Kuratorin Martina Fischer. Der Nachlass geht auf Nietzsches Schwester Elisabeth zurück, die sein Werk ab 1894 verwaltet, erweitert und auch gezielt gefälscht hat. Nietzsche starb mit 55 Jahren nach langer psychischer Krankheit in Weimar. Sein Grab befindet sich in seinem Geburtsort Röcken. Der Umgang mit seinem Erbe und die bedenkenlosen "Montagearbeiten" seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche werden im letzten Komplex beleuchtet. Im Nietzsche-Archiv, dem früheren Wohnhaus des Philosophen, nahmen sie ihren Anfang. Durch gezielte Fälschungen - sie ließ Passagen verschwinden und schrieb andere hinzu - wollte sich die Schwester als engste Vertraute ihres Bruders darstellen. Der Besucher kann dies an Dokumenten zu "Der Wille zur Macht", Nietzsches vermeintliches Hauptwerk, nachvollziehen. Publiziert wurde es erst nach seinem Tod auf Drängen Elisabeths. Spektakulär ist auch die von Curt Stoeving abgenommene Totenmaske Nietzsches, die einzelne Barthaare des Philosophen enthält. Die seien unter Forschern begehrt, so Bernhard Fischer. Immer wieder ergingen Anfragen, Haare für DNA-Proben zu bekommen, um neue Kenntnisse über Nietzsches Krankheiten zu gewinnen. "Wir besitzen sogar eine Haarlocke des Philosophen", verrät der Archivleiter. Die Klassik-Stiftung rückt sie aber nicht heraus. Bis 18. Dezember, Mo-Fr 10-18 Uhr, Sa/So und feiertags 11-16 Uhr; am 13. August, 17 Uhr, findet eine Kuratorenführung mit Martina Fischer statt; Eintritt frei