PhilosophiePhilosophie

03 2014

Kodalles Philosophie des Verzeihens im Gespräch

aus Heft 3/2014, S. 34-41

Wolfram Hogrebe: Klaus-Michael Kodalle rückt in seinen neuen Buch Verzeihung denken die Verzeihung ins Zentrum der Ethik. Verzeihen wird das Fundamentalphänomen des gesamten moralischen Diskurses schlechthin. Das scheint mir problematisch zu sein. Ist das nicht eine Überdrehung, die im Grunde den moralischen Diskurs sprengt? Denn Verzeihen ist genau genommen weder eine Pflicht noch eine Tugend, sondern etwas singulär ‚Überethisches‘. Es hat eben deshalb den Status eines Supererogativen. Darin besteht ja gerade sein metaphysisches Aroma.

Klaus-Michael Kodalle: Der Eindruck, dass das Verzeihen in eine zentrale Rolle bei der Bewältigung von Schuld gerückt wird, ist nicht von der Hand zu weisen. Auf der Ebene prinzipienorientierter Moralbegründung aber ist der Begriff der Verzeihung nicht zu verorten, denn er bezeichnet eine ‚Leistung’, die sich der Logik des Einforderns im Sinne strenger Pflicht entzieht. Das Verzeihen ist nicht irgendeiner Regelhaftigkeit unterworfen; es ist vielmehr extra-ordinär. Es bezeugt sich darin ein ‚Mehr’ an Humanität, das zwar einen Indikator ‚aufs Allgemeine hin’ erkennen lässt, nicht aber konsequenzlogisch verallgemeinerbar ist. Man kann es höchstens „ansinnen“. Wenn der eine Mensch sich aus verschiedenen Gründen zur Verzeihung durchringt, hat der andere alle Freiheit, dieses Entgegenkommen zu verweigern (auch dann, wenn er um Verzeihung gebeten wird). Selbst die Bitte um Verzeihung kann nämlich bedrängend, kann unverschämt sein.

Werner Stegmaier: Kodalle plädiert einerseits für die Ernsthaftigkeit der Verzeihung und rät andererseits zur Zurückhaltung, was große Worte ihrer Gewährung betrifft. Er prägt in diesem Sinn die schöne Formel von der „Souveränität eines Geistes der bescheidenen Menschenfreundlichkeit“.
Souveränität braucht es dort, wo man nicht einfach Regeln und Normen folgen kann. Das liegt am komplexen Verhältnis der Verzeihung zur Moral. Denn Verzeihung revidiert die moralische Orientierung, um die schlichte Befolgung von moralischen Normen so zu nennen, sie nimmt, unter welchen Voraussetzungen und Umständen auch immer, hin, was moralisch nicht gut war. Und für Kodalle scheint dieses Verzeihen grundlegend zu sein für das, was man dann reflektierte moralische Orientierung oder kurz: ethische Orientierung nennen kann. Ethische Orientierung, eine Moral im Umgang mit Moral, bedarf, so Kodalle, der Verzeihung.

Wolfram Hogrebe: Mich irritiert eine gewisse Relativierung der Reue. Ohne Reue aber ist Verzeihen sinnlos, kann sogar ins Leere laufen oder Empörung auslösen. Die Basis ist allerdings Vertrauen. Verzeihen ist ein Versuch, ein tiefgreifend gestörtes Vertrauen wieder herzustellen, macht aber, wie gesagt, ohne Reue keinen Sinn.

Klaus-Michael Kodalle: Diese Auffassung ist allgemein verbreitet. Aber ich halte sie, bezogen auf Theorie wie auf Praxis, für unterkomplex. Ein radikales Verzeihen kann ein ‚vor-laufendes’, entgegenkommendes Verzeihen sein, das erst den Raum und das Klima schafft, in dem ein Täter es wagt, sich seinen Abgründen zu stellen und eigene Schuld in ihrer Tiefe überhaupt anzuerkennen. Reue wäre dann die Folge eines Aktes bzw. einer Haltung des Verzeihens.

Werner Stegmaier: Für einfache Theorien der Verzeihung steht fest, dass der schuldig Gesprochene auch schuldig ist und dass er sich zu seiner Tat bekennt und sie bereut oder sie doch zu bekennen und zu bereuen hat. Nur unter diesen Voraussetzungen – so die herrschende Meinung – sei Verzeihung möglich, dann aber auch geboten. Sicherlich. Jenseits der Theorie jedoch sieht das Verzeihen meist anders aus. Am häufigsten begegnet man wohl dem berechnenden Verzeihen: Das Opfer einer Demütigung bzw. Schädigung verzeiht dem Täter, weil es die Beziehung weiter aufrechterhalten will oder muss, ob sich der Übeltäter nun zu seiner Tat bekennt und sie bereut oder nicht.

Klaus-Michael Kodalle: Auch das vorlaufende, das entgegenkommende Verzeihen, das nicht Ausdruck von Feigheit und Ich-Schwäche, sondern von Mut und Stärke ist, bleibt vom Scheitern bedroht. Wohl darf solch ein Verzeihender hoffen, den Übeltäter durch sein Entgegenkommen doch schließlich zur Reue zu bewegen. Aber diese Hoffnung muss sich nicht erfüllen.

Werner Stegmaier: Und nicht nur das! Erfüllt sich die Hoffnung nicht, kann man den Übeltäter erst recht beschuldigen. Aber womöglich kommen auch Zweifel auf, ob man ihn überhaupt zu Recht beschuldigt, ob er zu seinem Tun vielleicht durch Umstände veranlasst, verführt oder gezwungen wurde, an denen er selbst nicht Schuld hat; möglicherweise hat das „Opfer“ sogar selbst dazu beigetragen, dass der Täter handelte, wie er gehandelt hat. In solchem Kontext kann es zum entlastenden Verzeihen kommen, und die Verzeihung wird aus einer Geste gegenüber andern zur Selbstüberwindung. Man versucht, damit zurechtzukommen, darüber hinwegzukommen, dass man geschädigt, beschädigt, gedemütigt wurde. Um wieder unbelastet leben zu können, sucht man die Last der Übeltat loszuwerden, die nun einmal geschehen ist und die auch durch Verzeihung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Kodalle führt Beispiele an wie das Verhalten von Hans Jonas gegenüber Heidegger oder der in Auschwitz internierten Eva Mozes Kor gegenüber verbrecherischen Ärzten. Man bringt die Schuld nicht mehr ins Spiel, verzichtet auf weitere Schuldzuweisung; eben dies könnte ja auch ‚Verzeihen‘ (als Negation von ‚Zeihen‘, ‚Bezichtigen‘) heißen. Die Kraft zu solcher Selbstüberwindung ist freilich begrenzt, wie Kodalle am Beispiel von Hans Jonas gegenüber Hannah Arendt zeigt. Und könnte ein Missbrauchs- oder Vergewaltigungsopfer, das vielleicht für sein Leben traumatisiert ist, dem Schädiger verzeihen?

Das kompliziert und relativiert einfache Theorien der Verzeihung – im Blick auf eine Moral im Umgang mit Moral. Eine Moral im Umgang mit Moral setzt nicht unbedacht die eigene Moral bei anderen voraus und hält sich darum mit Schuldzuweisungen zurück. Aus einer gleichsam positivistischen Verzeihung, die Tat und Schuld als gegeben voraussetzt, wird in Kodalles Sprache der „Geist der Verzeihung“. Er reflektiert mögliche andere Standpunkte zur Schuld, geht also von Orientierung in Perspektiven und an Anhaltspunkten, nicht von einem scheinbar allgemeingültigen Wissen über Tatsachen aus. Verzeihung kann man dann nicht geradewegs erwarten oder gar einfordern, sie wird zu einer besonderen ethischen Leistung, über die Norm hinaus, „supererogatorisch“, wie Kodalle aufzeigt und Hogrebe hervorhebt. Aber in diesem Begriff bleibt die moralische Norm der Maßstab. Kodalle dagegen sagt: „Das Verzeihen passiert.“ Dessen Sinn und Angemessenheit bleibt abhängig von der Orientierungssituation, also kontingent.

Klaus-Michael Kodalle: Hierher gehört auch der Gedanke, dass man nicht für einen andern verzeihen kann, weil es unmöglich ist, sich an dessen Stelle zu setzen. Ein stellvertretendes Verzeihen macht es sich unweigerlich zu leicht.

Werner Stegmaier: Weiter ausgreifend ist festzuhalten: Ein Betroffener, der durchaus das Recht zur Verzeihung hat, ist der Befangenste; folglich hat auch er kein Recht zu verallgemeinernden Festlegungen, wann im konkreten Fall Verzeihung angebracht ist und wann nicht. Man kann nur Zeichen setzen, Kodalle sagt: „gelebtes Zeugnis“ geben, an dem andere sich dann orientieren können – so oder so. Insofern scheint auch mir Verzeihen grundlegend in der ethischen Orientierung: weil man immer schon die Andersheit anderer moralischer Ausrichtungen zu verzeihen hat. Aus dieser Sicht werden scheinbar allgemeingültige moralische Normen prekär. Denn nun kommen auch Takt und Taktlosigkeit ins Spiel: Man kann jemanden mit der Bitte um Verzeihung oder mit der Verzeihung selbst in Verlegenheit bringen. Explizites Verzeihen kann leicht auch bedeuten, man beanspruche im Grunde einen höheren moralischen Standpunkt, was auf andere demütigend wirken mag. Es ist eine „ästhetische“ Frage von Geschmack/ Geschmacklosigkeit, wie man Verzeihung richtig oder falsch artikuliert. So ist es doch abwegig, von schwer Getroffenen eine Rechtfertigung für ihr Nicht-verzeihen-Können zu verlangen. Moralische, ethische und ästhetische Gesichtspunkte in der rechten Weise zu balancieren könnte ein „souveräner“ moralischer Umgang mit Moral im „Geist der bescheidenen Menschenfreundlichkeit“ sein.

Wolfram Hogrebe: Ich habe den Verdacht, dass historisch gesehen durch die Argumentationsweise Kodalles die Differenz zwischen so etwas wie Nachsicht in der Antike – zentriert um den Begriff syngnome – und der eigentümlich christlichen Vertiefung des Schuldverständnisses und der Gewissensbildung (Reue) im frühen Christentum verwischt wird. Nachsichtigkeit im Verständnis der Antike ist noch nicht ‚Verzeihen‘ in der Perspektive des Christentums. So ‚existentiell‘ dachte die Antike nicht.

Klaus-Michael Kodalle:
Natürlich ist es wichtig, Differenzen zu beachten, damit nicht alle Katzen als grau erscheinen. Allerdings ist es auch mein Interesse in dem Buch, verbreiteten Vorurteilen bezüglich dessen, was angeblich „heidnisch-antik“ und was demgegenüber „christlich tiefer“ ist, entgegenzutreten. In der antiken Philosophie finden sich sehr wohl starke Ausführungen zu dem, was ich ‚Geist der Verzeihung’ nenne. Freilich verselbständigt sich diese Perspektive nie zu einer abgehobenen metaphysischen Idee; vielmehr bleibt das Verzeihen in seinen verschiedenen Modi (z. B. als Nachsichtigkeit) an die Deutung und Bewältigung von Fehlverhalten und damit an Recht und Moral gebunden. Der ganze platonische (bzw. xenophontische) Diskurs zu dem Grundsatz „niemand tut wissentlich Schlechtes“ und die insbesondere von Aristoteles betriebene differenzierte Untersuchung, wann eine Handlung „freiwillig“ erfolgte und wann nicht, diente nicht nur der Klärung von Fragen der Zurechenbarkeit und Verantwortung, sondern immer zugleich der Eröffnung von Schuld-Entlastungsperspektiven – bis hin zum berühmten, bei Lukas überlieferten Wort Jesu am Kreuz „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“.

Eberhard Tiefensee: Die Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit eines „Geistes der Verzeihung“ ist wohl das Hauptproblem, das Kodalle in seinem Buch umkreist. Der Begriff sei weder eindeutig fixierbar noch direkt identifizierbar. Der „Geist“ sei eher in Verweisungen angedeutet und stelle die Charakteristik einer bestimmten Weise von Beziehung dar, sei Repräsentant eines Sinnraumes, „der weit über die jeweiligen Handlungsintentionen der Subjekte hinausreicht“. Kodalle nennt als Beispiele: soziales Klima, Geist in einer Gruppe, Geist der Zeit oder einer Epoche, Ungeist, geistige Ausstrahlung etc. Die Repräsentanz sei in hohem Maße an eine kontingente Hermeneutik gebunden: Den Beobachtungen eigne „Plausibilität, aber keine Deutungsexklusivität“ (S. 11). Macht man sich mit dieser Perspektive auf Spurensuche, dann bietet Kodalles Buch reichlich Material für die Wahrnehmung des Defizits an „Geist der Verzeihung“.

Georg Lohmann: Mir läge daran, eine gewissermaßen metaphysisch ernüchterte Konzeption eines horizontalen, zwischenmenschlichen Verzeihens zu erarbeiten. Auch wenn ich da vielleicht mit Kodalle übereinstimme, ist es philosophisch doch angebracht zu unterstreichen, dass Gründe und Motive zu verzeihen sich keineswegs auf eine „jenseitige“ Instanz beziehen müssen, sondern dass es ausreicht, sich auf das zu beziehen, was endliche Menschen wechselseitig als angemessen und vernünftig einsehen können. Das Verzeihen ist weder irrational, als überschritte es alle menschlichen Einsichten, noch bedarf es, um praktiziert zu werden, einer „jenseitigen“, „absoluten“ Quelle religiöser oder metaphysischer Provenienz. Im Gegenteil, es erhält für Menschen erst seine angemessene Interpretation, wenn man es als eine Folge der Imperfektheit und Endlichkeit des Menschen ansieht.

Eberhard Tiefensee: „Verzeihung“ trifft auf das Extrem-Phänomen des „Unverzeihlichen“, das von Kodalle verschiedentlich angesprochen wird. Systematisch lässt sich das Phänomen auf die Seite des Opfers verlegen (z. B. im Fall des Todes des Opfers, das allein vergeben kann) oder auf die Seite des Täters (der z. B. unfähig ist, Verzeihung anzunehmen) oder auf beide Seiten oder auf die „Materie“ der Schuld. Trotz des von Kodalle gewürdigten „jesuanische[n] Impuls [es] zu einem unbedingten Vergeben“ kennt auch das Neue Testament „Unverzeihliches“, nämlich die „Sünde[n] gegen den Heiligen Geist“ (Mt 12,31f.; Mk 3,30ff.; Lk 12,10), die nicht einmal Gott vergeben könne – eine warnende Feststellung, die wohl bei jedem Christen schwere Nachdenklichkeit und Nachfragen auslöst. Kodalle, der sich auf das zwischenmenschliche Verzeihen konzentriert, behandelt diesen Grenzfall nur im Zusammenhang mit dessen kirchlicher Instrumentalisierung zur Abwehr von Häresien. (Kodalles sehr pointierte Ausführungen zum Bußsakrament, zu Ablass oder Fegefeuer bedürften einer korrigierenden Kommentierung.)

Klaus-Michael Kodalle: Die Frage, ob es „das“ Unverzeihliche gibt und worin es besteht, ist schwierig – und auch im Buch vielleicht noch nicht gründlich genug bedacht. Denn mit Derrida bei der Paradoxie Zuflucht zu nehmen, gerade am Unverzeihlichen bewähre sich die Kraft des Verzeihens, wirkt auf kritische Fragesteller wie eine Ausflucht. In alltäglicher Rede stoßen wir auf das Unverzeihliche „das kann ich ihm/ihr nicht verzeihen“, ja: „das kann ich mir nicht verzeihen“. Und wenn das Opfer einer Tat die Verzeihung verweigert, definiert es für sich das Unverzeihliche. Man sollte freilich nicht übersehen, dass solche Festlegungen vorläufig sind. Im zeitlichen Abstand wandeln sich die Narrative und deren Gewichtung von Schuld wie von Verzeihung.

Der öffentliche Diskurs, der Taten als „unverjährbar“ definiert, scheint damit auch das Unverzeihliche unverbrüchlich zu fixieren. Der philosophische Diskurs ist zur Akzeptanz solcher lebensweltlichen oder geschichtsbezogenen Urteile nicht verpflichtet. Es braucht nur des Hinweises auf die Schwankungen des moralischen Urteilens: Menschen wie Napoleon, Stalin oder Mao, die Millionen Tote ‚auf ihrem Gewissen’ haben, werden von ihren Völkern als zivilreligiöse Heilige verehrt; Hitler als Inkarnation des Bösen bildet weltgeschichtlich eine Ausnahme. Die Grenzziehung zwischen dem Verzeihlichen und dem Unverzeihlichen unterliegt weltgeschichtlich offenbar Verschiebungen.

Die religiöse Festlegung des Unverzeihlichen – Sünde wider den Hl. Geist, die selbst Gott nicht vergibt – ist für den Gläubigen eine schreckliche Drohung (wobei unter christlichen Theologen und Konfessionen die Auffassungen auseinander gehen, was überhaupt genau unter dieser „Sünde“ zu verstehen ist); der Philosoph hingegen sieht in dieser Doktrin eine metaphysisch aufgeladene Diskursbegrenzung, die als Drohpotenzial für Freund-Feind-Erklärungen instrumentalisierbar ist.

Michael Moxter: Wenn es den ‚gnadenlosen’ Denker auszeichnet, dass er sich gegenüber Verzeihung verweigert, dann wirkt diese Abschottung umso verheerender, wenn es sich um Repräsentanten einer Glaubensgemeinschaft handelt, die noch dazu die Rede von Gnade und Vergebung beständig im Munde führt. Eben dies, so Kodalle, sei das Schicksal des Christentums: Jesus verkündete die unbedingte Verzeihung – und gekommen ist die Kirche: eine Kirche, die gegenüber „Abweichlern“ kontinuierlich mit Exkommunikationen arbeitet und mittels des Instituts der Beichte die Seelen überwacht.
Kodalles Leitfrage, ob bestimmte theologische Überzeugungen die Spielräume zwischenmenschlicher Nachsichtigkeit und Verzeihungsbereitschaft erweitern oder sie im Gegenteil durch Hervorkehrung eines Ordnungssystems ausschalten, ist von größter Wichtigkeit. Jedoch verbindet sich Kodalles Hochschätzung der Bedeutung der Lehre Jesu und seines Lebens für den Verzeihungsdiskurs mit einer Verwerfung derjenigen kirchlichen Interpretationen, die Leben und Tod Jesu als Sachgrund (und nicht nur als Erkenntnisgrund) der Versöhnung durch Gott deuten. Anselms Satisfaktionslehre gilt ihm als „metaphysische Hybridkonstruktion“ und die Vorstellung eines „blutigen Sühneopfers“ als Glaubenshindernis (285). Den Zorn des Autors kann ich nachempfinden, allerdings nur mit einer Einschränkung teilen: Man wird bei der radikalen Verabschiedung solcher traditionellen Deutungen das Problem nicht aus den Augen verlieren dürfen, das solche Entwürfe motiviert hat und das auch unter Bedingungen des modernen Rechts nichts von seiner Virulenz verloren hat.

Die Frage ist, ob das Paradigma des Verzeihens in der Lage ist, die Erinnerung an das geschehene Unrecht wachzuhalten und nicht mit dem Mantel der Verzeihungsbereitschaft zuzudecken. Neuanfänge durchs Verzeihen sind unverzichtbar und eine große Chance, aber sie sind nicht allgemeinheitsfähig, wenn und soweit es um die Rechte Dritter geht. Man kann nicht zu Lasten anderer verzeihen, vielmehr muss man zugleich Gerechtigkeit zum Zuge bringen. Das ist das Motiv, mit dem man erklären kann, warum Anselm von seinem Gott nicht nur Barmherzigkeit, sondern auch Gerechtigkeit erwartete.

Klaus-Michael Kodalle: Das Verzeihen – auch in seiner philosophischen Explikation – ist wohl nicht in der Lage, als Akt und Prozess zugleich die Erinnerung an das geschehene Unrecht „auf ewig“ wachzuhalten. Auch entspricht es wohl den Grenzen des philosophischen Diskurses, von der mit der Gestalt „Jesus“ verbundenen Erkenntniserschließung nicht zum heilsgeschichtlichen „Sachgrund“ weiterzugehen.

Michael Moxter: Wenn ‚Fremdschämen’ nicht aber ‚Fremdverzeihen’ möglich ist, dann gewinnt die Dialektik von Verzeihen und Erinnern besonderes Gewicht. Bei Kodalle tritt sie auf in der Unvereinbarkeit von Entschuldigen und Verzeihen. Solche Spannungen sind deutbar als Hinweise auf eine Ambivalenz, die im Verzeihen selbst liegt: Es ist nicht verallgemeinerbar, zudem nur in spezifischen Grenzen möglich und darum auch nicht als abstrakte Kategorie in der Lage, das Ganze der christlichen Versöhnungslehre zu umfassen.

Klaus-Michael Kodalle: In Moxters wie in Tiefensees Vorhaltungen klingt durch, dass es unabgegoltene Schuld ja schon allein deshalb gibt, weil Menschen in ihrer Schuldverfallenheit starben bzw. die Opfer starben, ehe sie sich zur schuldbefreienden Verzeihung hätten entschließen können. Die Philosophie kann diesen harten Brocken argumentativ nicht auflösen. Freilich, selbst Jürgen Habermas ließ sich einmal so vernehmen: „Gegen die Verzweiflung anzudenken, das ist letztlich nicht nur ein Motiv, sondern eine Verpflichtung, weil wir sonst in vielen Situationen nicht mehr handeln, sondern nur noch erstarren könnten.“ Das dürfte der Grund sein, warum Philosophen wie Platon, Xenophon und viele andere in das Narrativ des Mythos wechselten, um Schuldbewältigung durch Strafe und Verzeihung im Horizont der Postmortalität zu erörtern. Denn auf diesem Feld gibt es dann immer noch gute Gründe, wenngleich keine zwingenden.

Eberhard Tiefensee: Schuld, so wird durch Kodalles Ausführungen deutlich, ist wohl nicht in erster Linie eine Sache des Gesetzesverstoßes oder nur des unmoralischen Verhaltens, sondern vor allem die Beschädigung einer Beziehung („Asymmetrie“). Es entstehen Täter und Opfer, und da diese nicht auf einer Insel leben, zieht die Beschädigung sofort weitere Kreise. So kommt zum Opfer- und zum Täter-Narrativ noch ein Öffentlichkeits-Narrativ hinzu. Verzeihung stellt den Versuch dar, eine hochkomplexe Asymmetrie zu reparieren und so neue Zukunftsmöglichkeiten zu eröffnen. Da aber niemand ernstlich behaupten kann, außerhalb von Schuld zu sein, stellt sich die grundsätzliche Frage nach der Legitimation der jeweils Verzeihenden. Zumindest scheint es keine Richter oder Schiedsrichter (mehr) zu geben.

Klaus-Michael Kodalle: Die jüdische Gottesvorstellung vergegenwärtigt einen Gott, der nicht an Stelle des verletzten Menschen die Schuld vergibt. Heißt es doch, Gott vergebe nur Taten, die gegen ihn selbst gerichtet sind. Der Täter bleibt also an die Verzeihung seiner Schuld seitens des Opfers verwiesen, und dieses wiederum soll im Verzeihen nicht nachlassen (Jesus: gegebenenfalls: „70 mal 7 mal“ verzeihen). Die im christlichen Volksglauben ziemlich verbreitete Auffassung, Gott verzeihe Schuld letztlich auch an Stelle des unwilligen oder toten Opfers, ist problematisch. Womöglich ist diese Überzeugung dafür mitursächlich, dass es nach dem Holocaust gerade jüdische Philosophen waren, die sich gedrängt fühlten, die ethische Kategorie des Verzeihens in den Mittelpunkt ihrer Denkanstrengungen zu rücken: Arendt, in bestimmter Hinsicht auch Benjamin, Jankélévitch, Derrida, Levinas. Ricoeur als Christ fällt da schon fast aus dem Rahmen.

Michael Moxter: Kodalle widmet sich auch dem Verhältnis von Recht und Gnade. Ich möchte insistieren: Der Rechtsstaat ist gnadenlos, weil er sich auf Verfahren und öffentliche Regeln gründet und darum eine absolute Souveränität der Ausnahme nicht zulassen kann. Wer Recht sprechen will, darf von Gnade und Verzeihung nichts wissen wollen. Die Unmöglichkeit, sich über die Ordnung des Rechts hinwegzusetzen, schränkt den Spielraum der Gnade ein. Insofern ist der Probierstein der Verzeihung das ‚Unverzeihliche’ bzw. die Unmöglichkeit ‚für einen anderen zu verzeihen’.

Klaus-Michael Kodalle: Einerseits wandern die vom Geist der Verzeihung inspirierten Relativierungen der richtenden Gewalt sowohl in die Gesetzgebung als auch in die richterliche Urteilsbildung ein: als extensive und ständig gemäß dem Wandel der gesellschaftlichen Bewertungen modifizierte Berücksichtigung „mildernder Umstände“. Andererseits entwickelt der Rechtsstaat für die allgemein gehaltene Zuweisung von Gnade eigene Gnadenordnungen und Gnadenverwaltungsbürokratien. Nach Prinzipien des Rechtsstaates ist das noch hinnehmbar, weil Gnade hier tendenziell allgemeinen Regeln unterworfen wird – bis hin zum sog. Täter-Opfer-Ausgleich. Schwerer tun sich heute die Gelehrten mit Gnadenakten des Staatsoberhaupts im Einzelfall, die es in den meisten demokratischen Rechtsstaaten gibt. Sind solche Akte schlechthin extra-ordinär und damit rechtlich unüberprüfbar? Oder muss auch eine solche Entscheidung rechtlicher Überprüfung standhalten?

Georg Lohmann: Unsere Diskussion legt mir die Empfehlung nahe, terminologisch zu unterscheiden zwischen Verzeihung und Gnade/Vergebung. Verzeihen ist eine asymmetrische Relation zur Wiederherstellung einer zwischenmenschlichen Beziehung; sie ist wesentlich eine zwischen Gleichgestellten. Von dieser horizontalen Konzeption des Verzeihens möchte ich eine vertikale unterscheiden, die ich als „Vergeben“ bezeichne. Den Wortbedeutungen nach werden „verzeihen“ und „vergeben“ zwar weitgehend austauschbar verwendet, mein Vorschlag könnte als terminologische Festlegung aber der Klarheit im Sprachgebrauch dienen.

Vergeben (in diesem Sinne) ist ebenfalls eine asymmetrische Relation zur Wiederherstellung zwischenmenschlicher Beziehungen, aber es ist wesentlich als eine hierarchische und institutionelle Beziehung zwischen zumindest drei Personen (Täter A, Opfer B, Repräsentant C.) zu verstehen. Die vergebende Person C vertritt eine Instanz, die bestimmte Regeln und Normen institutionalisiert hat. Das zu vergebende Fehlverhalten besteht in einer Verletzung dieser Regeln durch eine Person A, die an sich diese Normen befolgen müsste, wodurch unter Umständen auch eine dritte Person B verletzt wird. Statt der normalerweise zu erwartenden institutionell vorgeschriebenen Sanktion besteht die Vergebung darin, dass auf Grund von institutionellen Interessen die sanktionierenden Folgen für A unterbleiben. Zwar bleibt der Tatbestand einer Normverletzung (wie beim Verzeihen auch) bestehen, aber es wird jener Person A ihr normwidriges Handeln nicht weiter zugerechnet. A erhält so die Chance, sich wieder in die Gemeinschaft von A, B und C zu integrieren.

In solchem institutionellen Zusammenhang kann daher eine dritte Person (C), die an sich unbetroffen ist, an Stelle eines Täters (A) um Vergebung bitten oder im Namen der Institution, deren Norm verletzt wurde, Vergebung aussprechen. Vorstellbar ist sogar der Fall, dass keine konkrete Person durch die Regelverletzung unmittelbar geschädigt, sondern nur gegen eine anerkannte Regel verstoßen wurde. In diesem Fall geht es einerseits um die Bekräftigung der Norm und andererseits um die Wiedereingliederung der Person, der ihr Fehlverhalten vergeben wird, in eine institutionelle Gemeinschaft. Zu beachten ist freilich, dass hier offen bleibt, ob das Opfer B auch dem Täter A verzeiht. Institutionelle Vergebung ersetzt nicht zwischenmenschliches Verzeihen. Mit dieser modellhaften Konzeption von Vergeben und Verzeihen kann man sowohl die christliche Rede von der „Vergebung der Sünden“ wie auch die „Begnadigung im Recht“ rekonstruieren.

Klaus-Michael Kodalle: Die Dinge komplizieren sich weiter, wenn man neben Opfer, Täter und Repräsentant des Rechtssystems auch noch die amorphe, aber häufig tonangebende Öffentliche Meinung ins Spiel bringt. Ich erinnere an Situationen, in denen ein enormer Druck auf Opfer ausgeübt wird, sich der allgemeinen Auffassung zu fügen, es sei nun Zeit zu vergeben und nicht ‚störrisch’ auf dem Ressentiment zu beharren In solchen spannungsvollen Konstellationen (z. B. nach politischen Systemwechseln), wo sich viele involviert fühlen, ist es Sache der Philosophie, mit abwägender Vernunft – auch gegen den Zeitgeist – die moralischen und rechtlichen Reichweiten der beteiligten Kräfte zu prüfen.

Georg Lohmann: Auf der Basis meines Vorschlags zur Deutung von Vergeben kann man auch verständlich machen, warum im Verhältnis von Juden und Deutschen nicht die Täter, sondern an ihrer Stelle Repräsentanten der Gemeinschaft, der einstmals Täter und Opfer angehörten, um Vergebung bitten können. Gleichwohl handelt es sich bei dieser Frage, die verharmlosend als „Wiedergutmachung“ verhandelt wird, im Wesentlichen um Fragen des Verzeihens, und das heißt auch, um letztlich zwischenmenschliche Beziehungen, in denen weder die Täter noch die Opfer durch andere vertreten werden können. Genau dies scheint übrigens das Wirken der Kommission für „Wahrheit und Versöhnung“ in Südafrika bestimmt zu haben: Sie setzte auf „Versöhnung“, im Sinne der Wiederherstellung sozialen Friedens, weniger auf Verzeihung.

DIE DISKUSSIONSTEILNEHMER:


Wolfram Hogrebe, Klaus-Michael Kodalle, Werner Stegmaier und Georg Lohmann sind emeritierte Professoren der Philosophie an den Universitäten Bonn, Jena und Magdeburg; Michael Moxter ist Professor für Systematische Theologie im Fachbereich Evangelische Theologie an der Universität Hamburg, und Eberhard Tiefensee ist Professor für Philosophie an der kath.-theol. Fakultät der Universität Erfurt.