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ESSAY

Gerhardt, Volker: Die Menschheit in der Person eines jeden Menschen

Volker Gerhardt

Die Menschheit in der Person eines jeden Menschen
Zur Theorie der Humanität


Abschiedsvorlesung in der Humboldt-Universität zu Berlin
Senatssaal am 10. Juli 2014

1. „Hier lebt die Wissenschaft“. Gesetzt, meine finanzielle Lage wäre jemals derart gewesen, dass ich gar keiner Berufsarbeit hätte nachgehen müssen: Ich hätte trotzdem nichts lieber getan, als in meinem Fach zu lehren und zu forschen. Mag sein, dass diese Koinzidenz von Pflicht und Neigung auch mit mir zu tun hat. Sie hat ihren Grund aber in der Philosophie, die zwar als wissenschaftliche Disziplin betrieben werden muss und dabei in die üblichen institutionellen Verbindlichkeiten eingebunden ist; aber gelingen kann sie nur, wenn sie gerade dort, wo es am schwersten wird, Freiheit, Lust und Leidenschaft freisetzt und gleichwohl als eine Aufgabe begriffen werden kann, die einen nicht nur selbst betrifft.

Es ist dieser gleichermaßen individuelle wie universelle Umstand, der mir den Abschied von der Universität etwas leichter macht; denn ich weiß, es kann gar nicht anders sein, als dass ich ihr im Geist verbunden bleibe: Ich brauche nur zu hoffen, dass ich auch nach dem formellen Abschied physisch in der Lage bin, weiterhin das zu tun, was ich vorher getan habe – und mir seit meinem fünfzehnten Lebensjahr immer zu tun wünschte.

Deshalb fände ich es kleinlich, ausgerechnet in diesem Augenblick an die zahlreichen Probleme unseres Bildungs- und Wissenschaftssystems zu denken, an denen ich mich schon in meinem Studium verhoben habe. Sie haben mir als Assistent und als Hochschullehrer viel Zeit zum Philosophieren genommen. Doch wenn ich an die Gründung der Fernuniversität oder an die mit knapper Not geretteten Akademievorhaben denke, kann ich auch mit Blick auf die verlorene Zeit eine gewisse Befriedigung nicht in Abrede stellen. Gleichwohl ist es in meiner persönlichen Lebensbilanz das größte Glück, (mit einer an der Wählergunst nicht weniger glücklich gescheiterten Hamburger Ausnahme) allen durch die Vordringlichkeit der politischen Aufgaben bestens begründeten Verführungen widerstanden zu haben, eine jene herausge-hobenen Leitungspositionen zu übernehmen, die es in der Regel unmöglich machen, weiterhin in der eigenen Wissenschaft tätig zu sein. Hieran hat nicht nur die Philosophie, sondern meine geliebte Frau einen nicht zu unterschätzenden Anteil.

Wenn ich an dieser Stelle immerhin die Politik erwähne, kann sie heute auch deshalb einmal auf sich beruhen, weil wir in diesem Senatssaal mehrfach Auswege aus der Krise aufgezeigt haben, über die aus gegebenem Anlass schon lange genug gesprochen worden ist. In einem Fall, in dem von mir eingebrachten Antrag zur Reform der Bologna-Reform, sind mir Senat und Konzil sogar mit großer Mehrheit gefolgt, ohne daran zu denken, dass sie damit in der Sache ebendas unter Beweis stellen, was sie mir acht Jahre zuvor als normative Tatsachenbeschreibung nicht hatten durchgehen lassen: 2002 haben sie jenes „Hier lebt die Wissenschaft“, das als Kurzfassung unserem Leitbild vorangestellt werden sollte, wieder gestrichen.

Ich aber bin nach wie vor der Ansicht, dass dieser Satz: „Hier lebt die Wissenschaft“, gerade auch im Geiste Humboldts, Fichtes und Schleiermachers, das Richtige trifft. Als gleichermaßen beschreibende und fordernde Aussage ist sie exemplarisch für das Ineinander von Faktum und Norm, das eine Universität auszeichnet – egal, ob das nun in ihrem „Leitbild“ steht oder nicht.


2. Dank und Verpflichtung. Was aber Reformen und Leitbildern nicht gelingt, muss wenigstens durch Emeritierung möglich sein. Sie ist bekanntlich der durch die Natur mehr oder weniger erzwungene und von der Kultur mehr oder weniger feierlich wahrgenommene Garant für die Erneuerung der Universität. Auch hier spielen, wie beim Begriff der Universität und (wie wir noch sehen werden) beim Begriff der Menschheit, Faktizität und Normativität ineinander:

Um deutlich zu machen,

• dass Leben nicht nur das ist, was das einzelne Individuum an sich selbst erfährt,
• um zugleich den Rahmen zu benennen, in dem jeder Einzelne dieses Leben an sich selbst als verbindlich zu begreifen hat
• und um ihm schließlich einen Begriff davon geben, warum es inmitten von Zufall und blinder Notwendigkeit, von Krieg und Terror, Chaos und Versagen, Not und Leid, plötzlicher Krankheit und jähem Tod sinnvoll ist, von einer Lebensaufgabe zu sprechen,

möchte ich den Begriff der Menschheit in Vorschlag bringen.

Das geschieht mit einem tief empfundenen Dank an die Personen und Institutionen, die mir meine Arbeit möglich gemacht haben. Um das aber nicht mit dem Gestus der Abdankung, sondern in der Erwartung auszudrücken, die lang gehegten systematischen Überlegungen zur selbstbestimmten Indivi-dualität, zur epistemischen und politischen Partizipation, zur mentalen, sozialen und politischen Publizität sowie zum göttlichen Ganzen der Welt (ohne das wir keinen Begriff vom menschlichen Dasein gewinnen könnten), füge ich dem im Titel paraphrasierten Kant-Zitat von der Menschheit in der Person eines jeden Menschen das Epitheton Zur Theorie der Humanität hinzu.

Damit werbe ich für eine philosophische Aufgabe, die tatsächlich noch offen ist, so erfolgreich das Humanprojekt mit der angeschlossenen Nachwuchsforschergruppe über die Funktionen des Bewusstseins auch gewesen ist. Mir liegt es jedoch fern, ein neues „Projekt“ zu empfehlen. Es reicht mir, wenn durch eine Gedankenskizze

• der zum Greifen naheliegende Ansatz,
• der unüberbietbar globale Zuschnitt,
• der evolutionstheoretische Anspruch,
• die metaphysische Reichweite
• und die ethische Bedeutung einer Theorie der Humanität wenigstens im Umriss sichtbar werden.

Unbeachtet bleibt hingegen die für Berlin nicht unerhebliche Tatsache, dass eine Theorie der Humanität mit dem intellektuellen Nachlass zweier Großtheorien umzugehen hat, von denen die eine in dieser Stadt über vierzig Jahre lang versucht hat, unter Berufung auf die Menschheit ebendiese Menschheit in zwei Teile zu zerreißen, während die andere ebendieser Zumutung unter Verwendung des gleichen Zentralbegriffs (der ohne Menschheit nicht zu denkenden Menschenrechte) widerstanden hat, ohne sich freilich selbst hinreichend Rechenschaft darüber zu geben, wie weit sie sich damit Prinzipien verpflichtet, die ihr Verbindlichkeiten auferlegen und Grenzen setzen.

Der Kommunismus ist daran gescheitert, dass er sich der Logik des Menschenrechts nicht entziehen konnte. Aber das wird politisch nur so lange wirksam bleiben, wie der ihm entgegenstehende (ich sage nicht: „Kapitalismus“, das wäre ein Kategorienfehler, sondern) der demokratische Republikanismus seine eigenen Prämissen nicht verrät. Auf keiner der beiden Seiten kommt man ohne den Begriff der Menschheit aus, aber man wird ihm nur gerecht, wenn man beachtet, dass er gleichermaßen deskriptiv und normativ verfasst ist. Sich hier an einer Klärung zu versuchen, ist eine Aufgabe, die der Philosophie von keiner ihrer hochgeschätzten Nachbardisziplinen abge-nommen werden kann.

3. Vom nahen Ende der Menschheit. Es gibt einen theoriegeschichtlichen Vorgang, der anschaulich macht, in welcher paradoxen Lage sich die Theorie des Menschen derzeit befindet: Nicht nur in den Geistes- und Kultur-, sondern sogar in den Lebenswissenschaften sind zahllose Autoren darum be-müht, die Antiquiertheit des Menschen anschaulich zu machen. Sie versuchen zu zeigen, dass der Mensch sich über Jahrtausende hinweg eine Sonderrolle zugesprochen hat, die ihm weder aufgrund seiner natürlichen Ausstattung noch mit Blick auf seine historische Leistung zukommt. Es gebe somit auch keinen Grund, ihm eine intellektuelle, moralische oder gar metaphysische Überlegenheit zuzugestehen. Deshalb sei jede Auszeichnung seiner Gattung durch den Anspruch auf Humanität eine Anmaßung, die kaum mehr zum Ausdruck bringe als den Egoismus der biologischen Spezies, dem die Menschen, wie alle Lebewesen, auf jeweils ihre Weise unterworfen sind.

In dieser Ausgangslage, so das Argument, könne auch das sich selbst „Mensch“ nennende Säugetier nicht mehr als seinen Gattungsegoismus vertreten. Die selbst verliehenen Titel der Humanität und des Humanismus täuschen nur über den Kolonialismus einer massenhaft verbreiteten Tierart, deren effektiver Lebenstechnik zunächst die Artenvielfalt und dann aber auch die Bewohnbarkeit der Erde zum Opfer fallen. Da muss man es am Ende als ein Glück ansehen, dass diese alles gefährdende Spezies sich alsbald selbst ausrotten und damit die Erde von sich selbst befreien kann.

Der junge Nietzsche hat diesem Schicksal des Menschen die Form eines Märchens gegeben, das auch den Grund für den unvermeidlichen Niedergang beim Namen nennt:

„In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf den kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der ‚Weltgeschichte‘: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben.“

Bekanntlich lässt der späte Nietzsche mit dem prognostizierten Tod des Menschen nicht alles enden. Er bietet seinen Zarathustra als den Propheten eines „Übermenschen“ auf, in welchem sich der Mensch, in einem Akt exponierter Lebendigkeit, selbst überwindet. Damit ist ein weiteres Stichwort für den gegenwärtig so vielstimmig vorgetragenen Abgesang auf den Menschen gegeben: Der „Transhumanismus“ setzt auf das enhancement durch die sich exponentiell entwickelnden Anthropotechniken, um sich mit seinem ge-schichtsphilosophischen Futurismus vom Menschen zu verabschieden.

Zur Paradoxie der gegenwärtigen Lage gehört, dass Naturwissenschaftler mit durchaus verwandten Einsichten in die Selbstüberschätzung des Menschen zu einer gegensätzlichen Prognose für die Zukunft des Menschen gelangen: 2002 hat der Nobelpreisträger für Chemie, Paul Crutzen, den umfassend begründeten Vorschlag gemacht, die Erdepoche des Holozän mit dem Eintritt in die kulturhistorisch definierte Neuzeit für beendet zu erklären und damit ein neues erdgeschichtliches Zeitalter, das Anthropozän, beginnen zu lassen. Mit ihm wäre die jüngste Erdgeschichte im Quartär mit Pleistozän und Holozän im Anthropozän, dem „Zeitalter der Menschheit“, angekommen. Es ist die Epoche, in der die geophysische Gestalt der Erde, ihr Klima, ihre Boden-beschaffenheit, der Zustand ihrer Luft und ihrer vielfältigen Formen des Wassers, folglich die Gesamtverfassung des auf ihr möglichen Lebens, we-sentlich vom Verhalten des Menschen abhängig ist. Und diese Aussicht räumen die Naturwissenschaften der Menschheit ein, so kritisch ihre Bewertung ihrer Chancen auch ausfällt.

Crutzens Vorschlag fand weltweit Resonanz und wurde fächerübergreifend diskutiert. 2008 beriet die in London ansässige Internationale Stratigraphische Kommission, die für die Einteilung der Abfolge von Äonen, Perioden und Epochen zuständig ist, über die Frage „Leben wir im Anthropozän?“, und gab eine positive Antwort. Über sie wird seitdem in den Einzelwissenschaften beraten. 2015 sollen die Ergebnisse zusammengetragen werden, um eine für alle Wissenschaften verbindliche, auch Politik und Alltag bestimmende Sprachregelung zu empfehlen.

Es wäre spitzfindig, darauf zu insistieren, dass es „Zeitalter der Menschheit“ und nicht „Zeitalter des Menschen“ heißen sollte. Rein begrifflich gesehen gibt es die Menschheit so lange, wie es den Menschen gibt; und solange es Sinn hat, von der Menschheit zu sprechen, muss es auch die Menschen geben, aus denen sie sich zusammensetzt. Aber die historische Schwelle, um deren Bestimmung die Geophysiker sich bemühen, wenn sie vom Anthropozän sprechen, ist nicht auf den biologischen Auftritt des Menschen vor zwei Millionen, sechshundert- oder achtzigtausend Jahren bezogen, sie geht auch über den menschheitsgeschichtlich entscheidenden, der europäischen Antike vorgelagerten Prozess der politischen Zivilisierung in den großen Kulturen des Nahen, Mittleren und Fernen Ostens hinweg. Sie konzentriert sich vielmehr ganz auf die von großen Kollektiven getragene und im Bewusstsein ihrer globalen Verbindung erfolgende erdgeschichtliche Wirksamkeit des neuzeitlichen Menschen.

Ausgangspunkt der geophysikalischen Überlegungen ist die Epoche, in der die Wissenschaft industriell genutzt und der Mensch weltweit politisch, ökonomisch, technisch und militärisch tätig wird. Die Folgen dieser Tätigkeit finden seit wenig mehr als 200 Jahren einen erdgeschichtlichen Niederschlag. Dessen Analyse gibt den Geophysikern Aufschluss über gravierende Veränderungen in den Parametern der weltweit gemessenen Bestandteile von Boden, Luft und Wasser. Darüber hinaus erfassen sie den Rückgang der Artenvielfalt, warnen vor der Entfischung der Meere sowie vor der Abholzung der Regenwälder und halten den globalen Klimawandel für erwiesen. 
  
4. Von der gestiegenen Verantwortung der Menschheit. Das Geschehen einer umfassenden Vernutzung der Erde rechtfertigt es, den Begriff der Menschheit nicht länger bloß als Gattungsnamen für die Gesamtheit aller Menschen zu verwenden, sondern ihn als Bezeichnung für den weltweit tätigen Gesamtakteur anzusehen, der sich mit seinen zahllosen, sich vielfältig überla-gernden institutionellen Verstrebungen und nicht zuletzt durch das sich immer mehr verdichtende Netz der Kommunikation ein Bewusstsein seiner eigenen Gegenwart verschafft. So kann von der Menschheit gesprochen werden, wie man früher von den Bürgern einer Stadt, von den Anhängern einer Religion oder von Völkern und Nationen sprach, nämlich wie von einer korporativen Einheit, in diesem Fall von einem einzigen erdumspannenden Subjekt.

Und tatsächlich geht es um dieses globalisierte Subjekt, wenn die Epoche des Anthropozän nicht zuletzt auch deshalb ausgerufen wird, um der Menschheit als ganzer ins Gewissen reden zu können. Denn wenn man davon überzeugt ist, dass spätestens mit dem Einsatz der Dampfmaschine und mit dem Bau von Eisenbahnen die Menschheit nach Art eines zurechenbaren Subjekts in Erscheinung tritt, dann kann, ja dann muss man sie auch auffordern können, endlich Maßnahmen zur Verhinderung ihres eigenen Untergangs zu ergreifen. „Zerstören oder gestalten?“ lautet die Alternative, vor die uns die beredten publizistischen Anwälte der Neubenennung der Gegenwart stellen.

Hört man den Begriff des Anthropozäns zum ersten Mal, kann man sich methodologischer Bedenken gar nicht erwehren. Denn die Geologen haben ihre geohistorischen Kategorien fast ausnahmslos im Nachhinein vergeben. Der neue Titel aber wird mitten in einem Zeitalter verliehen, das nicht nur noch nicht zu Ende ist, sondern gerade erst angefangen hat. Dabei geht Paul Crut-zen davon aus, dass die Menschheit (2002 spricht er noch von mankind) eine Zukunft von vielen tausend Jahren haben kann, während man bei anderen den Eindruck hat, dass sie das Ende für ausgemacht halten und vorsorglich schon einmal den „Transhumanismus“ ausrufen. Bei dieser technisierten Variante des „Übermenschen“ ist freilich noch nicht erkennbar, ob der alte Mensch ganz verschwindet oder weiterhin als Erfüllungsgehilfe des neuen superman gebraucht wird.

Doch wie dem auch sei: Es muss verwundern, den über alle empirische Grenzen hinausreichenden Begriff des Anthropozäns aus dem Mund von Naturwissenschaftlern zu hören. Zwar können wir tagtäglich Meteorologen zusehen, die sich trauen, mit einer Wetterprognose vor die Kamera zu treten. Aber wenn Physiker, Chemiker und Geologen mit kategorialer Verbindlichkeit über Tausende von Jahren verfügen, die es noch gar nicht gibt, hat das eine andere Qualität.

Verstehen aber kann man die neue methodologische Großzügigkeit der Naturwissenschaftler trotzdem. Bei näherer Betrachtung schulden wir ihnen Dank für die selbstlose Entlastung, die sie den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften durch die Ausweitung ihres Urteilsrahmens verschaffen, obgleich sie zunächst nur Schlüsse aus ihren empirischen Daten ziehen und ihre Aussagen als bloße Extrapolationen über eine längere Zeitachse hinweg erklären: Mit dem Menschen als Verursacher, den man mit den Ergebnissen der wissenschaftlichen Untersuchungen erreichen muss, damit er sein Verhalten ändert (um die nach den Daten immer wahrscheinlicher werdende Katastrophe abzuwenden), verändert sich auch das methodische Paradigma. Und alle, die so sprechen, müssen den Verdacht ertragen, den kategorialen Unterschied zwischen Tatsache und Vorschrift, zwischen Faktum und Norm zu verschleifen.

Ihm hat man durch vermehrte – auch selbstkritische – Aufmerksamkeit zu begegnen. Mit Sicherheit kann ihm nicht durch einen mechanischen Methodenschnitt entkommen, der schon den Rückschluss von der Analyse der naturwissenschaftlichen Daten auf die daraus gezogenen politischen und moralischen Konsequenzen erschweren würde. So wie der einzelne Mensch nicht nur deskriptiv über sich sprechen kann, sondern stets auch seine Erwartungen, Vorsätze und Aufgaben einbezieht, so ergeht es selbst dem trockensten Empiriker, wenn er Probleme der Menschheit behandelt, bei der er nicht davon absehen kann, dass er selbst zu ihr gehört. Dann lässt sich nicht säuberlich zwischen Faktum und Norm unterscheiden. Und im Überschreiten der einst von David Hume gezogenen roten Linie zwischen Sein und Sollen rücken die Naturwissenschaftler näher an ihre vermeintlich weniger exakten Partner in den hermeneutischen Wissenschaften heran, womit sie bestätigen, was man dort schon seit längerem weiß: Wer den Menschen zum Thema hat, hat auch methodologisch mit größerer Behutsamkeit vorzugehen. 
 
5. Trotz allem immer noch: „animal rationale“. Es ist nicht allein die prognostische Dimension der Fragestellung, die zu der disziplinären Annäherung führt. Auch in der von verschiedenen Fächern betriebenen wissenschaftsgeschichtlichen Forschung kommt es zu einer wechselseitigen Angleichung der Disziplinen. Seinen Grund hat der von Exzellenzinitiativen unabhängige Grenzverkehr in der Schwerkraft des Problems der Menschheit, dem wir nicht nur unser Interesse an der Zukunft, sondern eben auch: an unserer Herkunft verdanken.

Das aber ist selbst wieder nur ein Indiz dafür, dass der Begriff der Menschheit in einer tieferen, wahrhaft elementaren Weise mit dem des Wissens verbunden ist. Sein volles Gewicht tritt darin zutage, dass er nicht nur die Bewertung von Vergangenheit und Zukunft, sondern bereits das Urteil über unsere Gegenwart bestimmt. Spätestens hier kann sich die Philosophie der Debatte nicht mehr entziehen.

Die philosophische Beschäftigung mit dem Menschen gibt uns seit Jahrtausenden die Auskunft, in ihm ein mit Vernunft ausgestattetes Wesen zu sehen. Er wird als animal rationale und somit als Tier begriffen, das vernünftig und verständig, berechnend und nachdenklich sein kann. Er soll ein durch und durch zur Natur gehörendes Lebewesen sein, das über Wissen verfügen, Einsichten haben, Schlüsse ziehen, „ja“ und „nein“ nicht nur sagen, sondern auch Meinungen und Überzeugungen haben und sie in seinem Tun umsetzen kann. Transponieren wir animal rationale in die Theoriesprache der heutigen Philosophie, ist der Mensch ein Wesen, das in allem, was ihm wichtig ist, „seine eigenen Gründe“ haben kann.

Je älter philosophische Einsichten sind, umso mehr Zweifel haben sie auf sich gezogen. Wenn sie wirklich grundlegend sind, können sie dadurch nur gewinnen. Und so ist es beim animal rationale: Nach einer mehr als zweitausendjährigen Zeit der Prüfung, wobei sich die letzten beiden Jahrhunderte mit ihrer auf Destruktion angelegten Polemik mächtig ins Zeug gelegt haben, können wir mit größerer Sicherheit sagen, dass die Rede vom animal rationale weder leib- noch technikfeindlich, weder gefühlsabstinent noch symbolabweisend, weder asozial noch unhistorisch ist. Sie stellt gewiss auch keine Gotteslästerung dar.

Die Fähigkeit, seine eigenen Gründe haben und ihnen folgen zu können, verleugnet keine der anderen Anlagen des Menschen. Im Gegenteil: Sie setzt die Vielfalt der Kompetenzen voraus und geht unablässig mit ihnen um. Auf der Grundlage von Erinnerung und Voraussicht, von abwägendem Vergleich und Entscheidung disponiert die Rationalität über den Einsatz gerade auch der sich widersprechenden menschlichen Kräfte. Gäbe es eine prästabilierte Harmonie in der Ausstattung des Menschen oder auch nur den Vorrang einer einzigen natürlichen Strebung, stünde die Vernunft auf verlorenem Posten.

Sie schwebt freilich auch nicht in kategorialer Transzendenz über den körperlichen und gesellschaftlichen Relationen, sondern sie ist das Medium, in dem der Mensch seine sich ihm unter den Konditionen seiner Bedürfnisse stellenden sozialen Anforderungen so organisiert, dass er darin auch seinesgleichen verständlich sein kann. Und in dieser Form der Verständigung liegt die ganze Eigentümlichkeit des Menschen, die ihn a priori auf die Menschheit verpflichtet. 
 
6. Die öffentliche Bindung des Menschen an die Welt. Die Verständigung geschieht in einer Weise, von der wir gerade auch nach den jüngsten Einsichten der Sozialanthropologie mit einiger Bestimmtheit sagen können, dass sie singulär für den Menschen ist. Selbst unter den uns am nächsten stehenden Primaten ist uns kein anderes Lebewesen bekannt, das es dem Menschen darin gleichtut. Zwar sind ihm viele Lebewesen in vielem überlegenen; und viele Kriterien, die man noch bis vor kurzem als stichhaltig ansehen konnte, haben sich als unhaltbar erwiesen.

Doch der Mensch ist in mindestens einem Punkt aus seiner achtbaren tierischen Verwandtschaft herausgehoben. Dieser Punkt lässt sich so benennen, dass niemand auf die Idee zu kommen braucht, hier den Grund für eine abnorme metaphysische Auszeichnung zu vermuten; wohl aber kann von einer Disposition zur unbeschränkten Vernutzung der Welt gesprochen werden: Der Mensch kommuniziert mit seinesgleichen nicht einfach nur in der Welt, sondern er tut dies, indem er die Welt selbst wie ein Mittel zu seiner Kommunikation verwendet. Das kann man in aller Kürze wie folgt anschaulich machen:

Nach langen Zeiten der Übung (seinen dabei gestiegenen Bedürfnissen entsprechend) greift der Mensch Momente seiner natürlichen Umwelt derart heraus, dass er sich mit ihrer Hilfe so zu verständigen vermag, dass er zu einer einzigartigen Eindeutigkeit, Genauigkeit und Überprüfbarkeit seiner Aussagen gelangt. In den von ihm hergestellten Werkzeugen hat er schon früh Belegstücke dieser phantastischen Fähigkeit hinterlassen. Es steht aber zu vermuten, dass er wohl erst im Gebrauch verselbstständigter Zeichen (seien es Markierungen, Symbolisierungen oder artikulierte Laute) etwas schafft, das ihm in der bloßen Natur schlechterdings nicht begegnet.

Nennen wir es zum Ausdruck gebrachtes Wissen, das in der Bedeutung, in der es geäußert wird, auch von anderen aufgenommen, erinnert, weitergegeben und in Verhalten umgesetzt werden kann. Das gelingt nur in einem instrumentellen Weltbezug, in der jedem Adressaten eine ihm eigene Stellung unterstellt wird, obgleich er sich in der nur von ihm eingenommen singulären Position auf denselben Sachverhalt beziehen kann wie jeder andere, der über das gleiche Wissen verfügt. Im Wissen erlangt die Welt die Funktion eines gemeinsamen Horizonts, der es erlaubt, unter Bedingungen wahrgenommener Unterschiede etwas für alle Gleiches zu benennen und zu tun.

Im Wissen, so können wir auch sagen, weitet sich die Welt zu einem vom Menschen genutzten öffentlichen Raum, so dass wir das ihn durch kulturelle Eigenleistung aus der umgebenden Natur heraus hebende kulturelle Spezifikum des Menschen darin sehen können, dass er seine Eigenschaft als animal rationale nur als homo publicus unter Beweis stellen kann. Damit geht das Wissen über alles hinaus, was dem Menschen von Natur aus begegnen kann. Es gibt kein Wissen – außer in ihm selbst! Gleichwohl reguliert der in Gemeinschaften lebende Mensch seine Beziehung zu seiner Umwelt zunehmend über das Wissen, zu dem die funktionale Kontrolle unter dem Anspruch auf Wahrheit gehört.

Die von ihren Anwälten wie von ihren Kritikern nicht selten maßlos überzeichnete Stellung von Wissen und Wahrheit hat den Eindruck entstehen lassen, mit ihnen suche sich der Mensch der Natur zu entziehen, um in die Sphäre des reinen Geistes zu entweichen und damit seine Leiblichkeit zu verraten. Tatsächlich ist er im Bewusstsein der Verständigung derart auf die sich ihm im Modus der Mitteilung darbietenden Sachverhalte bezogen, dass die Illusion begünstigt wird, das ihm Wesentliche sei reiner Geist.

Doch darin wäre vergessen, dass der in der Tat einzigartige begriffliche Bezug auf die Welt materialen Zwängen unterworfen ist, ohne die es nicht zu dem käme, was wir Bedeutung, Logik, Geist oder Bewusstsein nennen. Dieser materiale Anlass ist in der Funktion der Mitteilung theoretisch zureichend kenntlich gemacht. Und die singuläre Zuschreibung des Geistes zum menschlichen Dasein bleibt so lange gültig, als niemand – er selber ausgenommen – mit dem Menschen spricht.

Das lässt uns augenblicklich verstehen, warum der Mensch wenigstens eine göttliche Stimme im Ganzen sucht. Solange er aber nur glauben kann, sie zu vernehmen, bleibt er wissentlich mit sich und seiner, vermutlich nur von ihm begriffenen, Welt allein. Das lässt sich freilich nur dann so sagen, wenn man dem Menschen zugesteht, dass seine eigentliche Heimat in der Welt in seinem Bewusstsein liegt, in dem er sich und alles andere versteht.

In diesem Verständnis ist er auf das Innigste mit dem verbunden, was er versteht – vorrangig, wie es scheint, mit den Sachverhalten, die ihm überhaupt erst ermöglichen, wissentlich Bewusstsein zu haben. Und wenn er darauf reflektiert, in welcher Form er dieses Bewusstsein von etwas hat, wird ihm klar, dass er es stets nur im Modus der Mitteilung hat. Auch wenn er das Wissen für sich behält, „hat“ er es nur, sofern er es sich, im Wechsel von ich und mich, mitteilen lässt.

Folglich stehen ihm, auch wenn es nur zu oft den gegenteiligen Anschein hat, die Menschen näher als die Dinge. Und obgleich es uns nahegehende Erfahrungen mit den besser berechenbaren und arglosen Tieren gibt: Seinen Nächsten findet der Mensch nur unter den Exemplaren der Menschheit an. Sie ist der äußerste Rahmen und zugleich der innerste Bezirk, in dem er sich und seine Welt versteht.

Daran bleibt auch der Geist gebunden: Er ist die nach dem Vorbild einer Institution gedachte Sphäre der Verständigung des Menschen über das, was er als Welt begreift. Als Geist wirkt er zugleich wie ein Garant der Offenheit für alles, was sich überhaupt verstehen lässt. Insofern öffnet er die Menschheit für eine womöglich über sie hinausgehende Vernunft. Gleichwohl gelangt er auch in der von der Vernunft erschlossenen Unendlichkeit nicht wirklich über Natur und Welt hinaus.

Dem einzelnen Menschen, dem die Welt und die Natur nur in der Form begriffener Sachverhalte zur Verfügung stehen – und diese ihm auch noch als Mittel zum rationalen Umgang mit sich und seinen Gegensätzen zu dienen haben – , kann dies wie eine intellektuelle Isolation in einer künstlichen Begrifflichkeit erscheinen. Und wem das so erscheint, für den ist es nur zu ver-ständlich, dass er in eine direktere Verbindung zu seinem Leben kommen möchte. Und für den, der diese Hoffnung ernsthaft hegt, erscheint es gar nicht so falsch, anzunehmen, dass dies nur unter Verzicht auf das an Wissen und Wahrheit gebundene Bewusstsein möglich ist. Das hat nur den Nachteil des gleichzeitigen Verzichts auf die rationale Bindung an die Menschheit. In diesem Punkt ist Nietzsche ein Vorbild an Konsequenz. 
 
7. Wissen als „Sündenfall“ der Selbstbefreiung in und mit der erkannten Welt. Indem der Mensch sein Leben unter die Anleitung des Wissens und unter die Kontrolle der Wahrheit zu stellen vermag, unterscheidet er sich radikal von der wunderbaren Vielfalt des ihn tragenden, begleitenden, fördernden und herausfordernden Lebens, dem er, wohlgemerkt, auch mit der größten Intellektualität und Subtilität nie entkommt. Doch im Wissen überantwortet er sich einer objektiven, weltbezogenen und letztlich öffentlichen Verbindlichkeit, die ihn vornehmlich selbst verpflichtet. In ihr überschreitet er die Beschränkungen des Augenblicks und tritt kraft seiner Vorstellung aus dem Bann bloßer Erinnerung heraus, um den für alle offenen Raum eigenen Handelns durch eigene Leistungen zu sichern.

Dass dabei die Phantasie eine große Rolle spielt, ist offenkundig. Weniger deutlich scheint den Zeitgenossen zu sein, dass der Mensch durch die ihn selbst verpflichtende epistemische Objektivität seines Wissens längst die biologischen Schranken des sogenannten „Speziesismus“ durchbrochen hat. Denn das Wissen ist der „Sündenfall“. Er ist das Paradigma ursprünglicher Entfremdung, der wir – seit Adam und Eva – unsere Eigenart verdanken. Und zu ihr gehört, dass der Mensch sich selbst nach Art eines Objekts zu denken hat, welches nur in der schlüssigen Verbindung mit anderen Objekten Bestand haben kann.

Folglich kann er sich in seiner Umwelt nur erhalten, solange er seine Existenz nach bestem Wissen und Gewissen an den Fortbestand seiner Umwelt knüpft. Und dass dies nicht egomanisch im Interesse nur eines Menschen oder bloß einer Interessenkonstellation erfolgen kann, wird bereits in den rationalen Leistungen des an Mitteilung gebundenen und nach Öffentlichkeit verlangenden menschlichen Bewusstseins deutlich: Es ist zwar individuell verfasst, braucht aber den ursprünglichen Bezug auf seinesgleichen.

Und ein letzter Punkt bedarf der Erwähnung: Das individuell verfasste, gleichsam aus Mitteilung bestehende Bewusstsein erkennt allein darin Unterschiede zu seinesgleichen an. Und die damit gegebene Pluralität findet ihre Einheit nur im Bezug auf die Menschheit, der jedes menschliche Individuum, sofern es überhaupt etwas weiß, bereits selbsttätig zugehört. Das über das Wissen vermittelte exzeptionelle Weltverhältnis des Menschen besteht also darin, im Bewusstsein seiner eigenen Individualität (und der darin stets mitbewussten Unzulänglichkeit und Irrtumsanfälligkeit) ursprünglich auf sei-nesgleichen ausgerichtet zu sein und die darin teils behobene, teils vertiefte plurale Differenz in der Gewissheit des notwendig begrifflichen Anspruchs seines Wissens auf eine Einheit zu setzen, in der alles zu verstehen ist. So befindet sich der Mensch zwischen Individualität, Pluralität und Universalität in einer Bewegung, die es ihm erlaubt, exemplarischer Teil der Menschheit zu sein.
  
8. Die Utilisierung der Welt. Nimmt man das Wissens in seinem jedem offenkundigen Ertrag, erscheint es so, als versachliche der Mensch in ihm seine Beziehung zur Welt, indem er sie in Dinge und Ereignisse einteilt, die er sich einzeln vornehmen und somit genauer betrachten und bearbeiten kann. Dann scheint es so, als lebten die anderen Lebewesen nur aus ihrem Affekt, während der Mensch es lernt, zu den Dingen auf operative Distanz zu gehen und sie damit intellektuell derart verfügbar zu machen, dass er sich schließlich selbst abwartend – teils berechnend, teils genießend – zurückhalten kann. Doch damit sind die Tiere unterschätzt, und der Mensch denkt, schon was seine Anfänge angeht, zu gut von sich.

Der Springpunkt der spezifischen Intelligenz des Menschen liegt hingegen dort, wo er beginnt, das Feuer für seine Zwecke zu nutzen, Werkzeuge herzustellen, die er über Generationen hinweg einsetzen kann, und Zeichen zu verwenden, die zwar immer anders aussehen (je nachdem, ob sie auf einer Felswand, einem Baumstamm, einem Stück Leder oder auf einer Tonscherbe stehen), aber dennoch das heiß: in der wahrgenommenen Differenz der Personen sowie der Dinge und Ereignisse) immer dasselbe bedeuten sollen. Schon das Verständnis eines Zeichens, das für ein Wild oder einen Speer steht oder vielleicht „Jagd“, „Beute“ oder „Kampf“ bedeutet, setzt eine beachtliche Beweglichkeit in der Anwendung des Mittels sowohl auf das Er-kennen der Zeichen wie auch auf deren Anwendung voraus.

Wir brauchen uns nur klar zu machen, dass jedes Tier, selbst in großen Herden, anders aussieht und dass Gefahren mal diese und mal jene Gestalt annehmen können (auch wenn sie uns gleichermaßen mit dem Tod bedrohen), um die Abstraktionsleistung bereits darin zu erkennen, dass wir etwas als etwas erkennen, so dass wir damit in der Lage sind, in immer wieder anderen Situationen den Eindruck zu haben, nun müsse etwas in aller Eindeutigkeit gesagt oder getan werden, das allgemein verständlich ist.

Das aber ist der leichtere Teil der abstraktiven Übung, die sich der Mensch in der Verständigung mit seinesgleichen abverlangt. Größeres Gewicht hat die Tatsache, dass er die Dinge und Vorgänge, über die er spricht, selbst als Mittel seiner Kommunikation einsetzt. Die Absicht des Sprechers ist auf Verständigung gerichtet. Er will aufmerksam machen, er muss Bedrohliches beschwören oder er hat anzuzeigen, über welche Fähigkeiten er verfügt oder was unter bestimmten Bedingungen von ihm und von anderen zu erwarten ist.

Um aber dies mit der Präzision und in der Differenzierung zu tun, die der Entwicklungsstand seines schon von Natur aus arbeitsteilig organisierten Lebens erfordert, nutzt er die Welt selbst nach Art eines Mittels, mit dessen Hilfe er sich ins rechte Licht zu setzten und nach Möglichkeit auch seiner Gruppe nützlich zu sein vermag. Das gelingt nur unter der Voraussetzung der zum Wissen selbst gehörenden Öffentlichkeit.

Damit aber ist es ein instrumentelles Weltverhältnis, das dem Menschen erlaubt, seine Fähigkeiten zu steigern. Und je mehr sich dem die Welt durch die Erfolge sowohl der organischen wie auch der mechanischen Techniken fügt, umso größer ist der Ertrag im immer weiter ausgreifenden Einsatz der Techniken. Nachdem das Feuer weitgehend beherrscht, die Gräser zu Getreide gezüchtet, die Hunde domestiziert, die Schweine depraviert, die Rinder sediert und die Pferde diensttauglich geworden sind, nachdem der Bergbau Materialien zutage fördert, die nicht nur die Waffen- und die Geräteproduktion revolutionieren, sondern auch dem Reichtum unerahnte Dimensionen eröffnen, der nur in größeren Kulturen vermehrt, genossen und gesichert werden kann, nimmt die Natur des Menschen neue Formen an, die sich zu Kulturen ausprägen, die, wie wir heute wissen, selbst die Evolution zu neuen Kunstgriffen nötigt.

In den Anfängen ist noch offenkundig, wie sehr die Natur selbst das Mittel zu ihrer Überformung durch Kultur ist. Aber sehen wir die damit verbundenen technischen und politischen Innovationen: den Bau von Bewässerungskanälen, die Festlegung von Eigentumsverhältnissen, die Formalisierung der Heirats-, Scheidungs- und Erbschaftsregeln, die Besteuerung der Marktplätze und des immer dichter werdenden Warenverkehrs sowie die mit alledem eng verbundene Entstehung des Rechts und die erst mit ihm ihre Form gewinnende politische Herrschaft, dazu der Bau der Befestigungs- oder Bestattungsanlagen bis hin zu den ersten Institutionen der Ausbildung zum Schreiber, Maler, Bildhauer und Architekten für Land- und Schiffsbauten aller Art, schließlich die zunehmend auch institutionell betriebene Pflege der mathematischen und astronomischen, der medizinischen und theologischen Kenntnisse sowie am Ende die vom zunehmenden Wissen selbst evozierte kompensatorische Förderung der Lehr- und Verhaltenssysteme des religiösen Glau-bens…, dann führt uns alles dies vor Augen, dass es dem Menschen gelingt, durch Funktionalisierung partieller Naturprozesse aller von seinem Handeln betroffenen Natur (wozu auch er selber gehört!) neue Formen abzugewinnen, die wir als Kultur bezeichnen, obgleich sie doch nur durch die Natur des Menschen verwandelte Naturverhältnisse sind. Auch die Kultur ist eine durch Instrumentalisierung der Natur auf dem Weg der Selbstinstrumentalisierung des Menschen gewonnene Form der Natur. Ihre wesentliche Differenz gegenüber der Natur gewinnt die Kultur dadurch, dass sie eine öffentliche Sphäre ausbildet, in der eine auf Wissen gegründete Verständigung möglich ist. Träger dieser Öffentlichkeit sind alle, die am gemeinsamen Wissen partizipieren, und das sind die Menschen, die in ihrer Gesamtheit die Menschheit bilden. 
 
9. Verstehen heißt: Begreifen im menschlichen Zusammenhang. Das mag neu oder befremdlich klingen, ist aber durch die von Kant in Anspruch genommene kopernikanische Wende in der Metaphysik längst zum selbstverständlichen Topos geworden. Jeder Studierende der Philosophie, gesetzt er macht sich mit der Geschichte seines Fach wenigstens oberflächlich vertraut, kennt die berühmten Sätze aus der zweiten Vorrede zur Critic der reinen Vernunft, in denen Kant erklärt, was er aus dem Perspektivenwechsel der Astronomen lernt:

„Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müsste, so sehe ich nicht ein, wie man a priori etwas von ihr wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen.“

Warum aber sollten, so frage ich in einer gänzlich unkantianisch erscheinen-den Art, die Gegenstände sich nach uns (und unserem Anschauungsvermögen) richten, wenn es uns im Wissen anscheinend um nichts anderes geht als um die korrekte Erfassung der Gegenstände durch unser Wissen? Weil, so antworte ich nur scheinbar abweichend von Kant, es im Wissen gar nicht primär um die exakte Wiedergabe der (an sich selbst betrachtet gar nicht zugänglichen) Gegenstände gehen kann. Es geht vielmehr um die mithilfe des Wissens bewältigte Verständigung der Menschen untereinander.

Der angeblich so „monologisch“ verfahrende Kant hat dafür selbst die Formel geliefert, als er am 1. Juli 1794 seinem Schüler Jacob Sigismund Beck die in der Tat nicht auf Anhieb verständliche transzendentale Leistung des alles Wissen allererst produzierenden, alles selbst „machenden“ Verstandes mit einem Wort erläutert, das mich auch mit meiner scheinbar so kantfernen Deutung Kantinaner bleiben lässt: Die transzendentale Leistung des Verstandes liegt dann (wohlgemerkt nach Kants eigener Aussage!) darin, die Dinge „communicabel zu machen“.

Das heißt: Wir wissen nicht um des Wissens willen, sondern weil wir mit dem Wissen etwas erreichen, das anders nicht zu haben ist: Das Wissen dient der Verständigung. Dem Denkenden und Sprechenden kommt es darauf an, sich mitzuteilen, und die Gegenstände seines Wissens, auf die sich seine Mitteilung bezieht, sind für den Verstand lediglich das Vehikel, das die Mitteilung sachhaltig und gehaltvoll werden lässt. Das „Ich denke“, das dem Akt der Vorstellung und des Wissens seinen Stellenwert gibt, „erfindet“ den Sachgehalt der Mitteilung nicht, sondern verbürgt ihn gegenüber jedem, der ebenfalls „ich denke“ sagen (und denken!) kann.

Diese Kommunikationsgemeinschaft der „ich“ denkenden und „ich“ sagenden Individuen wird von Kant unablässig durch das Personalpronomen „wir“ kenntlich gemacht. Und dieses „Wir“ ist nur ein unscheinbarer Ausdruck für das, was auch höchst anspruchsvoll als das „Reich vernünftiger Wesen“ oder – in der Beschränkung auf leibhaftige Vernunftwesen – durchaus bescheidener als „Menschheit“ bezeichnet werden kann.

Es ist also der nicht einfach unterstellte, sondern kulturell durchaus gegenwärtige Kontext der Menschheit, um die es im Wissen geht. Sie ist der Zu-sammenhang, der das Wissen verbindlich macht. Und das ist ihr nur möglich, wenn sie in jedem Ich, das sich notwendig als exemplarisches Moment eines Wir begreift, immer schon wirksam ist. Die Menschheit muss somit bereits in der Person eines sich mithilfe des Wissens verständigenden Menschen präsent sein, wenn er auf Verständnis hoffen können soll.

Es ist hier nicht der Ort, um zu zeigen, dass diese Deutung vorzüglich zu Kants kohärentistischer, ganz auf die innere Stimmigkeit von Urteilen bezogener Wahrheitsauffassung passt; es braucht auch nicht vorgeführt zu werden, wie gut sich diese Auffassung in die motivationale Dynamik der Vernunftkritik fügt, die schließlich auch die dialogische Konzeption der Dialektik der reinen Vernunft zu tragen in der Lage ist.

Es genügt vollkommen, auf den Umstand aufmerksam zu machen, dass mit der ursprünglich kommunikativen Anlage des Verstandes dem menschheitlichen Rahmen, in dem sich die sachhaltige Vernunftkonzeption entfaltet, eine eminente epistemische Funktion zukommt. So liegen die Kriterien für die Bedeutsamkeit einer sachhaltigen Mitteilung im Selbstverständnis der Menschen, die sich als Teile der Menschheit verstehen müssen, um überhaupt etwas zu verstehen.

Man wird also eine Theorie des Erkennens und des Wissens niemals vollständig nennen können, wenn sie nicht durch eine Darstellung der vorgängi-gen humanen Struktur, in der die theoretischen Leistungen des Menschen allererst Bedeutung und Gewicht erlangen, abgeschlossen ist. Das ist mein erstes Argument für eine philosophisch grundlegende Theorie der Menschheit.
  
10. Das geschichtliche Verhängnis unter dem Anspruch der Humanität. Gute Argumente macht man nicht besser, indem man weitere hinzufügt. Aber es gibt den Gesichtspunkt der Vollständigkeit, der mich veranlasst, in aller Kürze einen zweiten Grund zu nennen, der eine Komplettierung klassischer Theorieansätze durch eine Theorie der Humanität verlangt. Dass ich darüber hinaus noch weitere Argumente aus dem Kontext der Anthropologie, der Kultur- und der Geschichtstheorie, der Philosophie der Technik, des Rechts und der Kunst anführen könnte, bitte ich, mir einfach zu glauben. Vollständigkeit ist auf so knappem Raum ohnehin nicht zu erzielen, und so beschränke ich mich auf einen weiteren Grund, der dann auch zu erkennen gibt, welchen ethischen Ertrag ich mir von einer Theorie der Humanität erhoffe.

Das zweite Argument für die Unverzichtbarkeit dieser Theorie ist bereits im Titel auf eine Formel gebracht: Sie besteht aus einem leicht abgewandelten Zitat aus der, nach meinem Urteil, treffendsten Formulierung des Kategorischen Imperativs Kants. Die vollständige Fassung lautet:

„Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“

Angesichts des systematischen Gewichts dieser Formel braucht nicht eigens gesagt zu werden, dass eine kritische Ethik unvollständig bleibt, solange sie nicht erläutern kann, was Menschheit heißt, wie sie mit dem Begriff der Person zusammenhängt und wie es zu denken ist, dass die Menschheit überhaupt in der Person eines einzelnen Menschen gewahrt werden kann.

Allein so zu fragen, macht bewusst, dass die zentrale Bestimmung des Begriffs der Menschheit schwerlich in den Durchschnittseigenschaften der Gesamtheit aller Menschen gefunden werden kann. Denn weiter als bis zur Maßgabe der Fähigkeit, eigene Gründe zu haben, wird man hier nicht kommen. Man kann zwar nach dem Vorbild der bis auf Cicero zurückgehenden Kriterienkataloge der Humanität alle Anlagen zur Mitmenschlichkeit, zum Mitgefühl, zum Staunen, zur Liebe, zur Begeisterung für und durch die Kunst, zur Hingabe an das Spiel und die Kraft der Phantasie zur Aufzählung bringen, und man darf überzeugt sein, dass alles dies in einer Theorie der Humanität seinen systematischen Platz finden muss.

Man darf andererseits aber nicht übersehen, dass diese Fähigkeiten von niemand anderem als dem Menschen mit all dem Wissen, dem Können, mit der ihm eigenen abgründigen Phantasie, ja nicht selten sogar mit einer diabolisch verkehrten Form von Liebe ins Gegenteil umschlagen und die schrecklichsten Verwüstungen bereits in den Gemütern der Menschen anrichten können – von dem real existierenden Unglück, das sie unablässig über die Menschheit bringen, ganz zu schweigen.

Das Grauen, das im Namen der Menschheit ohne Unterbrechung tagtäglich angerichtet wird, ist ungeheuerlich und macht es den Autoren in der Nach-folge Nietzsches leicht, vor dem Humanismus zu warnen und ihre entmutigende Aufzählung der menschlichen Schwächen und Bosheiten ins Unabsehbare zu verlängern. Dass der Mensch das schrecklichste aller Ungeheuer ist, haben schon die antiken Tragiker ihrem Publikum vor Augen zu führen gewusst. Die etwa gleichzeitig in Schriftform gebrachten biblischen Geschichten vom Sündenfall und Brudermord, von der Sintflut, von Sodom und Gomorrha bis hin zum späteren Geschehen der Kreuzigung lassen ebenfalls das Schlimmste vom Menschen befürchten.

Und niemand wird behaupten wollen, die Geschichte der Menschheit habe ihre Anfänge widerlegt. Richtig ist vielmehr, dass es dem 20. Jahrhundert gelungen ist, alle vor ihm verübten Schreckenstaten in den Schatten zu stellen. Und die Kriege, mit denen das angebrochene 21. Jahrhundert bereits in seinen ersten Jahren begonnen hat, verheißen wenig Gutes. Das Menschenrecht, auf das wir im Namen der Menschheit setzen, reicht für sich noch nicht einmal aus, wenigstens Frieden zu sichern.

Wie bedrohlich das ist, muss jedem klar sein, der weiß, dass die den inneren wie den äußeren Frieden bedrohenden Konflikte tagtäglich zunehmen: die sich ausbreitende Armut, die andrängende Ressourcenknappheit, die Verseuchung von Boden, Luft und Meer und die jeder Vernunft widersprechende Tatsache, dass sich Menschen nicht nur aus Berechnung, sondern auch im guten Glauben an soziale oder religiöse Ziele fanatisieren lassen.

Damit bleibt oft nur die gestammelte Alternative zwischen dem „Nie wieder“ und der immer neuen Anlass findenden Verzweiflung an uns selbst. Ein Bericht aus einem der zahllosen Vernichtungslager des 20. und des 21. Jahrhunderts genügt, um uns zur unbedingten Parteilichkeit für den Humanismus entschlossen zu machen; er kann aber auch jede Berufung auf die Humanität verstummen lassen.

Damit ist angedeutet, dass der Mensch, der, sofern er etwas von sich weiß, immer auch auf den Selbstbegriff der Menschheit angewiesen bleibt, sich mit diesem Selbstbegriff von Anfang selbst ein Problem gewesen sein muss. Ein Mensch zu sein, stellte in jedem Fall eine besondere Gefährdung für den Menschen selber dar, weil sich die Macht, die er im Wissen über seine Welt gewinnt, immer auch gegen ihn selbst zum Einsatz bringen lässt. Dafür geben die Waffen und die Kriege Beispiele genug. Aber auch die ungeahnten Lebensmöglichkeiten, die sich dem Menschen mit seiner Zivilisierung eröffnen, potenzieren die Gefahren, unter denen er lebt. Nehmen wir die personale Labilität der Individuen und die kollektiven Hysterien ihrer Kollektive hinzu, gibt es Anlass genug, das Bewusstsein, ein Mensch zu sein, nach Art einer Erbschuld zu erfahren. Unter dem Selbstanspruch der Humanität lässt sich leben wie unter einem Fluch: Genügt man dem Anspruch nicht, ist man gescheitert; kommt man ihm nahe, befördert man das Verhängnis, dem der Mensch umso weniger entgeht, je mehr ihm im Zeichen seiner großen Ziele gelingt. Am Ende der geschichtlichen Zeit erweist sich auch das Größte als hoffnungslos. Denn mit was, das sich in geschichtlicher Zeit erreichen lässt, sollte der Mensch jemals zufrieden sein?

Heute kommen die globalen Rückwirkungen der entfesselten Macht des Menschen hinzu. Etwas davon glauben wir mit wachsendem Schrecken vorher sehen zu können. Nehmen wir die Tatsache hinzu, dass wir den größeren Teil des von uns in Gang gesetzten Unheils noch nicht einmal ahnen können, müsste es uns schier unmöglich erscheinen, wissentlich weiter zu leben. Nietzsche nahm daher an, dass die einzige Folge des durch die Wissenschaft freigesetzten Wissens, der kollektive Selbstmord der Menschheit sein könne.  
 
11. Die ethische Unverzichtbarkeit der Humanität. Alles das, was dem Schrecken eine begriffliche Form und dem kommenden Unglück den Charakter einer Gewissheit gibt, hängt an unserer Fähigkeit zu wissen. Gesetzt, dieses Wissen ist die unumgängliche Art, in der wir uns mit uns und unseresgleichen über die von uns nicht nur vorgefundene, sondern im Handeln benötigte und in jedem Erfolg verfügbar gemachte Welt verständigen, kommen wir um den Bezug auf die Menschheit nicht umhin. Und nur sofern wir uns auf der Höhe dieses gleichermaßen individuellen wie universellen Selbstbezugs befinden, können wir überhaupt mit uns zufrieden sein. Und diese Chance wird uns in der Ethik selbst zur – humanitären – Pflicht gemacht.

Wie das zu verstehen ist, wird in der zitierten Fassung des kategorischen Imperativs vor Augen geführt: Jeder hat die Menschheit, die bereits im Selbstverständnis seiner Person angelegt ist, in jedem anderen Menschen so zu achten, wie er es in sich selber tut, sobald er sich in seinem Handlungsanspruch ernstnimmt. Jeder hat jeden so zu achten wie sich selbst – und eben damit erfüllt jeder den Anspruch der Menschheit, die es allererst erlaubt, irgendetwas ernst zu nehmen – ganz gleich, ob es sich, um eine erkennbare Gefahr oder ein vermeidbares Verbrechen, um eine Herausforderung in der Erziehung oder nachbarschaftliche Hilfe, in Wissenschaft oder Kunst oder um die Erfüllung eines gegebenen Versprechens handelt.

So nimmt die Ethik den epistemischen Selbstanspruch des Menschen auf, weitet ihn aus auf die ganze Person und gibt ihm einen existenziellen Charakter, der alle Kräfte des Menschen einbezieht, ohne auf ein Wissen von der Zukunft angewiesen zu sein. Es ist auch nicht nötig, alles über den Menschen zu wissen. Es genügt, wenn sich der Einzelne als exemplarisch für die Menschheit versteht, in deren Rahmen sich alles vollzieht, was für ihn von epistemischer und praktischer Bedeutung ist. Dazu gehören, bei aller Betonung des Wissens, auch die Empfindung und das Gefühl.

Dass es mit Blick auf das politische und kulturelle Handeln auf den Bezug ankommt, der andere in ihren menschlichen Fähigkeiten einbindet, und sie in ihren humanen Erwartungen anspricht, bedarf keiner besonderen Betonung. Der Politiker und der Künstler können, wie der Erzieher und der Forscher, nur solange in ihren Leistungen auf Zustimmung und Anerkennung setzen, wenn sie sich der Gemeinschaft verpflichten, in deren Namen sie tätig sind. Sie erfüllen ihre Aufgaben nur dann, wenn sie sich als Partizipanten und Re-präsentanten einer Gesellschaft verstehen, zu der sie als Menschen gehören. Dabei kann der jeweils gezogene Handlungsrahmen größer oder kleiner sein: Wenn die Zweifel an der Legitimation ihrer Tätigkeit durchdringend sind, kann die Rechtfertigung ihres Tuns nur in der Bemühung liegen, der Menschheit, der sich jeder in seiner Person verbunden fühlt, auch in der Wahrnehmung seiner Aufgabe gerecht zu werden.

Verlangt aber der Mensch unter den durch seine Zeit, seine Person und durch sein Wissen stets eingeschränkten Bedingungen nach einer größeren Gewiss-heit im eigenen Selbst- und Weltverständnis, bleibt ihm der ohnehin in jeder Lebenslage unverzichtbare Begleiter des Wissens. Und das ist der Glauben, der uns auf das Wissen vertrauen lässt und der uns leitet, wo immer das Wissen an seine Grenzen stößt.

Dieser Glauben erreicht seinen höchsten Ausdruck in seiner religiösen Form, wenn er von selbstbewussten Individuen auf das Ganze ihrer Welt bezogen ist, die ihnen mehr bedeutet als die Welt in ihren Teilen bieten kann. In dieser Form kann der Glauben, trotz des Missbrauchs, der mit der Religion fortwährend betrieben wird, auch philosophisch gerechtfertigt werden.

Aber es wäre zu wenig, den Glauben nur auf das Göttliche des uns tragenden Ganzen zu beziehen. Wir brauchen den Glauben ebenso wie die mit ihm auf das Engste verbundene Hoffnung, um unter den allemal unzureichenden Bedingungen überhaupt zurechnungs- und handlungsfähig zu sein. Wie wollen wir hoffen können, dass es wenigstens für die aktuell andrängenden Probleme des Daseins eine Lösung geben kann? Wie wollen wir im Ernst annehmen, dass es in dieser oder jener Frage auf uns selbst ankommt, wenn nicht wenigstens ein Vertrauen in das Wissen gegeben ist, das uns Hindernisse und Hilfsmittel erkennen lässt?

Dabei mag es existenzielle Lagen geben, in denen sich alles auf den eigenen Ausweg, auf das eigene „Heil“ konzentriert. Aber bereits die Mittel, auf die sich der Einzelne in einer solchen Lage stützt, teilt er mit seinesgleichen. Und das Ziel, das ihm dabei vorschwebt, mag sein, welches es wolle: Es kann für das Individuum nur Bedeutung haben, wenn er sich darin in seinen menschlichen Eigenschaften wahrgenommen und anerkannt fühlt. So bleibt der Mensch, selbst dann, wenn er nicht umhin können sollte, nur sein Glück ein-zufordern oder auf seine Erlösung zu hoffen, ein Repräsentant der Menschheit, für die er, ob er es will oder nicht, exemplarisch ist.  
 
12. Ausblick aus geschichtlicher Perspektive. Es gibt ein Bild, das ein Fotograf ungefähr von der Stelle aus gemacht hat, an der ich jetzt stehe. Es zeigt den Saal, in dem wir uns befinden – nur völlig ausgebrannt. Die Wand zum Treppenhaus ist weggebrochen, die Fenster sind herausgesprengt, und darüber haben die Bomben die Sicht auf den Himmel freigelegt. Wir alle kennen die Ursachen der absurden Zerstörung und wissen von der Schuld, die uns als Deutsche bis heute in Mitleidenschaft zieht. Also habe ich Grund, mich darüber zu wundern, dass ich es keine siebzig Jahre später an dieser Stelle wage, von Humanität zu sprechen.

Doch im Frühjahr 1945, als alles noch so war, wie es das Foto zeigt, hatte der damals zuständige kommissarische Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin täglich zu Fuß von Zehlendorf durch die Trümmerlandschaft bis unter die am Stamm verbrannten Linden zu gehen, um seinen Dienst unter der Kommandantur der Roten Armee zu versehen. Es war ein Philosoph, der zu Beginn seiner Karriere als Begründer der Berliner Pädago-gik ein hellsichtiges Buch über „Wilhelm von Humboldt und die Humanitäts-idee“ geschrieben hatte. Er nahm die weltgeschichtliche Theorie-Innovation Wilhelm von Humboldts auf, der die Vielfalt der Individuen als solche zu einer politischen und moralischen Forderung erhoben hatte. Und so vermochte der per Dekret zum Rektor ernannte Denker die einzelne Person als das Subjekt der Menschheit und als exemplarischen Träger der Menschlichkeit aus-zuweisen.

Ich spreche von Eduard Spranger, der 1933 nicht zum Widerstandskämpfer geworden war, aber zusammen mit seinem berühmteren Kollegen Nicolai Hartmann (der es sich immerhin erlauben konnte, die Ideologie der Nationalsozialisten als philosophisch unerheblich zu bezeichnen) konnte er wenigstens dazu beitragen, dass am Philosophischen Seminar, neben den bis heute berüchtigten Ideologen der bis dahin noch einzigen Berliner Universität, weiterhin Philosophie betrieben werden konnte.

Im Frühjahr 1945 hatte Spranger die Gelegenheit, durch eigenes Handeln auch politisch deutlich zu machen, dass die Menschheit trotz allem nicht verloren ist. Angesichts der Verwüstung dieser Universität, dieser Stadt und dieses Landes hat er den Anspruch auf wissenschaftliche Lehre und ebendamit auch auf die Humanität nicht aufgegeben und mit größter Eindringlichkeit dafür geworben, dass es die Individuen sind, dass es jeder Einzelne ist, der ein Zeugnis für die Menschheit in seiner Person abzulegen hat.

Als ihm die sowjetische Militärverwaltung die Bemühung um den Aufbau einer freien Wissenschaft jedoch zunehmend erschwerte, sah sich Spranger genötigt, einem Ruf nach Tübingen zu folgen, wirkte aber über seinen letzten Berliner Assistenten daran mit, die Freie Universität zu gründen.

Dieser Assistent, Hans-Joachim Lieber, später, im Widerstand gegen die Studentenrebellion, ein legendärer Rektor der Freien Universität, war mein Kölner Vorgänger. Ihn konnte ich 1995 zum Goldenen Doktorjubiläum nach Berlin in das Gebäude einladen, das zum Zeitpunkt seines Rigorosums bereits so aussah, wie das Bild es zeigt. Dass zu diesem Jubiläum einige seiner schärfsten Kontrahenten von 1968 kamen, zeigt, wie auch der versöhnliche Umgang mit der Geschichte zu den Elementen eines humanen Selbstverständnisses gehören kann.

Der historische Rückblick von dieser Stelle aus erspart es meinen Hörern und mir, die Kantische Formel von der „Menschheit in der Person eines jeden Menschen“ des Näheren zu erläutern. Kant selbst hat wenig Interesse gezeigt, dieser Pointe des kategorischen Imperativs eine Legende beizugeben. Zwar finden wir in seinen geschichts-, kultur- und politiktheoretischen Schriften manchen Aufschluss über den Stellenwert der Menschheit in der kritischen Philosophie; doch die Erläuterung zum Verhältnis von Person und Menschheit trägt er erst sieben Jahre später in seiner Religionsphilosophie nach.

Dort weist er dem Menschen drei Sphären seiner stets gegebenen Wirklichkeit, Wirksamkeit und Geltung zu. Und das sind die Tierheit, die Menschheit und die Persönlichkeit:

Das animalische Moment der Tierheit gehört uns allen notwendig zu. Es lässt uns nicht vergessen, dass wir Naturwesen sind (und sorgt dafür, dass wir nach dem langen Sitzen gleich gern auch wieder stehen).

Das menschheitliche Moment kommt auf der Ebene der Kultur zur Geltung. Hier kultiviert der Mensch durch eigene Leistung die unumschränkte instrumentelle Einbindung in den Lebenszusammenhang und bereichert ihn auf dem Weg der Arbeitsteilung und der Ausdifferenzierung eigener Interessen derart, dass es sogar Abschiedsvorlesungen mit einem sich anschließenden Umtrunk geben kann. In der bewusst gesuchten Erfüllung eigener Ansprüche entdeckt der Mensch, dass er bei aller Einbindung in den natürlichen und ge-sellschaftlichen Lebenszusammenhang im eigenen Wollen einen Anfang setzt, der ihn der Unterwerfung unter die gegebenen und auch gewünschten Mittel-Zweck-Relationen allein dadurch entzieht, dass er von sich aus darüber nachdenken, entscheiden und mit seinem aus eigenen Gründen stammenden Impuls seinen eigenen Anfang mit seinen eigenen Zielen setzt.

Das ist die praktizierte Autonomie, die schon im ersten „Nein“ eines jungen Menschen zum Durchbruch kommt. Sie macht für ihn wie auch für die Erzieher deutlich, dass er selbst niemals bloß Mittel für andere und anderes ist, sondern sich seine eigenen Zwecke setzt. Und nur in ihnen erfährt er sich als frei und selbstbestimmt und damit selbst als Zweck, in dem er seine Würde hat.

Dieses Bewusstsein freier Selbstbestimmung zu eigenen Zwecken ist das Signum der Persönlichkeit, die sich, sosehr sie sich vom gesellschaftlichen Leben in Anspruch nehmen lässt und dabei in vielfältiger Hinsicht (und nicht selten mit größtem Vergnügen, etwa wenn man als Philosoph und Hochschullehrer, als Beamter und mündiger Bürger leben kann), aber stets aus eigener Einsicht und in freier Disposition der eigenen Kräfte das tut, was man für richtig hält, weil man notfalls seine eigenen Gründe dafür nennen kann.

Für eine Theorie der Humanität lassen sich aus diesem Selbstverständnis drei Schlussfolgerungen ziehen, mit denen ich für heute definitiv am Ende bin:

Erstens kann man der natur- und kulturgeschichtlichen Formation, die wir Menschheit nennen und der wir in unserer natürlichen, gesellschaftlichen und geistigen Konstitution nahezu alles verdanken, aus eigenem Entschluss dienstbar und verantwortlich sein.

Zweitens sind wir als Person oder Persönlichkeit nicht davon abhängig, ob das, was aus unserem Lebensbeitrag im künftigen, von uns selbst individuell gar nicht mehr erlebten Gang der Menschheitsentwicklung eines Tages wird, auch wirklich so eintrifft oder nicht. Warum sollten wir der kommenden Entwicklung, die wir natürlich zu fördern wünschen, geschichtsphilosophisch vorgreifen wollen? Welche Anmaßung, ganz gleich ob wir Untergangsszenarien oder Utopien ausmalen, unseren Nachkommen nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihre womöglich bessere Einsicht nehmen zu wollen! Als an der Zukunft konstitutiv interessierte Zeitgenossen haben wir uns als Personen auch gegenüber dem Kommenden als Zweck an uns selbst zu erweisen. Also haben wir die Zufriedenheit im eigenen Dasein zu den Zielen zu rechnen, die uns vornehmlich im Alter zieren.

Drittens können wir in ethischer Perspektive kaum etwas Besseres erreichen, als unseresgleichen ein Beispiel zu geben! Wenn es so ist, dass nur der Einzelne (und niemand sonst) die Kriterien und Ziele der Menschheit vorgibt, dann hat er seine vornehmste Aufgabe darin, als selbstbestimmtes, aus eigener Einsicht handelndes Individuum – gerade auch in den nebensächlich erscheinenden Fragen des Lebens – seinesgleichen ein Beispiel zu geben. Wenn es darauf ankommt, hat er exemplarisch zu sein und Individualität, Pluralität und Universalität im eigenen Dasein zu verbinden. 

Unter diesem Anspruch steht der Mensch, wie gesagt, auch im Alter – selbst nachdem er mit der Länge seiner Abschiedsvorlesung ein eher schlechtes Beispiel gegeben hat. Umso mehr danke ich Ihnen für Ihre liebenswürdige Aufmerksamkeit.