PhilosophiePhilosophie

02 2015

Ludwig Siep:
Über den Sinn der Beschäftigung mit der deutschen Philosophie heute

aus: Heft 2/2015, S. 8-23


Deutsche Philosophie als Stil

Gibt es deutsche Philosophie? Sollte es sie geben? Zumindest zwei weltweit unter die Klassiker gezählte Philosophen, Fichte und Heidegger, haben eine genuin deutsche Philosophie für möglich gehalten und gefordert. Für beide war sie zur Bewahrung der von den Griechen gegründeten Philosophie nötig, ja sogar zur Rettung der Menschheit. Dafür haben sie fundamentale sprach- und geschichtsphilosophische Begründungen gegeben. Sie überzeugen aber aus der Sicht der gegenwärtigen Sprachphilosophie und Geschichtswissenschaft nicht mehr. Aussagen über Wesenseigenschaften von Nationen und Kulturen haben sich allenthalben als Mythen mit Integrations- und Rechtfertigungsfunktion erwiesen. Gemeinsame Traditionen, Erfahrungen und spezifische „kulturelle Gedächtnisse“ müssen darum keine bloße Manipulation sein.

Deutsche Philosophie war nicht nur ein Konstrukt des Sendungsbewusstseins. Seit dem Ersten Weltkrieg gibt es eine Reihe kritischer Versuche, die Ursachen für den aggressiven Nationalismus und später Faschismus der Deutschen bei ihren großen Philosophen zu suchen. Für John Dewey zählten dazu der Dualismus und der Rigorismus Kants, für Karl Popper die Absolutheitsansprüche der Systeme Fichtes und Hegels, für Georg Lukacs Schelling, die Romantik und der sog. Irrationalismus Nietzsches. Auch für Cassirer oder Plessner gehörte die nachkantische deutsche Philosophie zu den wesentlichen Ursachen des deutschen Irrweges weg von den Gemeinsamkeiten des Völkerrechts und der Menschenrechte. Das ist gewiss kein bloßer Mythos, sondern trifft Bedenkenswertes. Aber die behaupteten geistesgeschichtlichen Wirkungsketten halten einer genaueren Prüfung zumeist nicht stand. Dem Vernunftrecht von Leibniz bis Hegel steht der pseudoreligiöse Nationalismus von 1914, ohnehin der Rechtsnihilismus der Naziideologie diametral entgegen. Und das Amalgam abstruser Ideen in „Hitlers Wien“ (Brigitte Hamann) war für die völkische Weltanschauung einflussreicher als selbst ein entstellter Nietzsche.

Das heißt nicht, dass diese philosophische Tradition ganz unschuldig wäre an Fehlentwicklungen der politischen Kultur in Deutschland. Es gibt keine starke Tradition der individuellen Abwehrrechte gegen den Staat, der Tyranniskritik oder der parlamentarischen Demokratie im deutschen philosophischen Denken vor der Mitte des 20. Jahrhunderts. Man kann nicht einmal sagen, dass die Ansätze zu Grundrechten und Demokratie in den Verfassungen von 1848 bis 1919 von den heute international berühmten deutschen Philosophen dieser Zeit unterstützt, d. h. prinzipiell gerechtfertigt worden wären.

Die bewundernswerten Bemühungen um die Erschließung und Fortentwicklung dieser Philosophie bei Forschern und Studierenden in aller Welt habe ich als im Zweiten Weltkrieg geboren nicht ganz ohne Beklommenheit wahrgenommen. Eine Entlastung waren für mich immer die Worte, die vor ziemlich genau 50 Jahren ein deutsch-jüdischer Philosoph und Rückkehrer aus der Emigration, Werner Marx, bei seiner Freiburger Antrittsvorlesung gesprochen hat:

„Als in Deutschland, vor noch gar nicht langer Zeit, die Barbarei herrschte und viele Deutschgebürtige in der Emigration und hier an ihrer Herkunft verzweifelten, da war es ein Trost und Grund für Stärke und Hoffnung, dass es jene Werke gab [gemeint sind vor allem die Kants, Fichtes und Hegels], in denen Deutsche für alle Menschen die höchste Sittlichkeit erstrebten.“

Ob Trost oder Irrweg – es wäre offenbar zu einfach, durch Bestreitung einer deutschen Philosophie die Last der Tradition loszuwerden. Trotzdem werde ich im Folgenden mögliche Abgrenzungskriterien wie Sprache, Wirkungsgeschichte, wechselseitige Beeinflussung mit anderen Bereichen der Kultur oder Politik nicht weiter erörtern. Ich lasse mir vielmehr den Gegenstandsbereich von aussen vorgeben: Überall in der Welt wird Deutsche Philosophie studiert, zumal seit sich auch die angelsächsisch-analytische Philosophie wieder der Geschichte zugewandt hat. Es gibt Leibniz-, Kant-, Fichte-, Nietzsche- und Heidegger-Gesellschaften in vielen Ländern. Vielleicht ist das Faszinierende dieser Philosophie einfach ein Korpus großartiger Texte, der erwähnten Autoren und anderer – bis in die Gegenwart, man denke an Wittgenstein, Adorno, Gadamer, Blumenberg, Henrich oder Habermas. Im Unterschied zu vergleichbaren deutschen Kulturprodukten wie Musik oder Literatur kann man aber von einer Art einheitlichem Stil dieses Philosophierens sprechen.

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