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BERICHT

Walter Pfannkuche:
Verfolgung, Hunger, Krieg. Die Pflicht zur Hilfe für Menschen in Not

Aus: Heft 2/2016, S. 20-31

 
I. Die Ausgangslage
 
Politisch Verfolgte genießen Asyl. So sagt es lapidar der Absatz 1 des Artikels 16a unseres Grundgesetzes. Der Artikel kennt keine Obergrenze. Gleichwohl sind – mit Blick auf die sichtbar gewordenen Probleme und vermutlich auch mit Blick auf die von der UNHCR genannte Zahl von momentan 20 Millionen aus ihren Heimatländern Geflüchteten – mittlerweile viele der Meinung, dass es eine Obergrenze geben muss. Und das aus zwei Gründen:
 
● Einige sagen: Es ist zwar unsere moralische Pflicht, allen Bedrohten zu helfen, aber wir können es nicht. Das würde unsere Ressourcen überfordern und die politische Stabilität unseres Landes gefährden.
 
● Andere bezweifeln, dass ihre moralische Pflicht, Notleidenden zu helfen so umfassend ist. Solche Hilfspflichten, so deren Überzeugung, beziehen sich eher auf Personen, mit denen wir in einer irgendwie engeren Beziehung stehen.
 
Objektiv gesehen, scheinen wir von dem Nicht-Können weit entfernt zu sein. Natürlich könnten wir auch sechs Millionen Verfolgte hier unterbringen. Und dies sogar so menschenwürdig, dass sie nicht in Zelten und Turnhallen nächtigen müssen. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren über 12 Millionen Vertriebene unterzubringen. Und das ging auch. Das würde mit Einquartierungen von Flüchtlingen in Privathaushalte auch heute wieder gehen und wäre sogar weniger belastend als damals in dem kriegszerstörten Land. Aber, werden viele sagen, das geht eben zu weit. Das kann moralischer Weise niemand verlangen.
 Was also ist es dann, das die Moral hinsichtlich des Umgangs mit Notleidenden von uns verlangt?
 
II. Modelle zur Bestimmung des Umfangs unserer Hilfspflicht
 
Hier sehen wir uns mit der Tatsache konfrontiert, das wir weder als Philosophen noch als Gemeinschaft von Bürgern über die eine Moral verfügen, aus der wir eine uns alle überzeugende Antwort auf diese Frage ableiten könnten. Als Philosoph kann man in dieser Situation dreierlei tun:
 
- Man kann noch einmal zu beweisen versuchen, dass die Moral, der man selbst anhängt, die einzig wahre Moral ist und alle anderen auf einem Holzweg sind. – Das scheint mir ein müßiges Unterfangen, das bestenfalls der eigenen Gemeinde ein gutes Gefühl gibt.
 
- Man kann zu zeigen versuchen, dass die widerstreitenden Moralen einen gemeinsamen Kern haben und dass die Regeln zum Umgang mit Flüchtlingen ein Teil dieses gemeinsamen Kerns sind. – Das wäre ein guter Ausweg, aber er steht uns, wie gleich deutlich werden wird, nicht zur Verfügung.
 
- Man kann von der Existenz eines wenigstens momentan nicht argumentativ überwindbaren moralischen Pluralismus ausgehen und sich fragen, mit welchen aus der Perspektive aller Beteiligten akzeptablen Verfahren wir zu einer für alle Bürger verbindlichen Antwort kommen können. – Dieser Frage werde ich nachgehen, nachdem ich die zwischen den Moralen bestehenden Spannungen ausgelotet habe.
 
Das Spektrum der plausiblen Antworten auf die Frage nach dem Umfang unserer Pflicht für Notleidende lässt durch zwei moralische Grundpositionen beschreiben.
 
II.1. Die Position des Kontraktualismus:
 
Moralisch richtig und gültig sind diesem Ansatz zufolge nur solche Regeln, denen die der Regel Unterworfenen entweder direkt zugestimmt haben oder die im Rahmen einer Prozedur beschlossen wurden, der die Unterworfenen zugestimmt haben. Ein Kontraktualist wird einer Regel und deren Etablierung als Gesetz nur dann zustimmen, wenn das in seinem Interesse ist. Da die Vertragspartner sowohl gemeinsame wie auch entgegengesetzte Interessen haben, werden die Regeln an vielen Stellen einen Kompromiss darstellen. Als Kontraktualist will man Bedrohungen durch andere und gravierenden Unglücksfällen nicht schutzlos ausgeliefert sein. Man wird deshalb bestimmte Grundrechte und Beistandspflichten für Notlagen befürworten. Dabei wird man schnell bemerken, dass jede gewünschte Sicherheit in zwei Hinsichten zugleich etwas kostet.
 
 
- Wer sich etwa vor der Bedrohung seines Lebens durch andere mithilfe eines universellen Gewaltverbots schützen will, der muss erstens eine entsprechende Beschränkung seiner eigenen Handlungsmöglichkeiten akzeptieren.
 
- Und wichtiger noch, er muss, wenn er vor der Bedrohung durch andere wirksam geschützt werden will, auch bereit sein, eine handlungsfähige Polizei und ein Sanktionswesen zu finanzieren.
 
Wenn man einen guten Schutz vor Gewaltverbrechen oder Krebserkrankungen haben will, muss man bereit sein, nennenswerte Ressourcen an die dazu notwendigen Institutionen abzutreten.
 
Bei solchen Abwägungen sind für Kontraktualisten zwei Gesichtspunkte wichtig:
 
1. Für einen Kontraktualisten ist Reziprozität wichtig. Für ihn ist es nur dann rational, auf etwas zu verzichten, wenn er dadurch zugleich etwas gewinnt. Abkommen über Hilfsleistungen wird er nur mit denen schließen, die im Bedarfsfall auch zu einer Hilfeleistung fähig sind. Einseitige Hilfsversprechen sind für Kontraktualisten einfach irrational. Eben deshalb sind sie skeptisch gegenüber Mehrheitsentscheidungen, wenn es um den einseitigen Transfer von Ressourcen von einer Bevölkerungsgruppe zu einer anderen geht. Da von solchen Transfers naturgemäß nicht alle profitieren, geraten diese schnell in den Verdacht der erzwungenen Teilenteignung zugunsten anderer. So können Kontraktualisten darauf bestehen, dass für solche einseitigen Transfers die weitgehende Zustimmung aller Leistungserbringer erforderlich ist. Die Zustimmung wirklich aller wird es, wenn überhaupt, dann nur in sehr wenigen Fällen geben. Eine Einstimmigkeitsregel könnte so viele staatliche Aktivitäten verhindern, dass dies am Ende nicht mehr den Interessen der Beteiligten dient. Qualifizierte Mehrheitsregeln könnten für alle vorteilhafter sein, aber deren Zustimmungsraten werden recht hoch angesetzt werden. In finanziell gravierenden Fragen wird man die Entscheidung vermutlich nicht einmal einem gewählten Parlament überlassen wollen, sondern eine direkte Abstimmung darüber verlangen.
 
2. Mit Grundrechten und Beistandspflichten will man sich gegen Lebensrisiken absichern. Bei der Aushandlung solcher Rechte und Pflichten wird man schnell feststellen, dass das Sicherheitsbedürfnis verschiedener Personen unterschiedlich stark ist. Manche wollen sich gegen alles absichern, andere sind risikofreudiger.
 
Infolge divergierender Risikobereitschaften einerseits und der Forderung nach breiter Zustimmung zu Transferleistungen andererseits werden kontraktualistisch begründete politische Ordnungen deshalb typischerweise so aussehen, dass es eine verbindliche und schmale Basissicherung für alle gibt und es darüber hinaus den Bürgern überlassen bleibt, sich je nach Wunsch in privaten Schutzvereinigungen (Versicherungen) weiter abzusichern.
Im moralischen Kosmos der Kontraktualisten gibt es deshalb weder unmittelbare Schutzrechte für Personen ohne Drohpotential noch Rechte auf Beistand für Personen, die anderen nicht beistehen können. Gerade die ganz Schwachen und Hilflosen fallen also aus der moralischen Welt heraus. Das hat viele dazu gebracht, den Kontraktualismus als Moraltheorie zu verwerfen. Die Kontraktualisten reagieren darauf meist mit einem Pathos der Wahrhaftigkeit. Die moralischen Pflichten, also das, was man von jedem erwarten und mithilfe staatlicher Sanktionen auch erzwingen kann, müssen jedem gegenüber zu rechtfertigen sein, und einseitige Pflichten seien eben nicht begründbar. Auch die moralische Welt sei kein Wunschkonzert.
 
Ich vermute, dass viele derer, die jetzt gegen die Aufnahme von weiteren Flüchtlingen sind, neben Ängsten vor Überfremdung oder sozialer Marginalisierung auch von kontraktualistischen Vorstellungen bestimmt sind: Sicher, Helfen ist anständig und großzügig, aber eben keine universelle Pflicht zu deren Einhaltung der Staat seine Bürger zwingen darf.
 
Diejenigen, die mit diesem Modell unzufrieden sind, sind dies vermutlich zuletzt, weil es eine zentrale moralische Intuition nicht ausdrücken kann – die Intuition, dass moralisch gesehen das Leben und Wohl eines jeden gleich wichtig und deshalb gleich zu berücksichtigen ist. Diese Intuition bildet, eben weil ihr alle Menschen als gleich wichtig gelten, das Zentrum einer universalistischen Ethik.
 
II.2. Die Position des Universalismus:
 
Die These der Gleichwichtigkeit aller, wird in einer universalistischen Ethik häufig durch die Einstellung der Unparteilichkeit ausgedrückt. Die moralische Grundfrage wird dann häufig so formuliert: Welche Regelung für den Umgang miteinander würde man befürworten, wenn man sich vorstellt, man könnte in jeder der möglichen Positionen sein, die von der Geltung der Regel irgendwie mitbestimmt wird? Als moralisch Denkender muss man dann zu einem universalen Rollentausch bereit sein. Man muss bereit sein, von seiner konkreten Situation und ihren realen Möglichkeiten und Bedrohungen abzusehen und dann über akzeptable Regeln für das Zusammenleben nachdenken.
 
Diese unparteiliche Perspektive auf die Welt ist, wenn es dann um die Befürwortung von Regeln geht, typischerweise mit zwei Problemen verbunden:
1. Auch hier stellt sich das Problem der divergierenden Risikobereitschaften wieder ein. Auch wenn alle versuchen, einmal unparteiisch über alle in dieser Welt möglichen Schicksale nachzudenken, sie werden für den Umgang mit den dabei bestehenden Risiken und Chancen nicht alle dieselben Lösungen befürworten. Denn, wie wir gerade gesehen haben, ist für jede gewonnene Sicherheit auch ein Preis zu zahlen. Und nicht jedem sind solche Sicherheiten gleich viel wert.
 
2. Auch wenn man aus der moralischen Perspektive das Wohl eines jeden gleich wichtig zu nehmen bereit sind, man wird schnell feststellen, dass es keine Regeln gibt, durch deren Geltung jeder komplett glücklich gemacht werden könnte. Das liegt einfach daran, dass die Ressourcen dazu nicht ausreichen und unsere Interessen einander an vielen Stellen auch unmittelbar entgegengesetzt sind. Die Feierlaune des einen führt zur Ruhestörung für den anderen. Wenn man die Welt also nicht so einrichten kann, dass alle vollständig glücklich werden, wie soll man das Glück dann verteilen? Hier streiten – um nur die wichtigsten Kontrahenten zu nennen – anhaltend diejenigen, die es gleich verteilen wollen, mit denen, die so viel Glück wie möglich auf Erden realisieren wollen und beide mit denen, die das schlechtestmögliche Los so gut wie möglich ausgestalten wollen. Angesichts dieses Streits wird es auch im Lager der Universalisten am ehesten eine Übereinstimmung hinsichtlich einiger basaler negativer Pflichten geben. Das sind die Pflichten, denen zufolge wir auf Handlungen wie Mord, Diebstahl oder Täuschung zur Erreichung unserer Ziele verzichten sollen. Solche Pflichten sind prima facie für alle plausibel, auch wenn umstritten sein wird, in welchem Ausmaß Angriffe auf Leben und Sicherheit durch Institutionen vermindert werden sollen.
 
Hinsichtlich positiver Pflichten werden die Lager der Universalisten für alle praktisch-realen Belange vermutlich eine Moral der Grundsicherung als kleinsten gemeinsamen Nenner unterstützen können. Dieser zufolge sind unsere Handlungen und Institutionen so einzurichten, dass jeder, der seine Eigenverantwortung wahrnimmt, keinen elementaren Mangel leiden muss, dass bestimmte Grundgüter für alle gesichert sind.
 
Theoretisch werden diejenigen, die das Gesamtglück maximieren wollen, immer bereit sein, auch elend Dastehende weiter leiden zu lassen, falls nur dadurch das Gesamtglück zu mehren ist. Aber in realen Kontexten, wird sich diese Alternative so selten auftun, dass man mit einer Praxis der Grundsicherung keine allzu groben Fehler machen kann. Es wird weiterhin umstritten sein, über welche Güter genau eine Person verfügen muss, um nicht unter elementarem Mangel zu leiden. Eine elementare Sicherheit für Leib und Leben wird aber auf jeder plausiblen Liste von Grundgütern stehen.
 
Soweit die grundlegenden Positionen. Für die Frage nach dem moralisch vertretbaren Umgang mit Flüchtlingen ist damit allerdings noch nicht viel gewonnen. Die skizzierten Theorien sind Theorien über die Einrichtung einer moralischen Gemeinschaft überhaupt, sie sagen nichts darüber aus, was zu tun ist, wenn es mehrere moralisch-politische Gemeinschaften gibt. Doch Flüchtlinge stammen per definitionem aus anderen Staaten, und deshalb ist nun zu untersuchen, welche Rolle die Staatlichkeit für die hier skizzierten Moralen spielt.
 
III. Probleme bei der Anwendung der Moral auf zwischenstaatliche Verhältnisse
 
III.1. Die Perspektive der Kontraktualisten.
 
Für Kontraktualisten scheint die Sache auf den ersten Blick klar. Diejenigen, die einen Vertrag mit einander schließen, konstituieren eben damit einen Staat. Moralische Pflichten gibt es nur zwischen den Vertragspartnern und so kann es Verpflichtungen gegenüber anderen Staaten oder deren Bürgern nur geben, wenn entsprechende Verträge geschlossen werden. Da rationale Verträge auf Gegenseitigkeit angelegt sind, wird es zwischenstaatliche Beistandspflichten rationaler Weise nur dort geben, wo es für die beteiligten Staaten vorteilhaft ist, eine wechselseitige Hilfspflicht zu vereinbaren.
 
Dieses schlichte Bild bekommt allerdings Risse, sobald man sich fragt, wann eine Gruppe von Menschen berechtigt ist, einen Vertrag miteinander abzuschließen, der andere zu Außenseitern erklärt. Dürfen etwa diejenigen, die im Umfeld einer wertvollen Ressource wohnen, einen Staat bilden und damit alle anderen von der Nutzung dieser Ressource ausschließen? Kontraktualisten benötigen stets eine Theorie der ursprünglichen Aneignung, um zu bestimmen, was jeder Vertragspartner berechtigterweise als das Seine in den Vertrag einbringen kann. Und da scheint es ziemlich unplausibel, der naturhaft-zufälligen Verteilung von Ressourcen eine normative Autorität einzuräumen, die Ansprüche Benachteiligter ausschließt. Dementsprechend könnten ressourcenarme Staaten durchaus Ansprüche auf die Unterstützung durch diejenigen machen, die reicher ausgestattet sind. Eine mögliche Form, diesem Anspruch gerecht zu werden, besteht dann darin, Menschen, die aus Armutsgebieten fliehen, im eigenen Staat aufzunehmen.
 
Dieses Argument versagt allerdings dort, wo Menschen nicht vor ressourcenbedingter Armut fliehen, sondern weil die Bürger eines Landes einen Krieg gegeneinander führen. Das, werden Kontraktualisten sagen, fällt in deren Verantwortung. Es ist eben deren politisches Versagen, und wir sind ohne entsprechende Verträge nicht dazu verpflichtet, ihnen in dieser Lage zu helfen. Und da es hinsichtlich solcher unkalkulierbarer Vorgänge nicht rational wäre Beistandsverträge abzuschließen, gibt es hier keine Pflicht zur Hilfe. Es ist aus kontraktualistischer Sicht einfach abwegig, dass die Bürger eines Staates diesen ruinieren können und eben dadurch einen Anspruch auf die Hilfe anderer erwerben.
 
III.2. Die Perspektive der Universalisten.
 
Gerade umgekehrt scheint das Bestehen supranationaler Hilfsplichten aus der universalistischen Perspektive eine klare Sache zu sein. Schließlich ist die Mitgliedschaft einer Person in einem bestimmten Staat durch Geburt eine völlig kontingente Sache, die die moralische Gleichwichtigkeit dieser Person nicht berührt.
 
Das greift jedoch wiederum zu kurz, denn es ergibt auch aus einer universalistisch-moralischen Perspektive Sinn, Staaten als Träger dezentraler, lokaler Verantwortlichkeit zu etablieren. Dafür sprechen zwei Gründe:
 
- Es wäre erstens ziemlich ineffizient, Schul- oder Abwasserprobleme im Raum Kalkutta von einem Gremium behandeln zu lassen, das in New York tagt.
 
- Und es wäre, zweitens, auch moralisch unangemessen, alle Probleme nach dem Maßstab einer Weltregierung lösen zu wollen. Wie wir gesehen haben, gibt es selbst im Rahmen der universalistischen Moralen noch erheblichen Interpretationsspielraum. Die Menschen in Kalkutta werden eine partiell andere Liste von Grundgütern für angemessen halten, werden diese anders gegeneinander gewichten und eventuell auch andere Strategien zu deren Sicherung befürworten als die Bürger von Chicago.
 
Aus beiden Gründen ist die Existenz von Staaten als Räumen lokaler normativer Selbstbestimmung auch aus einer universalistischen moralischen Perspektive wünschenswert. Die Einrichtung solcher Räume lokaler Selbstbestimmung hat aber eine wichtige Konsequenz: Wenn Menschen ihr Schicksal selbst gestalten wollen, dann müssen sie auch bereit sein, die Konsequenzen ihrer Entscheidungen zu tragen. Die auch für die Flüchtlingsproblematik entscheidende Frage ist deshalb: Wie weit reicht die Eigenverantwortung der lokalen politischen Körperschaften, etwa der Nationalstaaten? Was würde man aus einer global-moralischen Perspektive dazu sagen?
 
Einmal angenommen, die Holländer hätten über Jahre nur wenig in den Hochwasserschutz investiert und die Steuern stattdessen für den Ausbau der Hochschulen und des Kulturbetriebs ausgegeben. Dann spült eine Sturmflut das Meer ins Land. Sind nun die Anrainerstaaten, die ihre Küsten besser geschützt und Universitäten und Theater weniger gefördert haben, verpflichtet, den Notleidenden zu helfen oder müssen die Leidenden die Konsequenzen ihrer Kollektiventscheidung nun selbst tragen? – Vermutlich letzteres.
 
Wenn man das meint, dann hängt man etwa diesem Prinzip an: Die Mitglieder politischer Gemeinschaften sind verantwortlich für diejenigen Folgen ihrer Handlungen, die sie durch andere kollektive Entscheidungen hätten vermeiden können.
 
Das klingt ganz gut, ist aber noch unzureichend. Denn wie wäre es, wenn die Holländer zwar ihre Deiche hätten besser ausbauen können, dies aber nur um den Preis, die medizinische Versorgung weitgehend einstellen zu müssen. Was würde man aus einer universalistischen, an der Sicherung von Grundgütern orientierten Perspektive dann sagen? Ich denke dies: Die Mitglieder politischer Gemeinschaften sind verantwortlich für diejenigen Folgen ihrer Handlungen, die sie durch andere kollektive Entscheidungen hätten vermeiden können – ohne dabei andere unzumutbare Härten auf sich nehmen zu müssen.
 
Was eine unzumutbare Härte ist, könnte dabei durch die Liste der Güter bestimmt werden, die zur Grundsicherung gehören. Dort, wo ein Staat die Versorgung seiner Bürger mit den Grundgütern gar nicht gewährleisten kann, sind andere Staaten zur Hilfeleistung verpflichtet. Und wie sieht es aus dieser Perspektive im Fall eines Bürgerkrieges aus? – Bürgerkriege entstehen zumeist als Reaktion auf Unterdrückung und Ausbeutung. Die dafür Verantwortlichen sollen entmachtet oder getötet werden. Solche Bürgerkriege resultieren aus Abwägungen und Entscheidungen der Unterdrückten und der Unterdrücker. Beide Seiten müssen den Krieg einem Nachgeben vorziehen.
 
Dabei ist nach der Grundsicherungs-Moral ein gewaltsamer Widerstand dann berechtigt,
 
- wenn ein Regime etlichen Personen die Grundgüter vorenthält oder nicht das Mögliche tut, um deren Vorhandensein zu gewährleisten
- und wenn sich gewaltfreie Versuche, das Verhalten der Herrschenden zu ändern, als aussichtslos erwiesen haben.
 
Einmal angenommen, die Beschädigungen, die viele Syrer unter der Herrschaft des Assad-Clans zu erleiden hatten, waren gravierend genug, um gewaltsamen Widerstand zu rechtfertigen, müssen dann die Syrer die Folgen ihrer Entscheidung selbst tragen, oder müssen andere ihnen dabei helfen? Universalisten können hier nicht einfach sagen ‚Die haben sich die Suppe eingebrockt, nun müssen sie sie auch auslöffeln‘. Denn es ist zwar wahr, dass die unterdrückten Syrer mit einer Entscheidung gegen Gewaltanwendung den Bürgerkrieg und damit ihre jetzigen Leiden hätten vermeiden können, aber eben nur, indem sie weiterhin unzumutbare Härten auf sich nehmen – eben all die Drangsale, kraft derer der Widerstand im ersten Schritt überhaupt als legitim anerkannt wurde. Das obige Prinzip der Verantwortung besagt aber, dass die Bürger für die Folgen ihrer kollektiven Entscheidungen nur dann verantwortlich sind, wenn eine andere Entscheidung ihnen nicht unzumutbare Härten auferlegt hätte. Die Aufständischen haben durch ihre Entscheidung für einen Bürgerkrieg also nach dem Prinzip der Selbstverantwortung nicht automatisch ihr Recht auf Hilfe verwirkt.
 
Welche supranationalen Pflichten hinsichtlich gerechtfertigter Bürgerkriege würde man aus einer global unparteiischen Perspektive, in der man bereits die Berechtigung von Staaten als lokalen Verantwortungsträgern anerkannt hat, dann befürworten? Da es dann keinen allmächtigen Weltstaat gibt, sondern eben nur eine Pluralität von Staaten, muss das normative Ziel nun darin bestehen, im Rahmen dieser Staatenpluralität möglichst viele ungerechtfertigte Tötungen zu verhindern. Hier wird deutlich, dass man zur Erreichung dieses Ziels nicht Regeln aufstellen kann, die für alle vorkommenden Fälle gelten. Solche Regeln werden vielmehr stark vom Einzelfall und von der Vermutung über wahrscheinliche Folgen abhängen.
 
Jemand könnte dann gegen die Pflicht zur Aufnahme von Flüchtlingen so argumentieren: Durch die Aufnahme von Flüchtlingen wird denen, die nicht gegen die Unterdrückung kämpfen wollen, ein sicherer Ausweg geboten. Dadurch werden sich weniger Bürger im Widerstand engagieren und so wird die Wahrscheinlichkeit vergrößert, dass ungerechte Regimes länger Bestand haben. Zudem wird mit massiven Flüchtlingsströmen sehr häufig Instabilität exportiert und so mehr an Leid und Problemen produziert als gelindert. Es gibt deshalb keine Pflicht, Flüchtende aufzunehmen, auch wenn die Aufständischen ein Recht zur Notwehr haben.
 
Wenn das empirisch plausibel wäre, müssten auch die Bürger eines Bürgerkriegslandes dieses Resultat einer unparteiischen Abwägung moralisch akzeptieren. Dass diese Folgen so eintreten, ist allerdings wenig wahrscheinlich. In den meisten Fällen wird die Aufnahme von Flüchtlingen eher Leiden lindern als neue und größere Leiden erzeugen. In diesen Fällen würde man auf der Basis derselben normativen Prämisse zu dem Ergebnis kommen, dass eine Pflicht zur Aufnahme von Geflüchteten besteht.
 
Doch mit der Anerkennung einer solchen Pflicht ist es noch nicht getan, denn in den Fällen, in denen es eine universelle Pflicht zur Hilfe für Notleidende gibt, bleibt zu klären, wer genau diese Hilfe bereitstellen muss. – Prima facie scheint dann plausibel, dass jeder zur Hilfe Fähige seinen fairen Anteil leisten muss, d. h. wenigstens in dem Umfang helfen muss, wie es bei gleicher Beteiligung aller notwendig wäre, um die Grundsicherung aller Bedrohten zu gewährleisten. Und wenn alle ihren Teil zur Hilfe beitrügen, wären die Lasten für jeden Helfenden vermutlich sogar in unserer Welt leicht zu tragen. Den zurzeit 20 Millionen zwischenstaatlichen Flüchtlingen steht immerhin eine Weltbevölkerung von ca. 7 Milliarden gegenüber, von der mindestens die Hälfte zu Hilfeleistungen in der Lage wäre. Das Problem ist nur: Es sind nicht alle gleichermaßen von Zuflucht Suchenden betroffen und unter den zur Hilfe fähigen Staaten helfen nicht alle so, wie es ihren Fähigkeiten entspricht.
 
Wir betreten hier das Gebiet der Nicht-idealen Theorie. Die Frage ist nun: Zu was sind moralische Universalisten verpflichtet, wenn nicht alle den Pflichten nachkommen, die sie der universalistischen Theorie zufolge haben? Ist man dann berechtigt, Leidende weiter leiden oder gar sterben zu lassen, obwohl man ihnen ohne gravierende eigene Einbußen helfen könnte – einfach weil andere ihren Teil der Hilfe nicht geleistet haben? Das ist aus einer universalistischen Perspektive, die dem Ziel verpflichtet ist, möglichst viele Todesfälle zu verhindern, nicht akzeptabel. Hier wären die zur Hilfe Fähigen und Willigen vielmehr verpflichtet so viel zu helfen, wie irgend in ihren Kräften steht.
 
Die theoretische Obergrenze der Hilfspflicht ergibt sich aus einem unparteiischen Vergleich der Leiden der Bedrohten mit den Lasten der Helfenden. Wenn die Moral verlangt, einen jeden vor elementarem Mangel zu schützen, dann wären Hilfsfähige genau so lange zur Hilfe verpflichtet, bis sie selbst unter solchem Mangel zu leiden beginnen. Dabei sind natürlich langfristige Folgen zu berücksichtigen. Wenn man effizient helfen will, muss man darauf achten, die eigene ökonomische Stabilität zu erhalten, um auch in der Zukunft Bedrohten helfen zu können. Die Macht dieses Faktors darf man nicht unterschätzen. Die Weltwirtschaft ist kompetitiv. Wer nicht genug Geld für Forschung ausgibt, wessen Schulen oder Infrastruktur zu schlecht werden, wer nicht fähig ist, intensiv zu arbeiten, der fällt schnell in die zweite Liga zurück und verliert seine Fähigkeit, anderen zu helfen, immer mehr. Hier ließe sich anführen, dass produktiv und konzentriert Arbeitende hin und wieder Urlaub benötigen, um weiterhin so produktiv sein zu können. Aber den Urlaub kann man auch am heimischen Badesee verbringen. Der darüber hinausgehende Tourismus wäre sicher auf dem Altar der Moral zu opfern.
 
Zudem ist die politische Stabilität der helfenden Staaten dauerhaft zu sichern. Wenn es faktisch viele gibt, die – sei es aus Egoismus, sei es infolge divergenter moralischer Überzeugungen – nicht bereit sind, für die Unterstützung von Geflohenen Opfer zu erbringen, dann wird es gegen dieses Ansinnen erheblichen politischen und außerparlamentarischen Widerstand geben. Dann macht es auch für universalistisch Gesonnene keinen Sinn, so vielen Flüchtlingen zu helfen, dass dann zwei Jahre später eine Partei mit dem Slogan ‚Deutschland den Deutschen‘ die Macht übernimmt.
 
Die Frage der supranationalen Hilfspflicht ist zudem mit dem Problem innerstaatlicher Ungleichheit und Ungerechtigkeit verbunden. Denn von den durch die Unterbringung oder gar Integration von Flüchtlingen implizierten Ressourcenverknappungen sind zumeist die ohnehin schon schlechter Dastehenden der Gesellschaft betroffen. Sie werden unter der verschärften Konkurrenz um Arbeitsplätze und preiswerte Wohnungen zu leiden haben, in den Schulen ihrer Kinder wird die Qualität des Unterrichts sinken und in ihren Wohnvierteln werden Frustration und Kriminalität ansteigen. Die Politiker, Leitartikler und Professoren werden von alledem weitgehend unberührt bleiben. Da es zudem zur innerstaatlichen Gerechtigkeit gehört, dass bestimmte Leistungen für jeden gesichert sind, ist es politisch besonders brisant, den Umfang dieser Leistungen durch die Aufnahme von Flüchtlingen zu verschlechtern. Verschlechterungen in diesem Bereich führen schnell dazu, jene politische Stabilität zu gefährden, die eine Bedingung aller zukünftigen Hilfeleistungen ist. Wer sozial mit dem Rücken zur Wand steht, ist für Parolen empfänglich, denen er bei einer besseren Einbindung in die Gesellschaft widerstehen könnte.
 
IV. Was ist politisch legitim?
 
Bei der Verfolgung der Frage, welche Hilfsleistungen von jedem moralisch gefordert sind, ist deutlich geworden, dass die Antworten der Kontraktualisten und der Universalisten am stärksten voneinander abweichen. Dabei sind zwar auch für moralische Universalisten die eben diskutierten Gründe zu berücksichtigen, aber für sie bleiben die moralischen Anforderungen zweifellos hoch, weil sie Hilfspflichten nicht an Reziprozität binden. Und wenn in diesem enorm folgenträchtigen Punkt ein Dissens nicht nur unter Moralphilosophen, sondern auch zwischen größeren Teilen der Bevölkerung besteht, dann steht man vor einer zweiten Frage:
 
Was ist angesichts der Tatsache, dass die Bürger nun mal verschiedenen Moralen anhängen, politisch legitim? – In solchen Fällen, könnte man vermuten, muss die für alle verbindliche Regelung durch eine politische Entscheidung bestimmt werden. Diese Strategie ist bei der Aufstellung von Hilfspflichten allerdings mit einem besonderen Problem konfrontiert – eben dem, dass die Bürger auch verschiedener Meinung darüber sind, welche Fragen denn überhaupt durch einfache parlamentarische Mehrheiten entschieden werden dürfen. Die Kontraktualisten würden eine Entscheidung für weitgehende Hilfeleistungen, die nicht die Zustimmung aller zur Hilfeleistung Herangezogenen findet, ja als illegitim ablehnen. Unser politisches System entspricht den Vorstellungen der Kontraktualisten an dieser wichtige Stelle nicht. Es entspricht allerdings auch den Vorstellungen der Universalisten an vielen Stellen nicht.
 
Doch eine vollständige Übereinstimmung des politischen Systems mit den eigenen moralischen Vorstellungen kann in einem modernen Staat realistischer Weise auch niemand erwarten. Es definiert ja den Bereich des Politischen geradezu, dass er eine Form des Umgangs mit dem Umstand ist, dass die Beteiligten unterschiedliche Moralvorstellungen haben. Wenn man über das politisch Legitime nachdenkt, dann kann nicht einfach jeder seinen moralischen Standpunkt wiederholen, sondern muss einen Vorschlag machen, wie mit moralischen Divergenzen so umgegangen werden kann, dass dies aus allen moralischen Perspektiven erträglich erscheint.
 
Und da erscheint es gerechtfertigt, an den uns vertrauten Verfahrensweisen festzuhalten. Denn diese geben allen und so auch den Kontraktualisten die Möglichkeit, auf andere Entscheidungen oder eine Änderung der Verfahren hinzuarbeiten. Wenn die Anhänger des Kontraktualismus es mit politischen Mitteln durchsetzen können, dass etwa Entscheidungen über zwischenstaatliche Hilfsmaßnahmen mit einer Drei-Viertel-Mehrheit – sei es im Parlament oder bei einer Volksabstimmung – getroffen werden müssen und wenn dann entsprechend viele Bürger gegen solche Maßnahmen sind, dann muss die Minderheit der Hilfswilligen sich dem fügen. Die Hilfswilligen könnten dann immer noch Vereinigungen gründen, die das zu leisten versuchen, was ihrer Meinung nach der Staat im Ganzen leisten müsste. Aber solange solche Gesetzesänderungen nicht vollzogen sind, kann man auch umgekehrt von den heutigen nicht Hilfswilligen erwarten, dass sie sich dem Mehrheitswillen beugen.
 
Gleichwohl, der Dissens bleibt, und je spürbarer die Konsequenzen einer weitgehenden Hilfsbereitschaft werden, desto massiver werden die Divergenzen zu Tage treten. Die zentrale Frage ist dann, wie man die Akzeptanz der politischen Maschinerie möglichst weitgehend erhalten und die Konfrontation zwischen den Bürgern in der Asylfrage vermindern kann. Um eine Spaltung der Gesellschaft zu verhindern, sollten wir uns m.E. zu zwei Maßnahmen entschließen, die unseren moralischen Überzeugungen und dem daraus resultierenden Dissens besser gerecht werden:
 
 1. Wir sollten zugeben, dass der Artikel 16a unserer Verfassung mit seinem unbegrenzten Schutzversprechen eine zu abstrakte, der moralischen Realität nicht angemessene Formulierung darstellt.
 
- Die Kontraktualisten halten Hilfsversprechen ohne reale Reziprozitätsmöglichkeiten insgesamt für falsch.
 
- Aber auch die Universalisten unter uns werden auf die oben angeführten moralisch legitimen Grenzen der Hilfspflicht hinweisen. Wir würden, wenn wir genauer hinsehen, sogar feststellen, dass sie diese Grenze an ziemlich verschiedenen Punkten ziehen. Was die einen für eine zumutbare Belastung ansehen, wird anderen schon als selbstzerstörerische Überforderung gelten.
 
Was wir an dieser Stelle benötigen, ist eine politische Entscheidung darüber, wieviel wir für Notleidende zu tun bereit sind, d. h. wieviel uns unsere Hilfsbereitschaft in Euro und Cent wert ist. Dementsprechend sollten wir politisch eine Obergrenze für aufzunehmende Flüchtlinge festlegen und das auch rechtlich fixieren.
 
Das erfordert die Entschlossenheit, dann allen weiteren die Hilfe zu versagen und dies auch weltweit zu verkünden. Wir müssen dann ehrlich genug sein, zuzugeben, dass wir bereit sind, Verfolgte weiterhin leiden oder gar sterben zu lassen, obwohl wir das mit weiteren Opfern verhindern könnten. Diese Bereitschaft, auch da sollten wir ehrlich sein, haben wir ohnehin schon lange. Infolge unseres kümmerlichen Beitrags zur Entwicklungshilfe und mehr noch durch die Handelsbedingungen, die wir schwächeren Staaten zu unserem Vorteil aufnötigen, sterben täglich tausende, deren Leben sehr wohl hätte erhalten werden können. Das, so scheint mir, ist der schmerzliche Punkt, den viele in der Debatte gern ausblenden möchten: Wir sind nun mal keine Heiligen, die ihr vorletztes Hemd dem geben wollen, der gar keines hat.
 
2. Die Universalisten sollten sich klar machen und das auch gegenüber den Kontraktualisten zugeben, dass die Erbringung der Hilfeleistungen uns spürbare Opfer abverlangt. Wir sollten deshalb eine Steuer einführen, deren Ertrag langfristig für die Unterbringung von Flüchtlingen reserviert ist. Eben weil eine solche Entscheidung so gravierende und langfristige Folgen haben wird, wäre es angemessen, deren Höhe zum Gegenstand einer Volksabstimmung zu machen.
 
V. Was also tun?
 
Gleichgültig, ob wir die Grenzen unserer Hilfsbereitschaft durch die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit bestimmen oder einfach dadurch, dass wir im Großen und Ganzen so weiterleben wollen wie bisher, wo immer und aus welchen Gründen auch immer wir die Grenze unserer Hilfsbereitschaft am Ende ziehen, es werden viele übrigbleiben, denen nicht geholfen wird. Aber wenn wir nun mal nicht allen helfen wollen oder können, dann verpflichtet uns das, wenigstens die Mittel, die wir bereitstellen wollen, so effektiv wie möglich einzusetzen. Das sollte uns geneigt machen, diese Konsequenzen zu akzeptieren:
 
● Wenn Flüchtlinge Schutz verlangen, ist das Kind bereits in den Brunnen gefallen – ein Staat ist in Anarchie versunken oder zur Diktatur pervertiert. Unsere Politik muss weitaus stärker als bisher darauf zielen, solche Katastrophen von vornherein zu vermeiden. Man kann hier nicht alles an die Eigenverantwortung der armen Staaten delegieren. Wir müssen vielmehr anerkennen, dass wir mit der Etablierung und Aufrechterhaltung einer globalen Wirtschafts- und Finanzordnung die Selbstbestimmung und die Entwicklungsmöglichkeiten vieler Staaten erheblich beschränken.
 
● Politische Verfolgung gibt es in vielen Gestalten. Man kann als Angehöriger einer verfolgten Gruppe von der Arbeit in staatlichen Behörden oder vom Wohnen in staatseigenen Häusern ausgeschlossen werden, man kann aller Arbeitsmöglichkeiten beraubt werden, man kann seine Freiheit verlieren und schließlich von Folter und Hinrichtung bedroht sein. Und auch von einem Bürgerkrieg kann man in unterschiedlichem Ausmaß bedroht oder bereits geschädigt sein. All dies ist schlimm, aber manches ist schlimmer als anderes. Die Verfolgten müssen deshalb in Kategorien eingeteilt werden. Und denen, die von den schlimmsten Beschädigungen bedroht oder betroffen sind, muss zuerst geholfen werden.
 
● Es ist unsinnig, dass Anträge auf Asyl oder Zuflucht in der EU nur auf dem Boden eines der Mitgliedsländer gestellt werden können. Das führt dazu, dass viele mit falschen Hoffnungen und oft von Kriminellen ausgenutzt hierherkommen – wenn sie es überhaupt schaffen. Das heutige Verfahren führt zudem zu schweren und vermeidbaren Enttäuschungen und zu hohen Kosten für eine vorläufige Unterbringung. Stattdessen sollten Anträge auf Schutz nur im Heimatland des Verfolgten oder, falls man dieses über Nacht verlassen musste, in einem angrenzenden Land gestellt werden können. Dort, in den Grenzstädten und Flüchtlingslagern, müssen Stellen eingerichtet werden, die über die Berechtigung eines Anspruchs entscheiden. Wenn man Flüchtlingen helfen will, dann ist es doch völlig absurd, ihnen drei letzte lebensgefährliche Seemeilen zwischen der türkischen Küste und einer griechischen Insel zuzumuten. Sinnvoller wäre es, die anerkannten Flüchtlinge direkt in einem türkischen Hafen abzuholen. Nach Deutschland würden so nur die kommen, die bereits anerkannt sind und die dann niemand mehr pauschal als Wirtschaftsflüchtlinge verleumden könnte. Das würde nicht nur die Akzeptanz der Schutzsuchenden verbessern, es würde zugleich auch deren Integration erleichtern, weil nun die Mittel auf die konzentriert werden können, die wir tatsächlich für eine Reihe von Jahren beherbergen wollen.
 
● Nicht alle anerkannten Schutzsuchenden müssen in Deutschland untergebracht werden. Das ist pro Kopf vergleichsweise teuer und entfremdet die Flüchtlinge ihrer Heimatregion zudem mehr als nötig. Man sollte stattdessen den unmittelbaren Zufluchtsländern umfassende Hilfe bei der Versorgung von Flüchtlingen zur Verfügung stellen. Mit dem gleichen Mitteleinsatz könnte so mehr Flüchtlingen geholfen werden.
 
● Aus demselben Grund wäre es auch verkehrt, wirtschaftliche Not und Perspektivlosigkeit in die Kriterien für einen Asylanspruch aufzunehmen, um so unter dem Asylbegriff eine Art humanitärer Hilfe anbieten zu können. Zu den Kosten einer hier untergebrachten Person kann man vermutlich mindestens zehn Menschen in einem Hungergebiet am Leben erhalten. Über die Flüchtlingsproblematik dürfen wir nicht vergessen, dass es weit mehr Menschen gibt, die dringend Hilfe benötigen und deren Leben nicht von Krieg, sondern von Hunger, Dürre und Korruption bedroht wird. Der Umfang der Hilfe für Flüchtlinge muss in einem Gesamtkonzept zur Linderung elementarer Not bestimmt werden.
 
● Es ist zweischneidig, die Asylprobleme durch eine neue Einwanderungspolitik entschärfen zu wollen. Denn wer wird sich dann um Einwanderung bemühen, und wen wollen wir einwandern lassen? Doch vermutlich die geistig und physisch Beweglichsten und die relativ am besten ausgebildeten Bürger der Emigrationsländer. Sicher, wenn man sich auf die Hilfe für solche Menschen konzentriert, kann man damit argumentieren, dass dies langfristig für eine überalternde Gesellschaft sogar einen Nettogewinn bedeutet, dass helfen uns also zu Ende gedacht gar kein Opfer abverlangt. Das mag die Akzeptanz für die heute anfallenden Kosten steigern. Aber wir würden mit einer solchen Politik gerade diejenigen einwandern lassen, die die Herkunftsländer am nötigsten für ihre eigene Entwicklung brauchen. Damit ist diesen Ländern nicht gedient. Sinnvoller ist es, die Geflüchteten hier gut auszubilden und sie nach dem Ende des Konflikts zu nötigen, ihre Fähigkeiten in ihren Herkunftsländern einzusetzen.
 
UNSER AUTOR:
 
Walter Pfannkuche ist Professor für Philosophie an der Universität Kassel.