PhilosophiePhilosophie

02 2008

Kants Ethik in der Diskussion


Stellungnahmen von Reinhard Brandt, Andrea Esser, Rainer Forst und Anton Leist


Was macht Kants praktische Philosophie für die gegenwärtige Ethik-Diskussion so interessant?

Reinhard Brandt: Kant stiftet mit einem einzigen, sogar populären Prinzip, dem kategorischen Imperativ, einen Zusammenhang zwischen vielen Bereichen der heute isoliert geführten Diskussion ethischer Probleme: Die Konstitution der Selbstidentität der Person als eines moralischen (und nicht nur physisch-psychologischen) Wesens; die Basis der Erörterung problematischer Fälle und ethischer Aporien, die Abgrenzung der Ethik vom Rechtssystem des Staats, die sittliche Notwendigkeit der Förderung eines ethischen weltweiten Gemeinwesens, das an die Seite oder die Stelle der Kirche tritt; moderne Ausführungen dieser Kantischen Idee sind etwa die SOS-Kinderdörfer, amnesty international, aber auch Ethik-Gruppen, in denen gemeinsam Lösungen aus den Aporien z.B. der Apparate-Medizin gesucht werden. Weder die antike oder mittelalterliche und auch nicht die postmetaphysische Philosophie haben es zu dem Satz gebracht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – die Idee, verbunden mit dem Prinzip der Autonomie, stammt von Kant.

Andrea Esser: Die gegenwärtige Ethik ist mit hoch komplexen Problemstellungen konfrontiert, die sie aber so bearbeiten muss, dass ihre Verfahren und Überlegungen auch von anderen Wissenschaften in Gebrauch genommen werden können. Zugleich müssen ihre Überlegungen aus der Perspektive der philosophischen Theorieentwicklung befriedigend begründet sein. Oft werden diese beiden Ansprüche allerdings arbeitsteilig eingelöst und die konkreten Lösungen im Feld der sog. „Angewandten Ethik“ entwickelt, die Begründungsdiskurse hingegen in der sog. „Allgemeinen Ethik“ geführt. Das ist schon allein deshalb nicht sinnvoll, weil ethische Begründungsdiskurse keinen Selbstzweck darstellen, sondern genau dazu dienen, Maßgaben zu entwickeln, um moralische Ansprüche zu rechtfertigen und auf den Legitimitätsnachweis die Forderung nach ihrer Umsetzung zu gründen. Im Gegenzug muss auch jeder Lösungsvorschlag zu einem konkreten ethischen Problem, weil es in praktischen Fragen keine für immer und unter allen Umständen feststehenden Anleitungen geben kann, in einem Begründungsdiskurs geprüft werden können. Aus Kants praktischer Philosophie, insbesondere seiner Beiträge aus den späteren Schriften, kann man nun lernen, dass Fragen der Begründung und der Anwendung zwar zum Zwecke der theoretischen Aufklärung begrifflich differenziert werden müssen, dass diese beiden Dimensionen der Ethik im Vollzug einer konkreten moralischen Reflexion aber gerade nicht geschieden werden dürfen, sondern ineinander greifen müssen. Das Interessante an Kants praktischer Philosophie liegt meines Erachtens dabei darin, dass sie uns hauptsächlich mit Verfahren zur Aufklärung praktischer Ansprüche und zur Generierung moralischer Orientierungen versorgt; damit zeigt sie zugleich, dass die darin gewonnenen Ergebnisse keine isolierbaren und in diesem Sinne „absoluten“ Werte darstellen, sondern nur Momente innerhalb eines im terminologischen Sinne „kritisch“ vollzogenen Überlegungsprozesses sind, die auch nur durch diesen Prozess ihre Rechtfertigung finden können. Diese prozessurale und konstruktive Dimension der Kantischen Ethik ist es, der ich einen produktiven und aufklärenden Beitrag zu der teilweise in scholastischen Einteilungen festgefressenen und ihren Gegenstand wie auch ihre Weisungen substantialisierenden Ethik-Diskussion zutraue. Der ungeheure Gewinn der Kantischen Ethik liegt – freilich nur, wenn sie nicht ihrerseits auf abstrakte Oppositionen verkürzt und ihre Überlegungen auf mechanische Universalisierungs- und Subsumtionsverfahren reduziert werden − darin, dass sie uns mit Grundbegriffen ausstattet, die wir als generative Leitbegriffe in einer konkreten moralischen Überlegung tatsächlich nutzen können.
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