PhilosophiePhilosophie

02 2016

Nida-Rümelin, Julian: Die Macht der Reflexion

aus: Heft 2/2016, S. 8-19

 

Entscheidung und Handlung

Welche Rolle spielt unsere Reflexion, unser Überlegen? Spielt sie überhaupt irgendeine Rolle? Da wird man antworten: wie könnte es anders sein? Das Irritierende ist nun, dass dies massiv bestritten wird. Zunächst geschieht dies in einer eher oberflächlichen Form, die es in die Feuilletons hineingeschafft hat und die sich dort nach wie vor hält. Philosophierende Neurowissenschaftler, etwa Wolf Singer, behaupten, sie hätten, gestützt auf das Libet-Experiment (und die Stu­dien und die Interpretationen dazu), empirische Belege, dass Entscheidungen, Deliberationen und Gründe immer nur ex-post sind. Doch die empirischen Belege gibt es nicht. Vielmehr sind diese Neurowissenschaftler Begriffsverwirrungen zum Opfer gefallen, und es ist die Aufgabe der Philosophie, hier begriffliche Klarheit zu schaffen. Was ich jedoch für bedenklich halte: diese „neurophilosophische“ Position hat sich zu einer Art Weltanschauung verfestigt hat. Und auffällig ist, dass die Gegenwehr aus der Philosophie meist eher zaghaft ausfällt. 

Eine weit grundlegendere, innerphilosophische Sichtweise auf diese Thematik geht von der Frage aus: Was sind Deliberationen? Die Antwort lautet: Das sind irgendwelche mentalen Vorgänge. Zugleich wird von der physikalischen Geschlossenheit der Welt ausgegangen. Mich erstaunt dabei, dass manche Naturwissenschaftler und manche Philosophen in diesem Zusammenhang auf den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik verweisen und behaupten, damit sei die kausale Geschlossenheit der Welt bewiesen. Denn meines Erachtens ist das Physische (etwa die Kausalität in der Physik) genauso ungeklärt wie das Mentale. Es ist nicht nur die philosophische Seite, die Sorgen bereitet, sondern auch die naturwissenschaftliche. Das Verhältnis dieser beiden Bereiche ist überaus komplex und schwierig zu durchschauen, und ich habe dazu keine Lösung. Aber hier geht es mir um die Rolle der Gründe. 

Wenn wir handeln, muss der Handlung immer irgendetwas vorausgegangen sein – man könnte es rudimentäre Deliberation nennen. Fehlt eine solche Deliberation, handelt es sich um bloßes Verhalten. Ich meine damit nicht, dass wir den ganzen Tag über nachdenken, „was soll ich tun?“ und dann die verschiedenen Möglichkeiten durchrechnen (und wenn wir unglücklicherweise Entscheidungstheorie gelernt haben, den Nutzenerwartungswert der verschiedenen Optionen bestimmen und dann die Option mit dem höchsten Nutzenerwartungswert wählen). Vielmehr meine ich, dass wir in der Lage sind, unser Verhalten zu steuern, und dass diese Steuerung bestimmte, sich durchhaltende Charakteristika hat. Wenn eine Person sich in einer bestimmten Weise verhalten hat und wir nennen dies zu Recht eine Handlung, dann kann die Person sagen, warum sie sich so verhalten hat. Das ist keine Kausalanalyse, sondern zunächst einmal prima vista – Davidson im Hintergrund – einfach die Angabe der Gründe, die diese Person hatte, um dieses und nicht jenes zu tun. Wenn sie keine Gründe angeben kann, dann ist es keine Handlung. 

Jeder Handlung geht eine Entscheidung voraus. Zwischen Entscheidung und Handlung kann eine große zeitliche Distanz liegen oder eine sehr geringe. Neurophysiologen können den kleinsten zeitlichen Abstand bestimmen, er soll in der Größenordnung 0,1 Sekunden liegen. In der Regel ist er um ein Vielfaches höher. Im Hochleistungssport kann man das ziemlich weit nach unten treiben, aber die untere Grenze liegt dort immer noch deutlich über 0,1 Sekunden. Zwischen Entscheidung und Handlung muss ein gewisser Hiatus sein, das können aber auch Jahre sein. Sie können sich zusammen mit ihrem Partner entscheiden, im nächsten Jahr zu heiraten. Und wenn Sie sich dann im Laufe der nächsten Monate eines anderen besinnen und zu dem Ergebnis kommen, dass Sie nicht heiraten werden – vielleicht waren Sie länger zusammen im Urlaub und das hätten Sie besser nicht getan – dann kann man interessanterweise nicht mehr sagen, dass Sie sich im Oktober entschieden hatten, zu heiraten. Sie können dann nur noch sagen, Sie hätten gedacht, Sie hätten sich entschieden und haben jetzt festgestellt, Sie haben sich ja gar nicht entschieden. Ein merkwürdiges Phänomen.

Worauf ich hinaus will: Ob etwas eine Entscheidung ist, zeigt sich ex post. Eine Entscheidung bringt eine, wie auch immer rudimentäre, Deliberation zum Abschluss. Sie legt etwas fest. Und wenn das de facto nicht festliegt, dann war es keine Entscheidung.

 

 

Die Idee der strukturellen Rationalität

Es handelt sich hier um einen Typ von Intentionalität. Man könnte sagen, es sind nicht die Gründe, sondern die Intentionen, die durch die Handlung realisiert werden. Die Gründe sind vielleicht darauf gerichtet, welche Folgen die Handlung hat. Nicht nur die Folgen einer Handlung sind relevant für deren Rationalität (das ist meine Kritik des Konsequentialismus), aber in vielen Fällen sind die Folgen sehr wichtig und in manchen Fällen vielleicht sogar allein ausschlaggebend. Wenn ich Sie frage, warum Sie so gehandelt haben, begründen Sie Ihre Entscheidung damit, dass Sie erwartet haben, dass diese Handlung dann die gewünschten Folgen haben wird. Das heißt: Wir haben so etwas wie motivierende Absichten, motivierende Intentionen. Diese werden nicht durch die Handlung selbst erfüllt, sondern nur durch ihre Folgen, während die Entscheidung durch die Handlung selbst erfüllt wird. Hier kommt eine dritte Intentionalität hinzu. Es muss einen geeigneten Zusammenhang geben zwischen der Entscheidung, die ja nie eine Entscheidung für ein Handlungstoken sondern immer nur für einen Handlungstype ist, und dem Verhalten, das dann diese Intention, die wir jetzt als Entscheidung charakterisiert haben, erfüllt. Zum Beispiel muss das, was da passiert, irgendwie selbst wieder so von mir kontrolliert sein, dass es zu dem Handlungstyp passt, den ich realisieren wollte. 

Woher kommt jetzt diese Idee der strukturellen Rationalität? Da gibt es mehrere Quellen, aber eine Quelle ist die folgende: Wenn ich mich nicht routiniert verhalte, sondern noch nicht so recht geübt bin in einer bestimmten Praxis, dann handle ich häufiger in kürzeren zeitlichen Abständen. Nehmen wir die Fahranfängerin, die rechts abbiegen soll. Was macht die alles? „Muss ich jetzt erst in den Spiegel schauen oder erst den Blinker betätigen oder erst auf die Bremse treten?“ usw., also eine ganze Kaskade von Einzelentscheidungen, die da getroffen werden, damit am Ende die Absicht, nämlich rechts abzubiegen, erfüllt werden kann. Man kann sagen, je routinierter, je geübter, je erfahrener eine Person ist, desto größer werden die Handlungen. Oder die Interventionen werden struktureller. Das andere ergibt sich dann, das ist dann Routine, die automatische Folge einer bestimmten Entscheidung. Auch nach schweren Unfällen das Verhalten wieder zu lernen ist unglaublich anstrengend und erfordert dauernd kontrollierende Interventionen. Man kann sich das so vorstellen: Routinierte Praxis bedarf weniger Interventionen; die intentionale Steuerung wird gewissermaßen zurückgefahren und auf größere Einheiten oder größere Komplexe bezogen, aber an der Verantwortung für das, was ich tue, ändert das nichts. Man kann nicht sagen, dass die Fahranfängerin verantwortlicher ist für das, was sie tut, weil sie 127 Einzelentscheidungen getroffen hat, bis sie rechts abgebogen ist. Die Verantwortung gilt für das Rechtsabbiegen, in beiden Fällen. Im Gegenteil, die Fahranfängerin hat sogar Entschuldigungsgründe, wenn das nicht so recht gelingt. 

Der heutige Mainstream der Rationalitätstheorie, jedenfalls in der analytischen Philosophie, besagt, dass wir eine elegante, mathematisch präzise und universell anwendbare Theorie haben, rational choice genannt, mit ihren verschiedenen Zweigen Spieltheorie, kooperative Spiele, nicht-kooperative Spiele, collective choice, und dass diese, hauptsächlich in der Ökonomie und in den Sozialwissenschaften angewandte Theorie sich philosophisch so fassen lässt – das ist dann der Bayesianismus – dass er mit überaus sparsamer Begrifflichkeit auskommt, nämlich mit zwei Typen propositionaler Einstellungen – die eine, die man durch subjektive Wahrscheinlichkeiten oder Wahrscheinlichkeitsfunktionen repräsentieren kann, und die andere, die man durch eine ebenfalls reellwertige, quantitative Bewertungsfunk­tion, die sogenannte Nutzenfunktion, repräsentieren kann. 

Es lässt sich zeigen, dass die Zuschreibbarkeit dieser beiden Funktionen oder die Re­präsentation des Verhaltens durch die Optimierung oder Maximierung des Erwartungsnutzens sich schon dann zwingend ergibt, wenn man sehr elementare Kohärenzpostulate für die Präferenzen einer Person fordert. Das ist der Grund, warum es viele Bayesianer auch in der Philosophie gibt. Das stammt ursprünglich von Frank P. Ramsey, war aber in Vergessenheit geraten und wurde 1944 von von Neumann und Morgenstern in Theory Of Games And Economic Behavior neu entdeckt und neu bewiesen. Träfe das zu, hätten wir eine elegante Theorie, deren Standardinterpretation besagt: Rational ist es, genau das zu tun, nämlich dieses Paar (das über den Erwartungsnutzen miteinander verkoppelt ist) von reellwertigen Funktionen zu optimieren. 

Diese beiden berühmten Postulate von von Neumann und Morgenstern beinhalten eine Mindestbedingung von Kohärenz. Kohärenz ist in der Tat die Grundlage, aber der Kantianer ist auch kohärent und der Rossianer, der nach einer Vielzahl von prima facie-Pflich­ten handelt, und auch der Regelutilitarist wie der Tugendethiker, die sollten alle kohärent sein können. Warum sollen diese idealtypischen moralischen Akteure nicht transitive Präferenzen haben? Oder monotone und stetige? Es gibt kein einziges vernünftiges Argument dagegen. Aber diese moralischen Akteure handeln nicht, um den Erwartungsnutzen zu maximieren, sondern sie haben  eine Vielfalt von Gründen, warum sie etwas tun. Es ist die Problematik der modernen Ethik, dass die Vielfalt von Gründen in den zwei Haupttypen, nämlich im Utilitarismus und im Kantianismus, so stark reduziert wird. Und wenn diese Abwägung der Gründe halbwegs plausibel ist, dann sollte am Ende das Ergebnis eine kohärente Praxis sein oder zu einer kohärenten Praxis führen. 

Die Idee der strukturellen Rationalität ist: Wir wägen Gründe ab, wir strukturieren unser Verhalten über Entscheidungen. Diese Entscheidungen haben Motive, diese Motive werden dargestellt in Gestalt akzeptierter und abgewogener Gründe, die ja auch oft konfligieren, prima facie nicht vereinbar sind und die man dann abwägen muss. Und das Ergebnis sollte in mehrerlei Hinsicht kohärent sein, auch in dieser eher formalen Hinsicht: Die Präferenzen sollten am Ende transitiv, vollständig, monoton und stetig sein. Die   eigentliche, interessante Aufgabe einer kohärenten Praxis aber ist die ihrerseits kohärente Anleitung dieser Praxis, und diese entscheidet sich an der Art wie wir die (praktischen) Gründe abwägen. Prämisse ist, dass wir in der Lage sind, Gründe überhaupt abzuwägen und dass wir Optionen haben, dass wir uns so verhalten können oder auch anders, dass das von Harry Frankfurt und seinen Nachfolgern kritisierte Principle of Alternative Possibilities (PAP) gilt. 

Nun gibt es aber auch in der zeitgenössischen Philosophie, speziell der des analytischen Typs, eine weit verbreitete Auffassung, wonach zwar zugestanden wird, dass dies alles banale und kaum bezweifelbare Feststellungen seien, dass es aber eine Argumentation gebe, die zeige, dass das alles falsch sei, also auf einer Illusion beruhen müsse, schon allein deswegen, weil PAP nicht gelte, weil es in Wirklichkeit keine Alternativen gibt. Die Welt ist physikalisch ge schlossen, sie wird von Ketten von Verursachungen, von determinierten Ereignisketten zusammengehalten, das sei der Cement of the Universe.Das heißt, es gibt keine Wahl, es liegt immer schon alles fest. Und dass uns das so erscheint, als würden wir dann am Ende wählen, ändert daran nichts, dass sich diese Konsequenz zwingend aus dem wissenschaftlichen Weltbild, wie es von der zeitgenössischen Physik präsentiert wird, ergibt. 

Diese Vorstellung, die These ‚Deliberation spielt keine Rolle‘, ist so radikal, dass sie mit der von uns allen praktizierten Lebensform und der von uns allen praktizierten Zuschreibung von Verantwortung nicht vereinbar ist. Hier handelt es sich nicht um ein Spiel im philosophischen Oberseminar, die Sache ist vielmehr todernst. Denn wenn die Proponenten dieser Position Recht hätten, dass Deliberation keine Rolle spielt, dann wären wir alle in einem großen Illusionstheater. Manche sagen, das sei vielleicht eine nützliche Illusion – aber eben sicher eine Illusion. Dann würden wir uns einbilden, es gebe Gründe und es gebe Verantwortlichkeit. Das wäre dann alles nicht aufrecht zu erhalten, da haben die Naturalisten Recht. Oder man kann es auch so formulieren: Unsere Lebensform selbst beruhte dann auf Annahmen, die naturwissenschaftlich widerlegt sind, und damit können wir vielleicht so weiterleben, aber wir müssen wissen, dass das, was wir da tun, alles zutiefst irrational ist. Das erinnert an die error theory von Mackie, die besagt, wir sind als Philosophen im Bereich der Moral Subjektivisten, aber als normal handelnde Menschen sind wir Objektivisten. Die Moral und ihre Sprache sind nun mal so, dass sie das nahelegen, und dann müssen wir irgendwie damit leben. Aber befriedigend ist das, scheint mir, nicht. Sich in dieser Weise zufrieden zu geben, einen Objektivismus erster Ordnung und einen Subjektivismus zweiter Ordnung zu vertreten, ethische Forderungen zu begründen und sie meta-ethisch als Illu­sion zu bezeichnen ist streng genommen ein bloßer Taschenspielertrick. Der Unterschied zwischen Mackie und Russell im Zeitabstand von einem halben Jahrhundert ist, dass letzterer unter dieser Spannung existenziell gelitten hat, ersterer offenbar nicht mehr. 

Ich bin davon überzeugt, dass Gründe relevant sind. Sie sind es, weil wir auf der Grundlage der Abwägung von Gründen am Ende entscheiden. Wenn immer schon vor der Abwägung aller Gründe festläge, wie wir entscheiden, dann wären wir nicht verantwortlich, dann wären wir nicht frei. Also nehmen wir an, unser Verhalten liegt nicht immer schon vorher fest. Diejenigen, die sagen, das muss aber immer schon vorher festliegen, sind mit einigen sehr merkwürdigen Konsequenzen konfrontiert. Zum Beispiel müsste dann eine Person, die diese kausalen Prozesse kennt, vorhersagen können, was jeder tut. Aber noch schöner, da ja zu den Deliberationen nicht nur das Abwägen von Gründen bezüglich Handlungen und Entscheidungen, sondern auch das Abwägen von Gründen bezüglich Überzeugungen und Theorien und wissenschaftlichen Theorien gehört, müsste es möglich sein, aus der jeweiligen vollständigen Beschreibung eines Weltzustandes auch alle zukünftigen vertretenen Theorien vorherzusagen – ein Argument, das Karl Popper entwickelt hat. 

Die Objektivität der Gründe 

Was macht also die kausale Relevanz, was macht die Macht der Reflexion aus? Diese Abwägungen sind in einem bestimmten Sinne objektiv bzw. beziehen sich auf objektive Gründe. Gründe sind im strengen Sinne nichts Subjektives. Was machen wir, wenn wir versuchen, herauszubekommen, ob eine bestimmte Überzeugung, eine Theorie, ein Theorem, zutrifft? In der Mathematik entwickelt man Beweise oder macht Beweisversuche, und zwölf scheitern, der dreizehnte gelingt vielleicht. Wenn der Beweisversuch gelungen ist, mache ich mir die Überzeugung zu eigen, dass dieses Theorem wahr ist. Da brauche ich keinen zusätzlichen Antrieb mehr, sondern es genügt, dass ich einen Beweis habe. Es gibt pathologische Fälle (nen-nen wir das so): Ich habe den Beweis, bin überzeugt, dass der Beweis zutrifft, aber ich kann mich einfach nicht dazu bringen, mir diese Überzeugung zu eigen zu machen. So was gibt es, weil diese Überzeugung vielleicht allzu viele andere Überzeugungen oder gewohnte Praktiken infrage stellen würde, aber das ist nicht der Normalfall. Ich sehe überhaupt keinen Anlass, das für den Bereich der praktischen Gründe und der menschlichen Praxis grundlegend anders zu beschreiben. Ich wäge Gründe ab, und wenn ich zu dem Ergebnis komme, das ist die beste Entscheidung, dann treffe ich diese Entscheidung und tue das, was diese Entscheidung realisiert, was diese Intention erfüllt. Wie sonst? An der Stelle gibt es keine Differenz zwischen theoretischen und praktischen Gründen. Da kann man die gesamte Abwägungspraxis im Bereich der Handlungen und Entscheidungen übersetzen in „was ist das Richtige für mich zu tun?“. Alles Subjektive, das eingeht, ist ein Bestimmungselement des jeweiligen praktischen Grundes, also zum Beispiel eigene Interessen. Es gibt einen In­teressenkonflikt, und ich muss abwägen: Komme ich den Interessen einer anderen Person nach oder meinen eigenen? Vielleicht sind die eigenen Interessen von vernachlässigbarer Bedeutung und die Interessen der anderen Person von viel größerer. Dann sind zwei Elemente im Spiel, nämlich die eigenen Interessen und die Interessen der anderen Person, aber das macht die Abwägung des Grundes nicht zu einer subjektiven Angelegenheit. Ich versuche herauszubekommen, welcher Grund überwiegt. 

Die Affektion durch Gründe, das sich-zu-eigen-Machen von Gründen und damit die Wirksamkeit von Gründen in der Welt, ist eigentlich eine Wirksamkeit des Akzeptierens, des sich-zu-eigen-Machens von Gründen. Gründe werden zu Elementen des mentalen Systems dadurch, dass ich sie mir zu eigen mache und dass sie mir bewusst sind. Aber ob es einen guten Beweis für ein bestimmtes Theorem gibt, entscheidet sich nicht an subjektiven Zuständen. So wie man nicht mehr hinter die Psychologismus-Kritik von Frege zurückfallen sollte, so sollte man für diesen immerhin sehr bedeutenden Bereich des Abwägens, nämlich des Abwägens von Gründen für Handlungen, nicht auf einmal – das ist der Irrtum der Humeaner – zum Psychologisten werden. Und das kann man nicht dadurch verdecken, indem man, wie Harry Frankfurt (einer der intelligentesten Humeaner der Gegenwart), Volitionen zweiter Stufe entwickelt, die darauf gerichtet sind, die handlungsleitenden Wünsche kohärenter zu machen. 

Die Frage ist hier: Warum bilde ich denn den Wunsch aus, andere handlungsleitende Wünsche zu haben, als ich aktuell habe? Weil ich Grund habe, das nicht zu tun, was ich mir aktuell oder regelmäßig (z. B. als Drogenabhängiger, der sich der gesundheitsschädlichen Auswirkungen seines Drogenkonsums bewusst ist) wünsche. Deswegen entwickle ich den Wunsch, dass ich andere Wünsche hätte, die mein Handeln leiten. Weil ich dafür einen Grund habe. Bei Frankfurt heißt es dagegen: „The essence of being a person lies not in reason, but in will.“ Nein, diese „desires“ höherer Ordnung sind nur plausibel zu machen, wenn Gründe im Spiel sind. Der Drogenabhängige, von dem Frankfurt erzählt, kommt vielleicht zu dem Ergebnis, dass er ohne Drogen besser leben würde, und deswegen wünscht er sich, andere Wünsche zu haben. Das mag sein, aber so kann man den Humeanismus nicht retten. Gründe sind etwas Objektives. Wir machen uns Gründe zu eigen, damit werden sie Teil unserer mentalen Vorgänge, und wie das dann genau mit der neurophysiologischen Realisierung mentaler Zustände zusammenhängt – das dürfte unglaublich kompliziert sein, und wir können nur vermuten, dass das in einer analysierbaren Weise neurophysiologisch realisiert wird. Die Versuche, das sogenannte binding pro­blem zu lösen, gehen in diese Richtung. Aber das ändert nichts daran, dass Gründe etwas Objektives sind. 

Gründe sind zweitens etwas Normatives, und zwar theoretische wie praktische Gründe. Theoretische Gründe sprechen für Überzeugungen. Wenn ich mir gute Gründe zu eigen mache, dann sollte ich diese Überzeugung haben. Gründe sprechen für, Gründe sind normativ. Das Normative ist nicht Gegenstand der Naturwissenschaft. Wir wissen seit den meta-mathematischen Resultaten der 1930er Jahre, dass zum Beispiel Beweise von Theoremen der Prädikatenlogik erster Stufe nicht von einer Turing-Maschine produziert werden könnten. Wenn unsere Deliberation selbst in so einem elementaren Fall wie dem der Prädikatenlogik erster Stufe schon nicht mehr algorithmisch ist, dann ist a fortiori unsere komplexe lebensweltliche Praxis des Abwägens von praktischen und theoretischen Gründen nicht algorithmischer Art. Diese drei Eigenschaften von Gründen sprechen gegen die Naturalisierbarkeit von Gründen, wenn man unter einem kausalen Prozess etwas versteht, und das ist die übliche Interpretation, das auf Grund von Antezedens-Bedingungen plus gesetzmäßigen Prämissen eindeutig einen Nachfolgezustand oder ein bestimmtes Ereignis (sufficient natural causes) festlegt. 

Es gibt natürlich viele Unterschiede zwischen theoretischen und praktischen Gründen, aber dass Gründe generell objektiv, normativ und nicht algorithmisch sind, die Art und Weise, wie Gründe wirken, das noch nicht Festgelegte dann am Ende festlegen, sich eine Überzeugung zu eigen machen, eine Entscheidung zu treffen, das scheint mir doch sehr plausibel zu sein. Alle Traditionen, die einen scharfen Schnitt machen zwischen theoretischen und praktischen Gründen, die sagen, das sei etwas völlig anderes, eine ganz andere Logik, gehen in die Irre. Das liegt zu weit ab von unserer geteilten lebensweltlichen Praxis des Gründe-Gebens und Gründe-Nehmens. So reden wir nicht, so argumentieren wir nicht. 

Wir sollten eine epistemische Perspektive einnehmen: Wir wollen herausfinden, unter welchen Bedingungen eine bestimmte Überzeugung oder eine bestimmte Entscheidung rational ist. Wir stellen nicht alles simultan zur Disposition, sondern wir sind uns in vielen Fällen völlig klar darüber, was wir glauben sollten und was nicht. Da brauchen wir nicht noch eine naturwissenschaftliche oder philosophische Theorie dazu. Wir haben aber Unsicherheitsfälle und Inkohärenzen in unserem epistemischen System und unserer lebensweltlichen Praxis. Zu diesem Zweck braucht man manchmal gedankliche, begriffliche Klarheit, und dazu kann die Philosophie beitragen. Aber die Hauptaufgabe kann nicht die Philosophie schultern. Philosophie kann nicht die Rolle des Priesterstandes früherer Jahrhunderte übernehmen, der alle Fragen dann spätestens im Beichtstuhl löst. 

Philosophische und politische Rationalität 

Wenn wir uns die Paradigmen zum Verhältnis von philosophischer und politischer Rationalität vor Augen führen, fällt auf, wie weit diese divergieren. Zum einen das platonische Paradigma, wonach es die philosophische Erkenntnisform ist, die die politische Praxis anleiten soll. Auch das Gegenmodell findet sich in der Antike, bei Aristoteles, für den nicht der Wissenschaftler die Grundlagen für die richtige politische Praxis legt, sondern die erfahrungsgesättigte Lebensklugheit, um Ottfried Höffes Übersetzungsvorschlag von phronesis zu nehmen. 

Für Thomas Hobbes sind es die leges natura­les, die natürlichen Gesetze, die, wenn sie denn eingehalten würden, den Frieden und den zivilen Zustand sicherten und die von jeder rationalen Person eingesehen werden können. Deswegen schreibt er auch zum er­sten Mal für die damalige Zeit sein Hauptwerk auf Englisch, damit es auch wirklich jeder lesen kann. Allerdings ist der Grund, den man hat, diesen leges naturales zu folgen, ohne staatliche Zentralgewalt völlig sinnlos. Denn diejenigen, die sich an diese Regeln halten, geraten in Nachteil gegenüber denen, die es nicht tun, und das ist damit unzumutbar. Also braucht man den Leviathan. Der Leviathan greift ein, er erlässt Gesetze, die diesen leges naturales hinreichend entsprechen müssen, sonst ist das ganze Modell nicht tragfähig. Die Gesellschaft – und das ist typisch modern – kann nun ohne Politik leben. Es finden keine Gerechtigkeitsdiskurse mehr statt, nur noch Seelenheil ist angesagt- das ist der Hobbes’sche Befriedungsversuch für Europa nach dem Dreißigjährigen Krieg. 

Das vierte Paradigma ist dasjenige Rousseaus, das wiederum das Verhältnis philosophischer und politischer Rationalität betrifft. Die ursprüngliche Freiheit wird wieder hergestellt durch die sittliche Körperschaft der Republik, die Versammlung, in der es nicht möglich ist, die eigenen Interessen geltend zu machen, sondern ausschließlich Gemeinwohl- oder volonté générale-orientierte Gründe vorzutragen. Das Vertrauen auf gute Gründe führt Rousseau so weit, dass er meint, alle Bürgerinnen und Bürger, unabhängig davon, ob sie studiert haben oder nicht, kommen jeweils in den Beratungen zu demselben Ergebnis. Und bleiben deswegen frei, denn sie erlegen sich ja selbst die Regeln auf, nach denen sie dann handeln. Rousseau splittet den Menschen gleichsam in eine politische (den citoyen) und eine außerpolitische (den bourgeois) Existenz auf. Der citoyen ist zusammen mit den anderen citoyens der Souverän. Er erlässt die Gesetze, denen sich alle fügen bis hin zum Todesurteil, das man unter Umständen in der Versammlung als citoyen qua Mitgliedschaft in der gesetzgebenden, sittlichen Körperschaft über sich selbst als bourgeois verhängt. Das ist das totalitäre Element bei Rousseau: Sich selbst die Regeln zu geben, nach denen man lebt und handelt und denen man dann auch außerhalb der Politik als Privatperson in allen Konsequenzen, uneingeschränkt durch Individualrechte unterworfen ist. 

Das sind vier aus der Philosophiegeschichte bekannte Paradigmen des Verhältnisses philosophischer und politischer Rationalität, und ich füge ein fünftes hinzu, welches man mit dem Name John Dewey verknüpfen kann. Dewey sieht keinen grundlegenden Unterschied zwischen philosophischer und politischer Rationalität. Er sagt sogar an einer Stelle, die Demokratie sei eigentlich so etwas ähnliches wie eine große Forschergemeinschaft, die versucht, herauszubekommen, was für uns gut ist und die entsprechend Gründe vorbringt, und die Gründe müssten, soweit sie Wissenschaftsbezug aufweisen, so vorgebracht werden, dass sie jede Person versteht. Und die Erziehung muss die Voraussetzungen schaffen, dass das möglich ist. Dann einigt man sich auf das, was für uns gut ist. Die wissenschaftlich-philosophische Rationalität und die politische Praxis sind auf den sozialen Fortschritt gerichtet. 

Platon und Dewey bilden die beiden extremen Gegensätze. Bei Platon nähert sich die theoretisch-philosophisch-wissenschaftliche Rationalität der politischen an. Bei Dewey ist es umgekehrt: Politische Rationalität ist hier eine philosophisch-wissenschaftliche Rationalität. 

Auch hinsichtlich der Demokratie lassen sich fünf Paradigmen unterscheiden: 

● Das Paradigma der Demokratie als Markt interpretiert das Geschehen in der Demokratie als ein Marktgeschehen unterschiedlicher Akteure, die miteinander um Anteile auf dem Markt, Absatzmöglichkeiten, Gewinne usw. konkurrieren. 

● Die Vorstellung von demokratischer Politik als eine Form von Freundschaft. Vor allem die zeitgenössischen Kommunitaristen sehen darin eine Bindung durch gemeinsame Werte und Praktiken. 

● Demokratie als Forum. Danach besteht Demokratie im Kern darin, dass verschiedene Vorschläge gemacht, darüber diskutiert und diese dann abgewogen werden. 

● Demokratie als eine Form einer Interaktion zwischen Identitäten bzw. eines Kampfes um Identität. 

● Demokratie als eine Form von Koopera­tion. Dieses Paradigma steht in der Tradition von John Rawls. 

Die Macht der Reflexion in der politischen Praxis 

„Sie kommen aus der Philosophie, waren dann in der Politik und kennen ja nun beide Bereiche.“ Darauf werde ich immer wieder angesprochen. In der Tat, ich habe diese beiden Bereiche sehr intensiv kennengelernt. Es sind zwei völlig verschiedene Welten. Das Merkwürdige ist zunächst einmal, dass es – fast schon paradox – in der politischen Praxis eine extreme Langsamkeit von Entscheidungsprozessen gibt und zugleich eine extreme Schnelligkeit. 

Die extreme Langsamkeit kommt daher, dass Probleme bekannt sind, dass die Menschen der Meinung sind, diese müssten irgendwie gelöst werden, aber zur gleichen Zeit, als Voraussetzung einer Lösung, bestimmte Zustimmungen erforderlich sind. Das kann dazu führen, dass erkannte Probleme über Jahre und Jahrzehnte zu überhaupt keiner Lösung führen. Die Flüchtlingsthematik ist dazu auch Illustration. Seit vielen Jahren wird diskutiert, dass man in Deutschland eine vernünftige Regelung der Zuwanderung bräuchte. Die politischen Interessenlagen waren aber zu divergent. Die Union, deren Kanzlerin in diesem Jahr unter Außerkraftsetzung der Dublin-Regelung zur Steuerung von Flüchtlingsbewegungen in der EU einen großen Zustrom Asylsuchender und Flüchtlinge zuließ, wollte sich dieses Mobilisierungsthema nicht durch eine kohärente Immigra­tionspolitik aus der Hand nehmen lassen.  Eine Lösung war so über viele Jahre blockiert. 

Gleichzeitig gibt es eine extreme Schnelligkeit. Wenn eine Situation entstanden ist, bei der klar ist, dass man sich jetzt auf eine bestimmte Entscheidung festlegen muss, dann sind die Diskussionen sehr ergebnisorientiert. Da kann jedes wissenschaftliche Argument eingeführt werden, aber immer nur, wenn es hilfreich ist für eine Entscheidungsfindung. Das unterscheidet politische Entscheidungsgremien von manchen Fakultätsratssitzungen. 

Also Schnelligkeit und Langsamkeit, beide Phänomene sind in der Politik präsent, und bei genauerer Analyse lassen sich bestimmte Charakteristiken erkennen, die stark mit der Institutionalisierung von Politik zusammenhängen. Angelsächsische – sowohl das britische als auch das US-amerikanische – Politiksysteme sind entscheidungsfreudiger als Systeme mit Verhältniswahlrecht und Föderalismus. Das deutsche politische System unterscheidet sich vom britischen dahingehend, dass in Großbritannien geradezu ein Kult um den Antagonismus zwischen Opposition und Regierung gemacht wird. Da geht es vergleichsweise langweilig zu im Deutschen Bundestag. Den deutlichsten Unterschied zwischen den beiden politischen Systemen sieht die Bevölkerung gar nicht: Die Arbeit in den Bundestags-Ausschüssen. Dort wird beraten, und ich habe mich gewundert, wie sachlich und auch offen für wissenschaftliche Ergebnisse, dort diskutiert wird. Es bestehen auch wissenschaftliche Anhörungsverfahren, die im Ablauf gewöhnungsbedürftig sind, weil den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht die Zeit gegeben wird, ihre Argumente zu entwickeln und man zudem gelegentlich zweifelt, ob alle wirklich zuhören. Dieses Eindringen epistemischer Rationalität in die politische Praxis über Ausschussberatungen, über Anhörungsverfahren und Stellungnahmen usw. kann allerdings jederzeit gebrochen werden durch politische Machtdemonstrationen, z. B. durch Entscheidungen eines Fraktionsvorstandes. Das kann zum reinen Machtspiel entarten, eine institutionelle Macht, die ausgeübt wird und die dann die Deliberation imprägniert. Dann werden Argumente gesucht, um irgendwie noch den Anschein der rationalen Begründbarkeit aufrechtzuerhalten, und gerade das macht das Unbefriedigende der Debatten aus, die im Lichte der Öffentlichkeit stattfinden. 

Wenn Journalisten in den Ausschussberatungen dabei sind, verfallen diese sofort in einen anderen Modus. Das führt übrigens in ein ernstes Dilemma der politischen Praxis, wofür ich keine einfache Lösung anzubieten habe: Die Transparenz der politischen Praxis ist ein essentieller Bestandteil der Demokratie, das unterscheidet Republiken von Nicht-Re­publiken. Zur gleichen Zeit ist die mediale Verstärkung und Kommentierung von Auseinandersetzungen geeignet, einen rationalen Diskurs im Keim zu ersticken. Es entsteht ein Amalgam aus Machtinteressen, die die Diskurslage imprägnieren und dem Einfluss von Argumenten, Gründen, Deliberationen auf die politische Entscheidungsfindung einen Riegel vorschieben. Ich will nur sagen: Es gibt nicht den grundlegenden Hiatus, auf der einen Seite die politische Praxis, die von Macht und Interessen geprägt ist, und auf der anderen Seite die philosophisch-wissen­schaftliche, die lediglich dem zwanglosen Zwang des besseren Argumentes folgt. 

An dieser Stelle möchte ich noch einen Vorschlag machen zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik in Deutschland. Die Deliberation politischer Fragen findet interessanterweise selbst in diesen von Machtinteressen imprägnierten öffentlichen Debatten immer statt – achten Sie mal auf die Sprache der Beteiligten – im Modus der Gemeinwohlorientierung. 

Meine These ist, dass der Diskurs, jedenfalls an der Oberfläche, durchgängig orientiert ist an bestimmten Kriterien, die man im Weitesten zusammenfassen kann unter Gemeinwohlorientierung, wie irrig sie auch immer sein mögen. In dem Moment, wo ich diesen Modus ablege, ist es keine Politik mehr. Das erinnert an das Rousseau‘sche Paradigma, und in dieser Hinsicht, glaube ich, ist es zutreffend. Und alle, die politische Argumente vorbringen und die lediglich Interessenpositionen kaschieren, die also so tun als ob, haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie es selbst durchschauen, und wenn es die Bürger merken, gibt es Kritik. Ich will nicht bestreiten, dass da solche Imprägnierungen durch spezifische Interessenlagen eine ganz zentrale Rolle spielen, aber der Modus des politischen Diskurses ist anders, und den sollte man ernst nehmen. Deswegen glaube ich nicht, dass es diese sorgfältige Scheidung geben kann zwischen politischer und philosophisch-wissenschaftlicher Rationalität. 

Das eigentliche Skandalon des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik ist, dass die Wissenschaft oft von den politischen Akteuren instrumentalisiert wird und viele Wissenschaftler sich gerne instrumentalisieren lassen. Das läuft dann ungefähr folgendermaßen ab: Jede Fraktion hat ein Vorschlagsrecht im Falle von Anhörungsverfahren. Eine wissenschaftliche Hilfskraft in der Fraktion bekommt dann den schönen Auftrag, Publikationen zu sichten, in der Regel deutscher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, und zu schauen, welche auf der „richtigen Seite“ stehen. Manchmal weiß man das sowieso, aber manchmal muss man auch ein bisschen recherchieren. Da kann es Irrtümer geben. Es gibt immer mal wieder Überraschungen bei solchen Anhörungsverfahren, weil man nicht genau genug hingeschaut hat. Das Verfahren aber ist, dass man sich einfach diejenigen sucht, die die eigene Posi­tion, die man schon tentativ oder vielleicht schon belegbar eingenommen hat, zum Beispiel in Gestalt eines Gesetzesentwurfes, wissenschaftlich untermauern. Und diejenigen, die dann darauf eingehen, tun ja nichts Böses. Sie sind eingeladen, staatsbürgerliche Pflicht, und erzählen das, was sie immer erzählen, und das ist eben erfreulicherweise im Einklang mit der Fraktionsmeinung. Nur kann das ja nun nicht der Rationalität politischer Entscheidungsfindung dienen. Und deswegen scheint es mir wichtig, dass es institutionelle Möglichkeiten gibt, dies zu verändern, der Deliberation ein größeres Gewicht zu geben. 

Nur mit Fokus auf dem Verhältnis von Wissenschaft und parlamentarischer und gouvernementaler Regierungspraxis würde ich Folgendes vorschlagen: Wenn irgendeine Instanz berufen ist, zu beurteilen, welche Personen in einer Sachfrage am kompetentesten Auskunft geben können, dann eine nationale Akademie. Es ist dies das, was durch eine Order unserer dann an ihrer Doktorarbeit gescheiterten Wissenschaftsministerin in die Welt gerufen wurde und de facto nicht exi­stiert. Eine nationale Akademie, die gibt es ja nicht, aber sie ist jetzt sozusagen auf dem Papier existent in einer merkwürdigen Mischung aus Leopoldina, Union der Akademien und BBAW mit einem Schwergewicht bei der Leopoldina. Sonst braucht man eine solche Akademie nicht. In Zukunft gibt es dann nicht mehr die Methode, dass jede Fraktion sich die Stimmen aus der Wissenschaft sucht, die gerade dasselbe meinen wie sie selbst, sondern dann gibt es ein Anhörungsverfahren aus der Wissenschaft. Natürlich muss dann wieder die Akademie die Größe haben, dass sie in der Lage ist, das ganze Meinungsspektrum zu repräsentieren und nicht nur die Mehrheitsmeinung oder das, was vielleicht gerade der Präsident für das Zutreffende hält. Die Akademie muss dann versuchen, epistemische Rationalität zu realisieren und alle, die in der Wissenschaft einen Beruf gefunden haben, wissen, dass es auch in der Wissenschaft nicht nur um den zwanglosen Zwang des besseren Argumentes geht sondern sehr häufig auch um Macht, um das Abwehren von kritischen Meinungen durch eine entsprechende Einladungs- und Rezensionspolitik. Unter den heutigen Bedingungen wäre es nicht möglich, dass Albert Einstein seine fünf weitreichenden Artikel im annus mirabilis der Physik 1905 veröffentlicht. Ein derart weit vom Mainstream abweichender Artikel würde in einer führenden Zeitschrift – die Annalen der Physik war die führende Physik-Zeitschrift der Welt – heute definitiv nicht publiziert werden. Das ist eine Fehlentwicklung. Und wenn dann die nationale Akademie mit dieser neuen Bürde, mit dieser neuen Verantwortung, so umginge, dass sie sagt, wir werden dann die uns liebsamen Stimmen denen schicken, die den Mainstream repräsentieren, dann ist wieder alles verloren. Aber meine Hoffnung ist, dass es doch hinreichend epistemische Rationalität gibt in der Wissenschaft, und diese sollten wir verstärken. Daher dieser konkrete Vorschlag. 

Von der Redaktion gekürzte und überarbeite Niederschrift des frei gehaltenen Vortrags auf der Tagung „Macht und Reflexion“ der Universität Rostock am 8. Oktober 2015. 

Der Originaltext „Die Macht der Reflexion. Über das Verhältnis philosophischer und politischer Rationalität“ erscheint im Deutschen Jahrbuch für Philosophie 2015 (Meiner Verlag).