PhilosophiePhilosophie

03 2014

Arnd Pollmann:
Was ist ein moralisches Problem?

aus: Heft 3/2014, S. 15-25

Drei Fragestellungen


Beiträge zur moralphilosophischen Grundlagenforschung kreisen meist um die eher klassische Frage, warum wir überhaupt moralisch sein sollen. Man nennt dies gemeinhin das Begründungsproblem der Moral: Welche rationalen Erwägungen sprechen dafür, den Standpunkt der Moral zu einer festen lebensweltlichen Orientierungsgröße zu machen? Warum nicht einfach „Trittbrettfahren“ oder gar einen gänzlichen amoralischen Weg einschlagen? Geradezu jeder moralphilosophische Grundansatz – ob tugendethisch, kontraktualistisch, kantianisch, utilitaristisch oder auch mitleidsethisch – will eine Antwort auf diese prinzipielle Begründungsfrage geben. Doch nur selten erweisen sich die betreffenden Antworten als derart zwingend, dass sie auch jene Menschen, die keine Moralphilosophinnen und -philosophen sind, im Konfliktfall unmittelbar zu moralischem Wohlverhalten veranlassen würden.

Vielmehr besagt die metaethische Standardauffassung, dass man das genannte Begrün-dungsproblem sorgsam von einem zweiten Grundlagenproblem der Moralphilosophie unterscheiden muss, und zwar vom sogenannten Motivationsproblem: Was motiviert moralfähige Akteure, die den Standpunkt der Moral bereits prinzipiell akzeptieren, im empirischen Einzelfall dazu (oder auch nicht), diejenige Handlung dann auch faktisch zu vollziehen, für deren Vollzug die jeweils besten Gründe sprechen? Gibt es nicht doch auch in der Moral das Phänomen eines Handelns wider besseres Wissens? Sind in der moralischen Alltagspraxis vielleicht ganz andere und vielleicht auch irrationale Kräfte ausschlaggebend, sodass die Moralphilosophie die Kraft ihrer eigenen rationalen Begründungsversuche eher skeptisch betrachten sollte?

Beiden Fragestellungen kommt traditionell bereits eine erhebliche fachphilosophische Bedeutung zu. Umso verblüffender ist aber, dass einer dritten und kaum weniger wichtigen Fragestellung bislang nur äußerst wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Gemeint ist das – in gewisser Weise sogar prioritäre – moralphilosophische Problem, wann wir als moralische Akteure dazu aufgerufen sind, moralisch zu reflektieren und zu handeln, und entsprechend auch: wann nicht. Was genau unterscheidet Handlungskonflikte oder Problemlagen, die moralisch relevant sind, von solchen, bei denen das nicht der Fall zu sein scheint? Kann letztlich jeder Sachverhalt „moralisiert“ werden oder lässt sich eine prinzipielle und dann auch praktisch folgenreiche Grenze ziehen zwischen moralischen Konflikten einerseits und z. B. pragmatischen, technischen, mathematischen, ökonomischen oder auch ästhetischen Problemstellungen andererseits? Kurz: Was überhaupt ist ein genuin moralisches Problem?

Man kann diese dritte Fragestellung das „Relevanzproblem“ oder auch das „Problem-Problem“ der Moralphilosophie nennen. Die Moral ist eine wichtige Größe im Leben, aber sie ist vermutlich doch nicht so wichtig, dass von vornherein sämtliche lebensweltliche Entscheidungen immer auch in den Bereich der Moral fallen. Im Anschluss an die Stoiker wird dieser Umstand gelegentlich unter dem Stichwort adiaphora diskutiert: Es gibt zumindest manche Handlungen, die weder als „verboten“ noch als „geboten“ noch als „erlaubt“ zu kennzeichnen sind. Sie stehen vielmehr ganz außerhalb der Moral, sind moralisch „neutral“ oder auch „gleichgültig“. Gesucht sind also konzeptionelle Kriterien, die einem bei der Entscheidung helfen, moralisch bedeutsame Sachverhalte von moralisch tendenziell irrelevanten Angelegenheiten abzugrenzen. Und der erwähnte Umstand, dass eben dieses Relevanzproblem bislang nur selten einmal ausdrücklich behandelt worden ist, mag zunächst vielleicht dafür sprechen, dass dieses Problem im Grunde gar nicht wirklich ein Problem darstellt: Viel-leicht sind die gesuchten Relevanzkriterien derart trivial, dass ihre rationale Rekonstruktion kaum Mühe machen wird.
...


Sie wollen den vollständigen Beitrag lesen?