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STELLUNGNAHMEN

Kants Ethik in der Diskussion


Stellungnahmen von Reinhard Brandt, Andrea Esser, Rainer Forst und Anton Leist


Was macht Kants praktische Philosophie für die gegenwärtige Ethik-Diskussion so interessant?

Reinhard Brandt: Kant stiftet mit einem einzigen, sogar populären Prinzip, dem kategorischen Imperativ, einen Zusammenhang zwischen vielen Bereichen der heute isoliert geführten Diskussion ethischer Probleme: Die Konstitution der Selbstidentität der Person als eines moralischen (und nicht nur physisch-psychologischen) Wesens; die Basis der Erörterung problematischer Fälle und ethischer Aporien, die Abgrenzung der Ethik vom Rechtssystem des Staats, die sittliche Notwendigkeit der Förderung eines ethischen weltweiten Gemeinwesens, das an die Seite oder die Stelle der Kirche tritt; moderne Ausführungen dieser Kantischen Idee sind etwa die SOS-Kinderdörfer, amnesty international, aber auch Ethik-Gruppen, in denen gemeinsam Lösungen aus den Aporien z.B. der Apparate-Medizin gesucht werden. Weder die antike oder mittelalterliche und auch nicht die postmetaphysische Philosophie haben es zu dem Satz gebracht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – die Idee, verbunden mit dem Prinzip der Autonomie, stammt von Kant.

Andrea Esser: Die gegenwärtige Ethik ist mit hoch komplexen Problemstellungen konfrontiert, die sie aber so bearbeiten muss, dass ihre Verfahren und Überlegungen auch von anderen Wissenschaften in Gebrauch genommen werden können. Zugleich müssen ihre Überlegungen aus der Perspektive der philosophischen Theorieentwicklung befriedigend begründet sein. Oft werden diese beiden Ansprüche allerdings arbeitsteilig eingelöst und die konkreten Lösungen im Feld der sog. „Angewandten Ethik“ entwickelt, die Begründungsdiskurse hingegen in der sog. „Allgemeinen Ethik“ geführt. Das ist schon allein deshalb nicht sinnvoll, weil ethische Begründungsdiskurse keinen Selbstzweck darstellen, sondern genau dazu dienen, Maßgaben zu entwickeln, um moralische Ansprüche zu rechtfertigen und auf den Legitimitätsnachweis die Forderung nach ihrer Umsetzung zu gründen. Im Gegenzug muss auch jeder Lösungsvorschlag zu einem konkreten ethischen Problem, weil es in praktischen Fragen keine für immer und unter allen Umständen feststehenden Anleitungen geben kann, in einem Begründungsdiskurs geprüft werden können. Aus Kants praktischer Philosophie, insbesondere seiner Beiträge aus den späteren Schriften, kann man nun lernen, dass Fragen der Begründung und der Anwendung zwar zum Zwecke der theoretischen Aufklärung begrifflich differenziert werden müssen, dass diese beiden Dimensionen der Ethik im Vollzug einer konkreten moralischen Reflexion aber gerade nicht geschieden werden dürfen, sondern ineinander greifen müssen. Das Interessante an Kants praktischer Philosophie liegt meines Erachtens dabei darin, dass sie uns hauptsächlich mit Verfahren zur Aufklärung praktischer Ansprüche und zur Generierung moralischer Orientierungen versorgt; damit zeigt sie zugleich, dass die darin gewonnenen Ergebnisse keine isolierbaren und in diesem Sinne „absoluten“ Werte darstellen, sondern nur Momente innerhalb eines im terminologischen Sinne „kritisch“ vollzogenen Überlegungsprozesses sind, die auch nur durch diesen Prozess ihre Rechtfertigung finden können. Diese prozessurale und konstruktive Dimension der Kantischen Ethik ist es, der ich einen produktiven und aufklärenden Beitrag zu der teilweise in scholastischen Einteilungen festgefressenen und ihren Gegenstand wie auch ihre Weisungen substantialisierenden Ethik-Diskussion zutraue. Der ungeheure Gewinn der Kantischen Ethik liegt – freilich nur, wenn sie nicht ihrerseits auf abstrakte Oppositionen verkürzt und ihre Überlegungen auf mechanische Universalisierungs- und Subsumtionsverfahren reduziert werden − darin, dass sie uns mit Grundbegriffen ausstattet, die wir als generative Leitbegriffe in einer konkreten moralischen Überlegung tatsächlich nutzen können.

Anton Leist: Von der Moralphilosophie kann man Hilfestellungen vor allem in drei Bereichen erwarten. Einmal Argumente gegenüber den realen oder theoretischen Amoralisten, außerdem Präzisierungen der moralischen Ansprüche in unseren Gesellschaften, und schließlich die Verteidigung unseres moralischen Ethos gegenüber anderen Kulturen. Die Begegnungen mit den realen Amoralisten sind, trotz anhaltender Faszination durch die Nazis und trotz Srebrenica, gegenwärtig etwas in den Hintergrund getreten. Der sozialmoralische Diskurs ist eine Art Alltagsgeschäft und selten besonders aktuell. Von besonderer Bedeutung ist im Augenblick die dritte Aufgabe, die sich seit einiger Zeit im internationalen Maßstab angesichts einer Fülle von konkreten Anlässen, in Konfrontation mit nicht-westlichen Kulturen stellt. Kant hat zur Widerlegung des Amoralisten nicht viel anzubieten, und die konkrete Ausbeute seiner Argumente zum Sozialstaat, zur Medizinethik, zu Tieren und anderen Themen der angewandten Ethik ist insgesamt eher bescheiden. Seine Stärke liegt im dritten Bereich, weil er meinte, einen quasi-logischen Beweis anbieten zu können, wonach unsere europäische Moral, insbesondere die Ideen der Gleichheit und der Menschenrechte, für alle ähnlich zwingend gültig sind wie mathematische Prinzipien. Im weltweiten Kulturkampf um die Grenzen der Menschenrechte oder die Befreiung von Unterdrückten scheint Kant deshalb ein starker Bundesgenosse zu sein. Gegenüber nicht-westlichen Kulturen berufen wir uns gern auf Kants Lehre, weil sie unsere christlichen Überzeugungen auf eine nicht-religiöse Weise zusammenfasst und mit dem strikten Egalitarismus unmissverständlich und unverhandelbar auf den Punkt bringt. Die religiöse Moral ohne religiöse Voraussetzungen vertreten zu können, das ist das stärkste Instrument, das Kant anzubieten scheint.

Rainer Forst: Mit „interessant“ kann zweierlei gemeint sein: einmal allgemein, inwiefern Kants Moralphilosophie in heutigen Ethik-Diskussionen eine Rolle spielt, und einmal spezifischer, worin die systematischen Stärken der Kantischen praktischen Philosophie liegen. Was Ersteres betrifft, so ist die zeitgenössische Ethik ohne Kant und die diversen Kantianismen gar nicht denkbar. Kants Philosophie steht für den markantesten Ansatz, der sich nach wie vor mit einem einzigen Namen verbindet, mehr noch als Aristoteles, Hume oder gar Bentham, um die anderen wichtigsten Familienbegründer in der Ethik zu nennen. Die gegenwärtige Ethiklandschaft sortiert sich noch immer nach diesen Polen, auch wenn sie – gerade dadurch – Raum für eine Menge weiterer und auch hybrider Ansätze zulässt.

Das gewählte Bild sollte freilich nicht dazu verführen, die Kant-Familie als homogen zu betrachten; dort gibt es beträchtliche Unterschiede bei allen Gemeinsamkeiten. Bemerkenswert ist es jedoch, dass die neuere Diskussion Konvergenzen zwischen Ansätzen aufweist, die aus sehr unterschiedlichen philosophischen Kulturen kommen, denkt man etwa an die „Kantischen Konstruktivismen“ in der Rawls-Schule und die konstruktivistischen Ansätze der Diskursethik oder der Erlanger und Konstanzer Schule. Kant hilft noch immer dabei, gemeinsame philosophische Sprachen zu finden, auch wenn die Kantische Terminologie dabei überholt wird.

Das berührt natürlich den zweiten Punkt. Die Stärke der Kantischen Philosophie liegt darin, den Gedanken der moralischen Autonomie gemeinsam mit dem der Autonomie der Moral entfaltet zu haben – also erstens die Idee, dass das moralische Handeln und Urteilen nach Prinzipien erfolgt, die Ausdruck unserer Freiheit sind und das pflichtgemäße Handeln das Handeln nach selbstgegebenen Gesetzen ist. Und zweitens die Idee, dass moralische Prinzipien ihren Geltungsgrund keiner anderen, außer- oder übermoralischen Autorität oder Quelle verdanken, sei dies eine göttliche, eine lebensweltlich sittliche, das Gefühl des Mitleids mit anderen oder unser rationales Eigeninteresse im engeren Sinne oder im weiteren der „Glückseligkeit“. Und mit derselben Wucht dieser Gedanken kommen die Probleme auf: Was für eine Freiheit ist das, die an das Gesetz gebunden ist, und worin liegt die Verbindlichkeit des Sittengesetzes begründet, wenn nicht in jenen genannten Größen?

Die Aufgabe der gegenwärtigen Moralphilosophie besteht darin, diese Probleme nach wie vor als produktive anzusehen, denn wenn wir – wie nicht nur Kantianer glauben, denken wir etwa an Ernst Tugendhat – die Moral als einen eigenständigen normativen Bereich universal verpflichtender Normen verstehen, dann müssen wir darauf Antworten geben können. Tun wir das nicht, vergeben wir uns einer der wesentlichen Einsichten der modernen Ethik, die sich nicht zuletzt in historischen Kämpfen um Menschenrechte, Toleranz und Demokratie herausgebildet hat, nämlich dass es im normativen Raum bei aller Differenz eine gemeinsame Sprache der Moral geben muss, die alle Menschen normativ bindet und deren Beachtung sie als autonome reflexive Wesen voneinander erwarten können.

Viele sind der Meinung, einiges von Kant könne nicht mehr übernommen werden. Wie steht es dabei mit seinem Begriff der reinen praktischen Vernunft?

Reinhard Brandt: Diesen letzteren Begriff halte ich einerseits für unverzichtbar; auf ihn muss man sogar dann rekurrieren, wenn man das Gute ausnahmsweise über das Gesetz stellt. Jeder sittlich denkende Mensch steht auf der Seite des lügenden Schindlers, nicht des strikten Gesetzesmenschen, der sich an das Lügenverbot hält. Andererseits erfährt der Begriff der reinen praktischen Vernunft dadurch und aus anderen Gründen eine Änderung; in ihn müssen stärker theoretisch reflektierende Elemente und die eigene Urteilskraft eingehen. Auch in der moralischen Welt sind wir häufig orientierungslos, wenn wir uns nur nach dem Kompass des Imperativs richten. Es bedarf der freien Reflexion urteilsfähiger, sachkundiger Menschen, um moralisch handeln zu können.

Anton Leist: Inzwischen ist leicht sichtbar, dass dieser Begriff in der Ethik ein säkularer Ersatz für einen aus der Religion entspringenden absoluten Wert mit Gebots- oder Gesetzeseigenschaften sein soll. Die teilweise raffinierten Versuche, den Begriff im Geist Kants transzendentalistisch oder werttheoretisch zu rechtfertigen, sind jedoch alle gescheitert. Die zuletzt verfolgte Idee war, anhand einer Analyse der lokalen Gründe für oder gegen eine beliebige Handlung zu demonstrieren, dass diese Gründe einen Vernunfthorizont unterstellen, der vorausgesetzt werden muss, und der den lokalen Gründen einen moralischen Gleichheitsgehalt vorordnet. Das wurde teils als Diskursunterstellung, teils als Kern personaler Identität vertreten. Der Anspruch dieser Theorien stößt auf das Problem, dass in ihnen die übliche Praxis des moralischen Begründens missachtet werden muss. Häufig sind sehr gute und hinreichende Gründe in inhaltlichen Beschreibungen gegeben, die aus Kantianischer Sicht – und in Moorescher Ausdrucksweise – als ‚naturalistisch’ beiseite geräumt werden müssen, um zu einem reinen Vernunftanspruch vorzudringen. Die brauchbare, alltäglich-inhaltliche Begründungspraxis wird aber nur verwerfen, wer einen speziellen, auf Absolutheit zielenden Begründungsbedarf hat. Kant hatte ein solches Bedürfnis, nicht-religiöse Menschen haben es eher nicht. Und Philosophen, die nicht gerade Anfällen von Skeptizismus ausgesetzt sind, fehlt es ebenfalls.

Rainer Forst: Bevor man den Begriff verabschiedet, sollte man sich noch einmal klarmachen, wofür er steht. Denn allzu leicht wird vergessen, dass das ganze Unternehmen, eine empirisch "gesäuberte" Philosophie der Moral zu entwickeln, einer zentralen moralischen Erfahrung Rechnung trägt: Nicht nur der, dass wir in unserem moralischen Alltag voneinander erwarten, dass Personen sittliche Normen einsehen und einhalten, und zwar Kraft dessen, was wir Vernunft nennen - die Fähigkeit, sich reflexiv von den eigenen Wünschen und Zielen zu distanzieren und zu fragen, ob man verantworten und rechtfertigen kann, was man zu tun gedenkt. Mehr als das, Kant weist darauf hin, dass die reine praktische Vernunft eine praktische ist, also eine, die das Handeln ohne weitere Überlegung, was mir das Moralischsein "bringen" könnte, leiten kann. Die philosophische Rekonstruktion dieses Sachverhalts ist eine hochkomplexe Angelegenheit, und es liegt unbestreitbar in der Natur der Kantischen Philosophie, die Vernunft in ihrer Reinheit auf sehr abstrakte Weise expliziert zu haben - doch von dem Grundimpuls sollten wir uns nicht verabschieden, denn nur so können wir dem Phänomen der Moral gerecht werden. Dieses besteht ja darin, dass sich die Moral in unserem Leben als eine in gewisser Weise dezentrierende Kraft zeigt, als Überlegung, die uns aus bestimmten Be- und Vollzügen herauszureißen vermag und uns radikal auf unsere rechtfertigenden Gründe hin befragt. Wir können mit Fug und Recht sagen, dass Kant uns dieses Phänomen sehr unvollkommen beschrieben hat, seinen Kern allerdings hat er getroffen: die Radikalität "unbedingter" moralischer Pflichten des wechselseitigen Respekts, die kein "weiteres Warum" verlangen oder erlauben. Die Normativität der Moral, wie Kant sie aufzeigt, ist eine Normativität sui generis, und diesen Gedanken müssen wir als Philosophen unserer Zeit einholen.

Andrea Esser: Der Begriff der „reinen praktischen Vernunft“ markiert das Kernstück der Kantischen praktischen Philosophie (ebenso wie der Freiheits- und der Willensbegriff). Die Meinung, diesen Begriff (und dann zugleich die beiden mit ihm aufs Engste verbundenen anderen beiden Grundbegriffe der Theorie) einfach aufgeben zu können, gleichwohl aber weiterhin einer Kantischen Ethik zu folgen, scheint mir auf eine Unkenntnis der Kantischen Theorie hinzudeuten. Ferner liegt dieser Auffassung wohl auch ein im schlechten Sinne „abstraktes“ Theorieverständnis zu Grunde, demzufolge man meint, es mit willkürlich gesetzten und daher voneinander isolierbaren Begriffen und Unterscheidungen zu tun zu haben. Nach meinem Kant-Verständnis handelt es sich bei dem Begriff der „reinen praktischen Vernunft“, ebenso wie bei dem der Freiheit und des Willens (der ja nun, als theoretische Struktur praktischer Selbstbestimmung, nach Kant „die praktische Vernunft selbst ist“) nicht um Beschreibungen hypertropher metaphysischer Entitäten, menschlicher Eigenschaften oder Dispositionen, sondern um ein Geflecht von Funktionsbegriffen. Kants praktische Philosophie geht nicht von einem fixen und unverrückbaren Begriff „reiner praktischer Vernunft“ aus und zaubert dann aus diesem − notwendigerweise leeren − Anfangspunkt allerlei Prinzipien oder Normen. Der Begriff einer „reinen praktischen Vernunft“ kennzeichnet vielmehr die in der theoretischen Rekonstruktion gewonnene, allgemeine, in gesetzlichen Zusammenhängen fassbare Struktur eines über sich selbst aufgeklärten Willens. Aus dieser Rekonstruktion und der Frage nach der vernünftigen Gesetzlichkeit dieses Willens entwickelt Kant dann schrittweise sein Konzept der Verbindlichkeit und das Instrumentarium zur Prüfung und Rechtfertigung jeweils konkreter moralischer Ansprüche. „Rein“ ist die praktische Vernunft sofern sie das leitende Ideal einer praktischen Überlegung bezeichnet, die sich durch den kritischen Selbstbezug in ihrem Urteil von egozentrischen, perspektivischen, tradierten, interessengeleiteten Einschränkungen zu befreien sucht. Ebenso wichtig ist dabei die Auszeichnung der Vernunft als einer „praktischen“, d.h. einer das Wollen und die damit angestrebten Zwecke betreffenden Selbstorientierung.

Auf den Begriff der „praktischen“ Vernunft zu verzichten, bedeutet nicht weniger, als den Gedanken einer möglichen Selbstbestimmung des individuellen oder kollektiven Willens bzw. Handlungsvermögens aufzugeben und praktische Fragen in pragmatische zu verwandeln, um im Rekurs auf allgemeine Interessen, nützliche oder wünschenswerte Ziele oder anthropologische Konstanten die erforderlichen Schritte zur Verwirklichung auszubuchstabieren. Letzteres ist zwar eine wichtige Kompetenz für die Umsetzung unserer individuellen oder politischen Ziele, es ist aber nicht die originäre Aufgabe der praktischen Philosophie, die sich nämlich um die moralische Validität der allgemein verfolgten Ziele und Interessen zu kümmern hat. Gilt es etwa zu erfahren, wo sich ein Entführungsopfer befindet, um es zu retten, so mag Folter unter Umständen ein rationales Mittel zur Erreichung des fraglos wertvollen Zwecks darstellen. Auch dass wir es uns persönlich vorstellen können, in einer Extremsituation dieses Mittel zu ergreifen oder für andere, die dies getan haben, Verständnis entwickeln können, wird niemand abstreiten. Ob sich aber auf diesen Überlegungen auch ein Recht bzw. eine Erlaubnis zu foltern gründen lässt, ist eine moralische, keine politische oder pragmatische Frage. Zu ihrer Beantwortung müssen wir uns fragen, ob und wie wir mit der entsprechenden Modifikation der Normen unser Recht noch als systematische Integration aller Rechtssubjekte verstehen können.

Gibt es vom Begriff der reinen praktischen Vernunft abgesehen Eckpfeiler der Kantischen Ethik die heute fragwürdig sind?

Rainer Forst: Dazu gäbe es viel zu sagen, aber ich will mich auf einen Punkt beschränken. Kant entwickelt seine Moralphilosophie aus der Selbstreflexion der praktisch vernünftigen Person heraus, und an der Stelle, an der er selbst die - wie ich sagen möchte - "letzte" Grundlage der Moral angeben muss, verweist er auf die Achtung für die eigene Würde als freies und vernunftbegabtes Wesen, auf die "Erhabenheit unserer Natur". Er selbst aber lehrt uns, dass das Moralischsein dem Anderen, den wir verletzen könnten, unbedingt geschuldet ist, vermag dies letztlich aber nur über den Bezug auf mich selbst als Vernunftwesen zu begründen. Nun ist es natürlich so, dass wir den "Sitz" der Moral in unserem Selbstverhältnis aufklären müssen, und die neueren Vorlesungen von Dieter Henrich setzen diese Reflexion auf umfassende Weise fort. Aber trotz Henrichs Warnung, diesen Selbstbezug nicht durch intersubjektive Bezüge philosophisch zu "verwässern", denke ich, dass die besondere Art des Anderen etwas Schuldens, die sich in der Moral ausdrückt, eine radikalere Reflexion auf die konstitutive Beziehung zu Anderen erfordert, als sie bei Kant (und vielen Kantianern) zu finden ist. Dabei Autonomie nicht durch Heteronomie zu ersetzen, wie es bei Lévinas etwa der Fall ist, bleibt die Aufgabe.

Anton Leist: Ich denke, dass die Idee des Befolgens der Pflicht um ihrer selbst willen heute von niemandem mehr akzeptiert wird. Jeder versteht diese Idee sofort konsequentialistisch, also mit Bezug auf ein konkret herzustellendes Gut, dessentwegen man der Pflicht folgt, und nicht, wie Kant fordert, als Ausdruck der von den menschlichen Bedürfnissen und Neigungen säuberlich getrennten praktischen Vernunft. Es kommt uns nicht in den Sinn, dass wir unserem Vernunftwesen widersprechen, wenn wir eine Pflicht verletzen, sondern wir meinen ganz naheliegend, dass wir dadurch die über ihre Interessen gerechtfertigten Ansprüche der anderen missachten. Die Kehrseite der allein vernunftbasierten Pflichten ist außerdem, dass sie in gewissem Sinn kontextlos gelten sollen, nicht spezifiziert und abgewogen angesehen werden dürfen. Kants Sehnsucht nach absolut und kategorisch geltenden Pflichten hat den in der Moralphilosophie beliebten Konflikt zwischen ‚deontologischer’ und ‚konsequentialistischer’ Ethik mit hervorgerufen, sowie die anhaltende Polemik und Abwehr gegenüber dem Utilitarismus unterstützt. In der Praxis folgt niemand diesem absoluten Pflichtenverständnis, weshalb man es praktisch gesehen auch als religiös motivierte Kuriosität betrachten kann. In der Moralphilosophie hingegen hat es endlose Debatten über die theoretische Vereinbarkeit von Kant und Mill nach sich gezogen. Diese Debatten verschaffen Philosophen Arbeit, sind aber praktisch weitgehend nutzlos. Es gibt kein Überprinzip, mit dem Pflichten und Handlungsfolgen gegeneinander abgewogen werden können, sondern nur eine Fülle von konkreten Einzelfällen. Und natürlich wird jeder, der nicht im Bann der religiösen Moral mit absoluten Ansprüchen steht, die konkreten Folgen berücksichtigen und eine Pflicht bewusst durchbrechen, wenn es ihm richtig erscheint.

Reinhard Brandt: Die strikte Differenz von Sein und Sollen, Natur und Freiheit, Heteronomie und Autonomie, phänomenaler und noumenaler, zeitlicher und zeitloser Wirklichkeit ist einerseits ganz richtig, andererseits ist die Scheidung neu zu formulieren, denn die Kantischen Basistheoreme stimmen nicht.

Andrea Esser: Die Leistungen der Kantischen Ethik und die Einsichten, die wir daraus gewinnen können, rechtfertigen sicherlich keinen unmittelbaren Rückgriff auf Kant unter Ausblenden der historischen Entwicklung und der daraus erwachsenden Distanz. Fragwürdig sind unter heutigen Gesichtspunkten sowohl die psychologischen und metaphysisch-dogmatischen Restbestände in seinem Konzept der Autonomie, die Begründung des Eigentumsbegriffs, die Überlegungen zum Strafrecht, die Ausführungen zu den Tugendpflichten, aber auch das Verhältnis von Recht und Moral insgesamt. Ich halte es darüber hinaus für geboten, Kants Ethik um einige Eckpfeiler zu ergänzen, d.h. mit bereichsspezifischen Ausdifferenzierungen zu vermitteln und seine Ethik sowohl um eine ideologiekritische als auch um die institutionelle Dimension zu erweitern.

Wie kann eine moderne Ethik Kants Denken weiterführen?

Rainer Forst: Es gibt viele Pfade, auf denen weiterzugehen ist, sei es in Bezug auf das Verhältnis von Vernunft, Erfahrung und Gefühl, sei es in Bezug auf das Verhältnis von Pflicht und Tugend, sei es in Bezug auf „metaethische“ Fragen der Normativität. Hinsichtlich Letzterem ist es wichtig, sich der Grenzen und der Möglichkeiten des Konstruktivismus in der Ethik bewusst zu sein. Jenseits der Alternative von Realismus und Relativismus erscheint ein prozeduraler Konstruktivismus als elegante Möglichkeit, die Geltungskraft moralischer Normen zu erklären, sofern man das Verfahren der Reflexion „in foro interno“ angemessen zu bestimmen vermag. Denn es ist ein Irrtum zu glauben, eine prozedurale Theorie habe in dieser Hinsicht nichts zu sagen außer einem allgemeinen Verweis auf die Urteilskraft. Aber dort, wo die Normativität des Diskurs- oder Rechtfertigungsprinzips – klassisch: des Sittengesetzes selbst – erklärt werden soll, stellt sich ein anderes Problem, den jenes kann nicht in derselben Weise „konstruiert“ werden wie moralische Normen. Diese Frage erfordert ein neues Nachdenken darüber, was die praktische Vernunft selbst an bindenden Prinzipien erhält, und dabei bleibt die Kantische Einsicht, dass die Vernunft nicht etwas moralisch Neutrales ist, leitend. Die Sprache aber, in der wir dies rekonstruieren, muss heute eine andere sein, auf der Höhe der neuesten Entwicklungen der Rationalitäts- und Handlungstheorie.

Ein Letztes vielleicht an dieser Stelle: So mancher Versuch, eine Kantische Moralvorstellung endgültig zu verabschieden, nahm eine zu enge Identifikation eines Kantischen und eines utilitaristischen Unparteilichkeitskalküls vor. Bernard Williams etwa sagte einmal, eine solche Ethik füge dem Handeln, etwa dem Retten einer geliebten Person in Not gegenüber einer anderen, „einen Gedanken zuviel“ bei. Aber gegen den Vorwurf der Substanzlosigkeit ist viel eher zu sagen, dass die Moralvorstellungen, die bei der Frage nach dem Verpflichtetsein zunächst die eigene Identität und ihre besonderen Bindungen oder „Grundprojekte“ durchmustern, bevor sie das Schicksal anderer in Erwägung ziehen, definitiv nicht minder „einen Gedanken zuviel“ verschwenden. Wie wir andere behandeln, ist in der Tat Teil unseres Charakters, aber die Moral eben auch. Dies insgesamt aufzuklären, bleibt eine wesentliche philosophische Aufgabe nach Kant.

Andrea Esser: Der innovativste Weg einer Weiterentwicklung liegt in der Fortführung der kritischen, konstruktiven und prozessuralen Elemente der Kantischen Theorie. Eine Fortführung müsste dabei auch eine Sprache wählen, die nicht einmal mehr zu psychologisierenden oder metaphysischen Deutungen der Kantischen Begriffe anregt. Ferner sollte die Fortführung in eine Auseinandersetzung mit dem Kantischen Konstruktivismus treten, wie er in der Rawls-Schule und von O’Neill skizziert wurde, und dieses Programm konsequenter als die genannten Autorinnen und Autoren verfolgen. Ich lese derzeit mit großem Gewinn die Texte Hermann Cohens und bin der Überzeugung, dass eine aktualisierende Rezeption seiner kritischen Weiterentwicklung der Kantischen Ethik, die ja durch den Nationalsozialismus verhindert wurde, dringend geboten ist und die gegenwärtige Diskussion sehr bereichern würde.

Anton Leist: Ich glaube nicht, dass Stücke von Kants Moralverständnis freischwebend und völlig losgelöst von Kants Begründungstheorie beibehalten werden können. Rawls hat mit seiner methodischen Argumentation über die verbreiteten Intuitionen etwas von dieser Art versucht, mit dem Ergebnis, dass das ‚Kantische’ Profil seiner Gerechtigkeitslehre immer dünner geworden ist und am Ende niemanden mehr wirklich überzeugt. Vielleicht sind unsere moralischen Intuitionen ‚Kantische’, aber was hilft ein solcher Hinweis argumentativ? Nein, ich glaube, dass wir alles, was wir von Kants Ethik behalten möchten, dem Test unterwerfen sollten, ob es sich im Rahmen einer grob gesprochen ‚Hegelianischen Transformation’ reformulieren lässt. Ich glaube, dass ‚moralische Wahrheit’ anstatt auf ein menschen-externes Gesetz auf zwischenmenschliche Anerkennungsgesetze zurückgeführt werden muss. Hegel hat eine solche intersubjektive Transformation subjektiver und realistischer Wahrheitsansprüche der Idee nach als erster vorgeführt. Wie das für die Ethik genau gelingen soll, wenn die Moral nicht einfach, was manche versucht haben, mit einem sozialpsychologischen Begriff der Anerkennung übersetzt wird, ist nicht sonderlich klar. Am hilfreichsten scheint mir der Ansatz von Robert Brandom, wonach man den einzelnen Argumentierenden als in einer Diskursgemeinschaft Verantwortlichen versteht, woraufhin man ihm auch moralische Rollen zubilligen könnte. Warum ihm nicht vorrangig moralische Ansprüche zubilligen, und erst danach semantische? Wie ist das Verhältnis von Semantik und Moral zu sehen? Vielleicht lassen sich so die wichtigsten Kantischen Moralideen der Autonomie und Achtung in einem intersubjektiv-normativen Verhältnis reformulieren. Hegels Grundidee ist, dass der Einzelne nicht frei sein kann, außer in einer bestimmten, ihn positiv befreienden sozialen Beziehung. Wenn es an Kants Ethik etwas zu retten gibt, muss es meiner Meinung nach innerhalb und mithilfe dieser Idee gerettet werden. Und das wird in einem gewissen Ausmaß auch nur theoretisch, also nicht einfach unter Rekurs auf ‚Intuitionen’, möglich sein. Deshalb sollte man Kants Ethik systematisch von seiner Formel des ‚Reichs der Zwecke’ her lesen und die anderen Formeln hinten an stellen und vorübergehend vergessen. Nur wenn man Kant etwas gegen seine Absicht so versteht, dass er die Leute schon als immanent mit moralischen Maßstäben durchdrungen ansieht, damit sie sich gegenseitig als Zwecke behandeln, oder dass sie sich eben nur gegenseitig als Zwecke behandeln können, dann kann etwas von dem egalitären normativen Sinn zurückgewonnen werden, der in Verbindung mit so unergiebigen Erfindungen wie der transzendentalen Freiheitslehre oder dem Vernunftsubjekt unterzugehen droht.

Reinhard Brandt: Für Kant ist der Zweck des menschlichen Daseins, die „Bestimmung des Menschen“, seine Moralität. Die moderne Ethik ist dagegen zu einer Spezialdisziplin in unserer sezierten Gesellschaft geworden. Kants Denken würde weitergeführt werden, wenn der kosmopolitische, menschheitliche Charakter ethischer Probleme aufgegriffen und vertieft würde.