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04 2014

Vittorio Hösle:
Der Wert des eigenen Glücks. Über Selbstliebe und Anforderungen an sich selbst

aus Heft 4/2014, S. 8-20

Kants Widerlegung der These, Ethik lasse sich auf das Streben nach dem eigenen Glück reduzieren

Warum hat Kant mit einer Jahrtausende alten Tradition gebrochen, die das Wesen der Moral darin sah, nach dem eigenen Glück zu streben, und den Sinn der Ethik darin, dieses Glücksstreben richtig zu lenken? Ein Argument ist denkbar einfach: Es kann sein, dass jemand nur dadurch glücklich werden kann, dass er andere Menschen quält. In diesem Fall, so kann man auf Kantischer, aber nicht ohne weiteres auf eudämonistischer Grundlage sagen, muss er eben auf sein Glück verzichten; und der Ethiker handelt unmoralisch, der ihm Tipps gibt, wie er sein Glück maximieren kann.

Der Eudämonist wird erstens entgegnen, das Glück dieses Sadisten sei kein wahres Glück. Auch wenn interpersonale Glücksvergleiche notorisch schwierig sind, bin auch ich davon überzeugt, dass das Glück des sadistischen Menschen sich anders anfühlt als das Glück des tätigen Altruisten, der sich am Glück anderer mitfreuen kann. Jeder, der beide Formen des Glückes kennt, wird die zweite vorziehen. Aber vielen Menschen, unter anderem unserem Sadisten, ist das Glück des Altruisten durch ihre psychische Konstitution versagt. Jedenfalls scheint mir das eine plausible empirische Annahme.

Jeder vernünftige Erzieher hat darauf hinzuwirken, dass das ihm anvertraute Kind Präferenzen entwickelt, die dem, was moralisch statthaft oder sogar geboten ist, weitgehend entsprechen, und indem er das tut, trägt er mit großer Wahrscheinlichkeit auch dazu bei, das Kind glücklicher zu machen. Aber es kann sein, dass alle Erziehungsbemühungen an einer renitenten Bösartigkeit scheitern; und gewiss scheitert die eudämonistische Konvergenzhoffnung bei den Sadisten, bei denen sich das Entwicklungsfenster für immer geschlossen hat, deren Präferenzen also nicht mehr geändert werden können.

Zweitens wurde gegen Kants Antieudämonismus eingewendet, der Bösewicht werde doch meistens bestraft, erleide also Unglück nach seinen eigenen Kriterien. Doch die bloße Möglichkeit, dass er unbestraft davonkommt, reicht aus, um die Identifikation des Moralischen mit dem Streben nach dem eigenen Glück zu Fall zu bringen. Und ich fürchte, es würde leicht fallen, Schwerverbrecher, zumal politische Tyrannen, zu finden, die nie zur Rechenschaft gezogen wurden. Ja, selbst wo dies der Fall war, mag es wohl sein, dass der Tyrann die Hinrichtung am Ende einer langen und erfolgreichen Laufbahn des Quälens seiner Mitmenschen keineswegs als zu hohen Preis für das Kühlen seines Mutes ansah und seinen Weg, auch im Wissen um sein Ende, nochmals beschritte. Aber leidet nicht der unentdeckte Verbrecher wenigstens Gewissensqualen? Auch diese Annahme scheint mir reichlich optimistisch. Doch selbst wenn sie zuträfe, hat Kant zu Recht gegen Christian Garve eingewendet: “Wollte man dagegen sagen: dass durch die Abweichung von der letzteren [sc. der Tugend] der Mensch sich doch wenigstens Vorwürfe und reinen moralischen Selbsttadel, mithin Unzufriedenheit zuziehen, folglich sich unglücklich machen könne, so mag das allenfalls eingeräumt werden. Aber dieser reinen moralischen Unzufriedenheit (nicht aus den für ihn nachtheiligen Folgen der Handlung, sondern aus ihrer Gesetzwidrigkeit selbst) ist nur der Tugendhafte, oder der auf dem Wege ist es zu werden, fähig. Folglich ist sie nicht die Ursache, sondern nur die Wirkung davon, dass er tugendhaft ist.” (Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis A 220)

Drittens kann man lesen, Aristoteles, der den Eudämonismus zwar nicht geschaffen, aber ihn doch wie keiner vor ihm ausführlich und unter Ausschluss alternativer Begründungsideen, wie man sie bei Platon noch findet, entwickelt hat, habe nie eine naturalistische Definition des Guten gegeben. Er definiere die Tugend keineswegs als das Mittel, das einen glücklich mache, sondern umgekehrt sei die Eudaimonia die Lust, die man an den eigenen tugendhaften Handlungen empfinde. (Nikomachische Ethik 1099a17 ff.) Ja, in seiner berühmten Verteidigung der Selbstliebe lehre er ausdrücklich, nur der ethisch hochstehende Mensch solle sich selbst lieben (a. a. O. 1169a11 ff.)

Man kann gerne zugeben, dass Kants Kritik nur dort Sinn gibt, wo der Begriff des Glücks von normativen Konnotationen befreit worden und zum Gegenstand der empirischen Psychologie geworden ist, also in der Neuzeit. Aber das macht Aristoteles’ Theorie noch nicht akzeptabel. Denn welcher Habitus tugendhaft ist und daher Glück hervorrufen kann, kann nach ihm letztlich nur durch die Berufung auf den in praktischen Dingen Vernünftigen ausgemacht werden. Aristoteles leistet wesentlich mehr bei der Beantwortung der Frage, wie man zu ethischem Verhalten erziehen kann – seine einseitige, aber zu gutem Teil richtige Antwort lautet bekanntlich: durch Habituierung – als bei der Klärung dessen, was moralisch ist.
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